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HRRS-Nummer: HRRS 2018 Nr. 936

Bearbeiter: Christian Becker

Zitiervorschlag: BGH, 3 StR 144/18, Beschluss v. 12.07.2018, HRRS 2018 Nr. 936


BGH 3 StR 144/18 - Beschluss vom 12. Juli 2018 (LG Koblenz)

Voraussetzungen der Ablehnung eines Beweisantrags auf Vernehmung eines Auslandszeugen (Aufklärungspflicht; Besonderheiten des Einzelfalles; nicht zu erwartende Bestätigung der Beweisbehauptung durch den Zeugen; ausgeschlossener Einfluss auf die richterliche Überzeugungsbildung; indiziell relevante Beweisthemen; gesichertes Beweisergebnis auf breiter Beweisgrundlage; zentrale Bedeutung der Vorgänge für den Schuldvorwurf).

§ 244 Abs 2, Abs. 5 S. 2 StPO

Leitsatz des Bearbeiters

1. Ob die durch § 244 Abs. 2 StPO statuierte Aufklärungspflicht es gebietet, dem Beweisantrag auf Vernehmung eines Auslandszeugen nachzukommen (vgl. § 244 Abs. 5 S. 2 StPO), kann nur unter Berücksichtigung der jeweiligen Besonderheiten des Einzelfalls beurteilt werden. Kommt das Tatgericht unter Berücksichtigung sowohl des Vorbringens zur Begründung des Beweisantrags als auch der in der bisherigen Beweisaufnahme angefallenen Erkenntnisse zu dem Ergebnis, dass der Zeuge die Beweisbehauptung nicht bestätigen werde oder dass ein Einfluss auf seine Überzeugung auch dann sicher ausgeschlossen ist, wenn der benannte Zeuge die in sein Wissen gestellte Behauptung bestätigt, ist eine Ablehnung des Beweisantrags in aller Regel nicht zu beanstanden.

2. Bei einem durch die bisherige Beweisaufnahme gesicherten Beweisergebnis auf breiter Beweisgrundlage kann regelmäßig eher von der Vernehmung des Auslandszeugen abgesehen werden kann, insbesondere wenn er nur zu Beweisthemen benannt ist, die lediglich indiziell relevant sind oder die Sachaufklärung sonst nur am Rand betreffen. Dagegen wird die Vernehmung des Auslandszeugen umso eher notwendig sein, je ungesicherter das bisherige Beweisergebnis erscheint, je größer die Unwägbarkeiten sind und je mehr Zweifel hinsichtlich des Werts der bisher erhobenen Beweise überwunden werden müssen; dies gilt insbesondere dann, wenn der Auslandszeuge Vorgänge bekunden soll, die für den Schuldvorwurf von zentraler Bedeutung sind.

Entscheidungstenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Koblenz vom 10. Oktober 2017 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen erpresserischen Menschenraubs in Tateinheit mit besonders schwerem Raub und mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von zehn Jahren verurteilt und die „Einziehung eines Geldbetrages in Höhe von 18.000 € als Wertersatz“ angeordnet. Die auf die Rügen der Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hat mit einer Verfahrensbeanstandung Erfolg.

1. Die Rüge, mit welcher der Angeklagte nach dem Wortlaut seiner Revisionsbegründung die Verletzung der Aufklärungspflicht (§ 244 Abs. 2 StPO) wegen der unterbliebenen Vernehmung von zwei Auslandszeugen beanstandet, dringt durch.

a) Der Verfahrensrüge ist bei dem hier überschaubaren Verfahrensstand hinreichend deutlich zu entnehmen (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO), dass der Angeklagte sich gegen den Beschluss des Landgerichts vom 10. Oktober 2017 wendet; mit diesem hat es den Antrag des Beschwerdeführers auf Vernehmung zweier Zeugen aus Polen zum Beweis der Tatsache, dass er sich zur Tatzeit am 11. Juni 2013 in B. (Polen) aufhielt, abgelehnt. Der Angeklagte hat die zur Beurteilung der Rüge maßgeblichen Verfahrenstatsachen, namentlich den Beweisantrag und den Ablehnungsbeschluss, mitgeteilt. Da sich der Ablehnungsgrund des § 244 Abs. 5 Satz 2 StPO nach der Aufklärungspflicht bestimmt (§ 244 Abs. 2 StPO), ist es unschädlich, dass der Angeklagte die Vorschrift des § 244 Abs. 5 Satz 2 StPO nicht zitiert hat (vgl. auch BGH, Urteil vom 21. Juli 2016 - 2 StR 383/15, BGHR StPO § 244 Abs. 2 Zeugenvernehmung 19 Rn. 11 mwN zu einem außerhalb der Hauptverhandlung gestellten Antrag auf Vernehmung eines Auslandszeugen).

b) Der Ablehnungsbeschluss hält rechtlicher Überprüfung am Maßstab des § 244 Abs. 5 Satz 2, Abs. 6 StPO nicht stand.

aa) Nach § 244 Abs. 5 Satz 2 StPO kann ein auf die Vernehmung eines Auslandszeugen gerichteter Beweisantrag abgelehnt werden, wenn die Beweiserhebung nach dem pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts zur Erforschung der Wahrheit nicht erforderlich ist. Mit dieser Vorschrift sind die Möglichkeiten zur Ablehnung eines solchen Beweisantrags nur um den schmalen Bereich erweitert, den die Ablehnungsgründe des § 244 Abs. 3 Satz 2 StPO nicht zulassen, obwohl die Amtsaufklärungspflicht (§ 244 Abs. 2 StPO) die Beweiserhebung nicht gebietet (BGH, Urteil vom 9. Juni 2005 - 3 StR 269/04, BGHR StPO § 244 Abs. 5 Satz 2 Auslandszeuge 12). Bei der Prüfung der Aufklärungspflicht hat das Tatgericht namentlich die Bedeutung und den Beweiswert der Aussage des benannten Zeugen vor dem Hintergrund des bisherigen Beweisergebnisses zu würdigen. In diesem Rahmen ist es von dem sonst geltenden Verbot der Beweisantizipation befreit und darf es seine Entscheidung davon abhängig machen, welche Ergebnisse von der beantragten Beweisaufnahme zu erwarten sind und wie die zu erwartenden Ergebnisse zu würdigen wären. Kommt es unter Berücksichtigung sowohl des Vorbringens zur Begründung des Beweisantrags als auch der in der bisherigen Beweisaufnahme angefallenen Erkenntnisse zu dem Ergebnis, dass der Zeuge die Beweisbehauptung nicht bestätigen werde oder dass ein Einfluss auf seine Überzeugung auch dann sicher ausgeschlossen ist, wenn der benannte Zeuge die in sein Wissen gestellte Behauptung bestätigt, ist eine Ablehnung des Beweisantrags in aller Regel nicht zu beanstanden (st. Rspr.; siehe nur BGH, Urteil vom 13. März 2014 - 4 StR 445/13, BGHR StPO § 244 Abs. 5 Satz 2 Auslandszeuge 14 mwN; Beschluss vom 26. Oktober 2006 - 3 StR 374/06, BGHR StPO § 244 Abs. 5 Satz 2 Auslandszeuge 13).

In dem hierfür erforderlichen Gerichtsbeschluss (§ 244 Abs. 6 StPO) müssen die maßgeblichen Erwägungen so umfassend dargelegt werden, dass es dem Antragsteller möglich wird, seine Verteidigung auf die neue Verfahrenslage einzustellen, und dass das Revisionsgericht überprüfen kann, ob die Ablehnung auf einer rational nachvollziehbaren, die wesentlichen Gesichtspunkte des Einzelfalls erkennbar berücksichtigenden Argumentation beruht (siehe nur BGH, Urteil vom 13. März 2014 - 4 StR 445/13, BGHR StPO § 244 Abs. 5 Satz 2 Auslandszeuge 14 mwN).

Ob das Gebot des § 244 Abs. 2 StPO, die Beweisaufnahme zur Erforschung der Wahrheit auf alle entscheidungsrelevanten Tatsachen und Beweismittel zu erstrecken, es gebietet, dem Beweisantrag auf Vernehmung eines Auslandszeugen nachzukommen, kann nur unter Berücksichtigung der jeweiligen Besonderheiten des Einzelfalls beurteilt werden. Allgemein gilt lediglich der Grundsatz, dass bei einem durch die bisherige Beweisaufnahme gesicherten Beweisergebnis auf breiter Beweisgrundlage eher von der Vernehmung des Auslandszeugen abgesehen werden kann, insbesondere wenn er nur zu Beweisthemen benannt ist, die lediglich indiziell relevant sind oder die Sachaufklärung sonst nur am Rand betreffen. Dagegen wird die Vernehmung des Auslandszeugen umso eher notwendig sein, je ungesicherter das bisherige Beweisergebnis erscheint, je größer die Unwägbarkeiten sind und je mehr Zweifel hinsichtlich des Werts der bisher erhobenen Beweise überwunden werden müssen; dies gilt insbesondere dann, wenn der Auslandszeuge Vorgänge bekunden soll, die für den Schuldvorwurf von zentraler Bedeutung sind (siehe nur BGH aaO; LR/Becker, StPO, 26. Aufl., § 244 Rn. 357 mwN).

bb) An diesen Grundsätzen gemessen hat das Landgericht die Ablehnung nicht ausreichend begründet. Es hat die zu erwartenden Aussagen der Tante des zu den Tatvorwürfen schweigenden Angeklagten, der Zeugin L., in deren Wohnung sich der Angeklagte nach dem Inhalt des Beweisantrags aufgehalten haben soll, und eines Bekannten, des Zeugen K., der für den Angeklagten bei therapeutischen Behandlungen durch die vernommene Ärztin S. übersetzt haben soll, nicht in der erforderlichen Gesamtwürdigung den bisherigen Beweisergebnissen gegenübergestellt; es hat sich stattdessen auf die Begründung beschränkt, dass das Gegenteil der behaupteten Tatsache, nämlich die Anwesenheit des (maskierten) Angeklagten am Tatort in Ku., bereits bewiesen sei. Dabei würde es auch bleiben, wenn die beiden Zeugen die Anwesenheit des Angeklagten in Polen zur Tatzeit bestätigen würden. Die für seine Überzeugungsbildung maßgeblichen Beweisergebnisse, namentlich die belastenden Zeugenaussagen der beiden Mittäter D. und T. sowie die Aussage des geschädigten Wei., dass sich die Statur des Täters mit der des Angeklagten vereinbaren lässt, hat das Landgericht für sich genommen rechtsfehlerfrei ausführlich gewürdigt; auch hat es nachvollziehbar dargelegt, warum es der Alibi-Zeugin S. nicht geglaubt hat.

Bei dieser Einzelbetrachtung hätte das Landgericht indes nicht stehenbleiben dürfen. Es hätte in einer - wie stets in einer Beweisaufnahme erforderlichen - Gesamtschau darlegen müssen, warum die - zulässigerweise zu prognostizierenden - Aussagen der beiden weiteren aufgebotenen Entlastungszeugen nichts an den bisherigen Beweisergebnissen, auch am Beweiswert der Aussage der bereits vernommenen Alibi-Zeugin ändern würden. Eine solche Gesamtwürdigung war hier unerlässlich, weil der Beschwerdeführer eine Haupttatsache in das Zeugnis der beiden Auslandszeugen gestellt hat: Das Gelingen dieses Alibibeweises hätte den Schuldvorwurf unmittelbar entfallen lassen. Die Beweislage ist in diesem Fall durch die Würdigung von Zeugenaussagen geprägt; außerhalb der Aussagen liegende objektive Umstände wie etwa Tatortspuren hat das Landgericht nicht festgestellt (dazu BGH, Urteil vom 13. März 2014 - 4 StR 445/13, BGHR StPO § 244 Abs. 5 Satz 2 Auslandszeuge 14). Dieser nicht einfachen, eher nicht gesichert erscheinenden Beweislage hat das Landgericht mit der gegebenen Begründung nicht im notwendigen Maße Rechnung getragen (vgl. dazu BGH, Urteil vom 21. Juli 2016 - 2 StR 383/15, NStZ 2017, 96, 97 f.). Nach alledem bleibt nach dem Inhalt des Ablehnungsbeschlusses letztendlich offen, warum es das Gericht für ausgeschlossen gehalten hat, dass die Aussagen der Zeugen L. und K. - auch unter nochmaliger Würdigung der Angaben der bereits vernommenen Zeugin S. - die Aussagen der beiden Mittäter entkräften konnten (vgl. nur BGH, Urteil vom 18. Januar 1994 - 1 StR 745/93, BGHSt 40, 60, 62 f.).

2. Die Sache bedarf daher der neuen Verhandlung und Entscheidung. Da die Revision der Staatsanwaltschaft, über welche der Senat mit Urteil vom heutigen Tag entschieden hat, wirksam auf die Einziehungsentscheidung beschränkt ist, wird das neue Tatgericht, sollte es sich von der Schuld des Angeklagten überzeugen, im Strafausspruch das Verbot der Schlechterstellung zu beachten haben (§ 358 Abs. 2 Satz 1 StPO).

HRRS-Nummer: HRRS 2018 Nr. 936

Externe Fundstellen: NStZ-RR 2018, 335; StV 2018, 780

Bearbeiter: Christian Becker