HRRS-Nummer: HRRS 2014 Nr. 912
Bearbeiter: Christian Becker
Zitiervorschlag: BGH, 3 StR 57/14, Beschluss v. 10.06.2014, HRRS 2014 Nr. 912
Auf die Revisionen der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Wuppertal vom 27. August 2013 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das Landgericht hat den Angeklagten K. wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in sieben und wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in zwei Fällen zur Gesamtfreiheitsstrafe von neun Jahren sowie den Angeklagten L. wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in drei Fällen zur Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und drei Monaten verurteilt. Daneben hat es Einziehungs- und Verfallsentscheidungen getroffen. Gegen dieses Urteil wenden sich die Beschwerdeführer mit ihren Revisionen, mit denen sie die Verletzung formellen und materiellen Rechts rügen. Die Rechtsmittel haben mit der von beiden Beschwerdeführern erhobenen, inhaltsgleichen Beanstandung Erfolg, die Strafkammer sei nicht vorschriftsmäßig besetzt gewesen (§ 338 Nr. 1 StPO).
1. Der Rüge liegt folgendes Verfahrensgeschehen zu Grunde:
Nach dem Geschäftsverteilungsplan des Landgerichts Wuppertal für das Jahr 2013 war für Strafsachen erster Instanz gegen Erwachsene mit dem Anfangsbuchstaben L die 2. Große Strafkammer zuständig (Ziffer 2.912 des Geschäftsverteilungsplans, im Folgenden: GVP). Gemäß Ziff. 3.24 GVP war bei mehreren Angeklagten der Anfangsbuchstabe des ältesten Angeklagten maßgeblich. Nach Ziff. 2.912 GVP galt ein Präsidiumsbeschluss vom 1. Oktober 2012 fort, nach dem in den Zuständigkeitsbereich der 2. großen Strafkammer fallende Haftsachen in der Reihenfolge ihres Eingangs auf die 1., 3., 4. und 5. Strafkammer verteilt wurden.
Da der Angeklagte L. der älteste in der Anklageschrift aufgeführte Angeklagte war, wäre nach dem Geschäftsverteilungsplan die 2. große Strafkammer zuständig gewesen. Aufgrund des fortgeltenden Beschlusses vom 1. Oktober 2012 wurde das vorliegende Verfahren, bei dem es sich um eine Haftsache handelte, der 4. großen Strafkammer zugeteilt. Mit Beschluss vom 25. März 2013 entschied das Präsidium des Landgerichts Wuppertal sodann, dass "die 6. große Strafkammer [...] von der 4. großen Strafkammer das Verfahren gegen Kottsieper u.a. (Aktenzeichen 24 KLs 11/13)" übernehme. Begründet wurde dies mit der hohen Belastung der 4. großen Strafkammer; die 6. große Strafkammer könne schon zwei Monate früher mit der Hauptverhandlung beginnen. Die 6. große Strafkammer eröffnete alsdann das Hauptverfahren, führte die Hauptverhandlung in der Zeit vom 24. Mai bis zum 27. August 2013 durch und erließ das angefochtene Urteil. Beide Beschwerdeführer erhoben am ersten Tag der Hauptverhandlung die Beanstandung, die Strafkammer sei nicht ordnungsgemäß besetzt.
Die Rügen der vorschriftswidrigen Besetzung des erkennenden Gerichts nach § 338 Nr. 1 StPO sind zulässig erhoben, insbesondere sind sie nicht wegen nicht fristgemäßer Erhebung der Besetzungseinwände nach § 222b StPO präkludiert, vielmehr sind die rechtzeitig und in der vorgeschriebenen Form angebrachten Einwände der Angeklagten zurückgewiesen worden (§ 338 Nr. 1, 2. Halbsatz, Buchst. b StPO). Hierzu gilt:
a) Nach § 222b Abs. 1 Satz 1 StPO kann in Fällen, in denen - wie hier - die Besetzung des Gerichts nach § 222a StPO mitgeteilt worden ist, der Einwand der vorschriftswidrigen Besetzung nur bis zur Vernehmung des ersten Angeklagten in der Hauptverhandlung geltend gemacht werden. Ausweislich des von der Revision vorgelegten Protokolls des ersten Hauptverhandlungstages kündigte zunächst ein Verteidiger des Angeklagten K., Rechtsanwalt W., vor Verlesung der Anklageschrift an, einen Antrag zur Gerichtsbesetzung stellen zu wollen. Ein Verteidiger des Angeklagten L., Rechtsanwalt R., erklärte, dass er ebenfalls einen solchen Antrag stellen wolle. Im Anschluss daran ist protokolliert, dass die Angeklagten Angaben über ihre persönlichen Verhältnisse machten, die Vertreterin der Staatsanwaltschaft den Anklagesatz verlas, festgestellt wurde, dass die Anklage mit Eröffnungsbeschluss der Strafkammer zur Hauptverhandlung zugelassen worden war und die Angeklagten belehrt wurden, dass es ihnen freistehe, sich zur Beschuldigung zu äußern oder nicht zur Sache auszusagen. Das Protokoll weist sodann aus, dass Rechtsanwalt Dr. S., der Verteidiger des ehemaligen Mitangeklagten I., erklärt habe, sein Mandant räume die ihn betreffenden Anklagevorwürfe im Wesentlichen ein, und der ehemalige Mitangeklagte I. erklärt habe, dies sei richtig so. Erst im Anschluss daran verlas laut Protokoll Rechtsanwalt W. den von ihm vorformulierten Besetzungseinwand, der als Anlage zum Protokoll genommen wurde und dem sich Rechtsanwalt R. für den Angeklagten L. anschloss.
Da in der protokollierten, von dem ehemaligen Mitangeklagten I. bestätigten Erklärung seines Verteidigers bereits eine Einlassung zur Sache gesehen werden kann (vgl. BGH, Beschluss vom 27. Februar 2007 - 3 StR 38/07, NStZ 2007, 349), wären nach diesem Protokollinhalt die Besetzungseinwände verspätet erhoben und die Revisionsrügen der nicht vorschriftsmäßigen Besetzung des erkennenden Gerichts damit nach § 338 Nr. 1, 2. Halbsatz, Buchst. b StPO präkludiert.
b) Vorliegend ist indes zur Beantwortung der Frage, ob die Einwände der vorschriftswidrigen Besetzung rechtzeitig vor der Vernehmung des ersten Angeklagten zur Sache erhoben worden sind, nicht vom Inhalt des Protokolls auszugehen. Denn das Protokoll entfaltet hier entgegen § 274 Satz 2 StPO keine formelle Beweiskraft.
In Rechtsprechung und Schrifttum ist anerkannt, dass die Beweiskraft des Protokolls entfällt, wenn und soweit sich eine der Urkundspersonen nachträglich zu Gunsten des oder der Angeklagten vom Protokollinhalt distanziert (BGH, Urteil vom 8. Oktober 1953 - 5 StR 245/53, BGHSt 4, 364; Beschluss vom 18. September 1987 - 3 StR 398/87, BGHR StPO § 274 Beweiskraft 1; OLG München, Beschluss vom 25. Mai 2009 - 5 StRR 101/09, wistra 2009, 365; LR/Stuckenberg, StPO, 26. Aufl., § 274 Rn. 34 mwN; KK/Greger, StPO, 7. Aufl., § 274 Rn. 11; s. auch BGH, Urteil vom 8. August 2001 - 2 StR 504/00, NJW 2001, 3794, 3796; Beschluss vom 23. April 2007 - GSSt 1/06, BGHSt 51, 298, 308; weiter gehend offenbar Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 57. Aufl., § 274 Rn. 16). So verhält es sich hier:
aa) Rechtsanwalt W. beantragte als Verteidiger des Angeklagten K. zunächst, das Protokoll der Hauptverhandlung betreffend den ersten Hauptverhandlungstag dahin zu berichtigen, dass er die "Besetzungsrüge" bereits zu Beginn der Hauptverhandlung habe erheben wollen, ihm das Wort dazu nicht erteilt worden sei, auf sein Drängen dieser Umstand und die Zusicherung des Vorsitzenden, dass dem Angeklagten K. durch die spätere Antragstellung keine Nachteile entstehen würden, in das Hauptverhandlungsprotokoll aufgenommen worden seien und er sodann den Besetzungseinwand vor der Vernehmung des ersten Angeklagten zur Sache - eine Einlassung eines Angeklagten habe es am ersten Hauptverhandlungstag nicht gegeben - erhoben habe. Zur Glaubhaftmachung überreichte er anwaltliche Versicherungen von sich selbst und den anderen drei Verteidigern der Angeklagten. Diesen Protokollberichtigungsantrag wies der Vorsitzende der Strafkammer zurück, weil weder er noch die Protokollführerin nach Ablauf von sechs Monaten eine konkrete Erinnerung an den Ablauf des Hauptverhandlungstages hätten.
Nach Eingang der Revisionsbegründungen, die die vorliegende Besetzungsrüge enthielten, gab der Vorsitzende der Strafkammer eine dienstliche Erklärung ab, in der er sich gegen den erhobenen Vorwurf der Protokollfälschung verwahrte und weiterhin betonte, dass er sich an den Ablauf des ersten Hauptverhandlungstages nicht mehr erinnere und deshalb keine zuverlässigen Angaben dazu machen könne. Entsprechendes gelte für die Protokollführerin. Nach weiteren Erwägungen erklärte er, er könne sich eine objektiv unzutreffende Protokollierung zwar nicht vorstellen, wenn eine solche aber vorliege, handele es sich nicht um eine bewusste Falschbeurkundung, sondern lediglich um eine nachlässige Protokollierung. Er halte es indes "allenfalls für denkbar", dass er nach der Belehrung der Angeklagten erklärt habe, infolge der vorgerückten Zeit sollten die Einlassungen der Angeklagten bzw. die Gelegenheit dazu auf den zweiten Hauptverhandlungstag verschoben werden, und der Verteidiger des ehemaligen Mitangeklagten I. daraufhin mit dessen Zustimmung eine geständige Einlassung seines Mandanten lediglich angekündigt habe. Dies könne die Protokollführerin möglicherweise als Einlassung zur Sache gewertet und entsprechend protokolliert haben, was ihm bei der späteren Lektüre des Protokolls nicht aufgefallen sei.
bb) Entgegen der Auffassung des Generalbundesanwalts ist der Vorsitzende der Strafkammer als eine der beiden Urkundspersonen damit nachträglich vom Inhalt des Hauptverhandlungsprotokolls abgerückt. Dafür ist es nicht erforderlich, dass die Urkundsperson das Protokoll ausdrücklich als unrichtig bezeichnet, es reicht vielmehr aus, wenn sich aus ihrer Erklärung ergibt, dass sie von dem protokollierten Protokollinhalt nicht mehr überzeugt ist (OLG München, aaO). Diese Voraussetzung ist hier erfüllt: Der Vorsitzende der Strafkammer hält ausweislich der Ausführungen in seiner dienstlichen Erklärung den vom Protokoll abweichenden Ablauf der Hauptverhandlung ausdrücklich für denkbar, er hält es insoweit für möglich, dass die Protokollführerin die bloße Ankündigung einer Einlassung irrtümlich als Abgabe einer solchen protokolliert habe und ihm dies vor Unterzeichnung des Protokolls nicht aufgefallen sei. Dass er sich eine objektiv unrichtige Protokollierung gleichwohl nicht vorstellen kann, ist demgegenüber schon deshalb ohne maßgebende Bedeutung, weil er gerade keine konkrete Erinnerung mehr an den Ablauf des Hauptverhandlungstages hat. Im Ergebnis hat sich der Vorsitzende Richter damit vom Protokollinhalt in dem Sinne distanziert, dass er einen anderen Ablauf als den protokollierten jedenfalls nicht ausschließen kann. Dann kann er - auf rationaler Basis - aber auch nicht mehr davon überzeugt sein, dass der Hauptverhandlungstag wie protokolliert abgelaufen ist.
c) Folge der Distanzierung einer Urkundsperson vom Protokollinhalt ist hier - wie dargelegt - der Verlust der Beweiskraft des Protokolls. Dies führt dazu, dass das Revisionsgericht den tatsächlichen Ablauf des maßgeblichen Verfahrensgeschehens im Freibeweisverfahren aufzuklären hat (allg. Meinung, s. nur Meyer-Goßner/Schmitt, aaO, § 274 Rn. 18 mwN).
aa) Aufgrund der auch im Revisionsverfahren vorgelegten anwaltlichen Versicherungen der Verteidiger der Angeklagten und der durch den Generalbundesanwalt eingeholten Mitteilung des Verteidigers des ehemaligen Mitangeklagten I., Rechtsanwalt Dr. S., ist der Senat jedenfalls davon überzeugt, dass am ersten Hauptverhandlungstag vor Erhebung des Besetzungseinwands durch Rechtsanwalt W. eine Einlassung des ehemaligen Mitangeklagten I. nicht abgegeben, sondern - entsprechend den Erwägungen in der dienstlichen Erklärung des Vorsitzenden der Strafkammer - nur angekündigt worden ist. Dies steht mit den anwaltlichen Versicherungen aller Verteidiger im Einklang, nach denen eine Einlassung eines Angeklagten am ersten Hauptverhandlungstag nicht abgegeben worden sei. Dass deren Erinnerung zutreffend ist, wird wiederum dadurch gestützt, dass die Strafkammer den Besetzungseinwand nicht etwa als unzulässig verworfen, sondern als unbegründet zurückgewiesen hat. Wäre sie von einer die Präklusion auslösenden verfristeten Erhebung des Einwands ausgegangen, hätte sie bei richtiger Rechtsanwendung - entgegen den Äußerungen des Vorsitzenden Richters in seiner dienstlichen Erklärung - den Einwand hingegen als unzulässig verwerfen müssen (KK/Gmel, aaO, § 222b Rn. 14; Meyer-Goßner/Schmitt, aaO, § 222b Rn. 11).
Der sich aus den anwaltlichen Versicherungen der Verteidiger der Angeklagten in der Zusammenschau mit der dienstlichen Erklärung des Vorsitzenden der Strafkammer ergebende Ablauf der Hauptverhandlung wird auch durch das Schreiben von Rechtsanwalt Dr. S. nicht entkräftet. Dieser hat zwar mitgeteilt, er sei sich sicher, dass er am ersten Hauptverhandlungstag erklärt habe, dass sein Klient die Vorwürfe im Wesentlichen einräume und dieser das bestätigt habe; "eine detaillierte Einlassung" sei indes erst am zweiten Hauptverhandlungstag abgegeben worden. Dies steht angesichts des geschilderten Ablaufs und der Pauschalität der Erklärung, die Vorwürfe würden "im Wesentlichen" eingeräumt, ersichtlich nicht im Widerspruch dazu, dass eine Einlassung des ehemaligen Mitangeklagten I. damit am ersten Hauptverhandlungstag lediglich für den nächsten Hauptverhandlungstag angekündigt, nicht aber bereits abgegeben worden ist.
bb) Nachdem der Vorsitzende der Strafkammer und die Protokollführerin keine Erinnerung mehr an die Abläufe des Hauptverhandlungstages hatten und die Staatsanwaltschaft eine Revisionsgegenerklärung nicht abgegeben hat, sieht der Senat von der Einholung weiterer dienstlicher Erklärungen, etwa der Beisitzer, der Schöffen oder der Sitzungsvertreterin der Staatsanwaltschaft ab: Da schon die Urkundspersonen sich nicht mehr an die konkreten, von ihnen zu beurkundenden Abläufe erinnern können, steht nicht zu erwarten, dass die Verfahrensbeteiligten, die weniger Veranlassung hatten, sich die genauen Abläufe einzuprägen, zur Sachaufklärung beitragen könnten.
d) War damit nach dem freibeweislich festgestellten Verfahrensgang davon auszugehen, dass die Verteidiger für jeden der Angeklagten den Besetzungseinwand nach § 222b Abs. 1 StPO rechtzeitig erhoben hatten, kommt es nicht mehr darauf an, ob die Besetzungsrügen auch aus anderen Gründen als zulässig anzusehen wären: Nach dem Vortrag der Revisionen habe der Vorsitzende Richter die Entgegennahme der Besetzungseinwände vor Verlesung der Anklageschrift zwar abgelehnt, aber zugesichert, diese könnten ohne Rechtsnachteile für die Angeklagten zu einem späteren Zeitpunkt erhoben werden und dies auf Drängen von Rechtsanwalt W. auch in das Protokoll aufgenommen. Im Protokoll findet sich - wie dargelegt - nur die Passage, dass Rechtsanwalt W. einen Antrag zur Gerichtsbesetzung angekündigt und Rechtsanwalt R. erklärt habe, ebenfalls einen solchen Antrag stellen zu wollen.
Der Senat sieht Anlass, zu der von den Revisionen dargestellten Vorgehensweise zu bemerken, dass der Vorsitzende grundsätzlich nicht verpflichtet ist, Anträge der Verfahrensbeteiligten zu jeder Zeit entgegenzunehmen (BGH, Beschlüsse vom 5. November 2003 - 1 StR 368/03, BGHSt 48, 372 f.; vom 24. Januar 2006 - 3 StR 460/05, NStZ 2006, 463). Werden sie zu einem ungünstigen Zeitpunkt gestellt, kann er - auch bei fristgebundenen Anträgen - den Antragsteller auf einen späteren Zeitpunkt verweisen, wobei es die Fürsorgepflicht aber in aller Regel gebietet, dass der Vorsitzende von sich aus auf das zurückgestellte Anliegen zurückkommt (LR/Becker, aaO, § 238 Rn. 4). Fraglich ist, ob der Vorsitzende Richter ausgehend von diesen Grundsätzen nicht schon auf der Grundlage des Inhalts des vorliegenden Hauptverhandlungsprotokolls gehalten war, den Angeklagten vor Vernehmung des ersten Angeklagten zur Sache von sich aus das Wort zur Erhebung der angekündigten, aber auf sein Betreiben zurückgestellten Besetzungseinwände zu erteilen. Es ist kein Grund ersichtlich, aus dem die Verteidiger der Angeklagten von sich aus auf die Erhebung der Besetzungseinwände vor Verlesung der Anklageschrift hätten verzichten und stattdessen diese nur hätten ankündigen sollen; der Vorsitzende Richter hat in seiner dienstlichen Erklärung - schon aufgrund seiner fehlenden Erinnerung - nicht in Abrede gestellt, die Verteidiger zur Zurückstellung der Besetzungseinwände gebracht zu haben. Hätte bei einem solchen Verfahrensablauf aber der Vorsitzende Richter von sich aus auf die Besetzungseinwände zurückkommen müssen, hätte er dies auch zum gebotenen Zeitpunkt und damit vor Vernehmung des ersten Angeklagten zur Sache tun müssen. Hätte er dies in Verletzung seiner prozessualen Fürsorgepflicht unterlassen, erschiene es zweifelhaft, den Angeklagten die verspätete Erhebung des Besetzungseinwandes anzulasten und sie mit der Rüge nach § 338 Nr. 1 StPO auszuschließen. Letztlich kann dies aber offen bleiben, weil die Besetzungseinwände - wie oben dargelegt - nicht verfristet erhoben worden sind.
3. Die auch im Übrigen zulässigen Besetzungsrügen der Angeklagten sind gleichfalls begründet. Zu Recht rügen sie, dass sie durch die Vorgehensweise des Landgerichts bei der Geschäftsverteilung ihrem gesetzlichen Richter entzogen worden sind.
Welches Verfahren zur Bestimmung des im Einzelfall berufenen Richters einzuhalten ist und welche Richter an der Entscheidung mitwirken müssen, ist in den Vorschriften des Gerichtsverfassungsgesetzes, insbesondere in den §§ 21a bis 21g GVG ausdrücklich geregelt. Darüber hinaus gelten weitere Rechtsgrundsätze, die sich daraus ergeben, dass sowohl nach einfachem Recht (§ 16 Satz 2 GVG) als auch nach Verfassungsrecht (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) niemand seinem gesetzlichen Richter entzogen werden darf. Zu diesen Grundsätzen zählt, dass eine Strafsache dem erkennenden Gericht nach allgemeinen, abstrakten Regelungen zuzuweisen ist; die Sache muss "blindlings" zu dem zuständigen Richter oder Spruchkörper gelangen (BGH, Urteil vom 28. September 1954 - 5 StR 275/53, BGHSt 7, 23, 24; LR/Franke, aaO, § 338 Rn. 14 mwN). Diese Grundsätze sind bei der Aufstellung und der Änderung eines Geschäftsverteilungsplans durch das Präsidium eines Landgerichts gleichsam zu beachten; auch insoweit gilt, dass eine spezielle Zuweisung bestimmter einzelner Verfahren unzulässig ist (vgl. BGH, Beschluss vom 19 20 4. August 2009 - 3 StR 174/09, StV 2010, 294, 295; BVerfG, Beschluss vom 16. Februar 2005 - 2 BvR 581/03, NJW 2005, 2689, 2690).
Nach diesen in ständiger Rechtsprechung wiederholten und vom Schrifttum einhellig geteilten Grundsätzen war die Übertragung des Verfahrens "gegen K. u.a." an die 6. große Strafkammer erkennbar rechtsfehlerhaft, weil es sich dabei um eine unzulässige Einzelzuweisung handelte. Dem steht nicht entgegen, dass eine Entlastung der 4. großen Strafkammer sachgerecht gewesen sein mag und zu diesem Zweck auch die Zuständigkeit für bereits anhängige Verfahren geändert werden darf, denn auch in diesen Fällen muss die Neuregelung generell und abstrakt gelten und darf nicht nur ein bestimmtes, namentlich benanntes Verfahren betreffen (vgl. zur insoweit zulässigen Verteilung bereits anhängiger Verfahren BVerfG, Beschluss vom 18. März 2009 - 2 BvR 229/09, BVerfGK 15, 247, 248 f.).
4. Die Sache bedarf damit insgesamt neuer Verhandlung und Entscheidung. Für die neue Verhandlung weist der Senat darauf hin, dass die bisherigen Erwägungen der Strafkammer zur Strafzumessung hinsichtlich des Angeklagten K. insoweit rechtlichen Bedenken begegnen könnten, als bei ihm die Initiierung der Betäubungsmittelgeschäfte durch einen verdeckten Ermittler nicht strafmildernd berücksichtigt worden ist. Zutreffend ist zwar, dass dieser Angeklagte nicht selbst mit dem verdeckten Ermittler verhandelt hat; jedoch sind auch für den Angeklagten K. jedenfalls in den Fällen sieben und neun der Urteilsgründe die gehandelten Mengen auf die Vorgaben des verdeckten Ermittlers gegenüber dem Angeklagten L. zurückzuführen.
HRRS-Nummer: HRRS 2014 Nr. 912
Externe Fundstellen: NStZ 2014, 668; StV 2015, 98
Bearbeiter: Christian Becker