HRRS-Nummer: HRRS 2015 Nr. 291
Bearbeiter: Christian Becker
Zitiervorschlag: BGH, 3 StR 419/14, Urteil v. 05.02.2015, HRRS 2015 Nr. 291
Die Revisionen der Staatsanwaltschaft und des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Stade vom 10. März 2014 werden verworfen.
Der Angeklagte hat die Kosten seines Rechtsmittels und die dem Nebenkläger dadurch entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.
Die Kosten des Rechtsmittels der Staatsanwaltschaft und die dem Angeklagten hierdurch entstandenen notwendigen Auslagen fallen der Staatskasse zur Last.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zur Freiheitsstrafe von zwei Jahren mit Aussetzung der Vollstreckung zur Bewährung verurteilt. Die zu Ungunsten des Angeklagten eingelegte - vom Generalbundesanwalt nicht vertretene - Revision der Staatsanwaltschaft rügt allgemein die Verletzung materiellen Rechts, beanstandet im Einzelnen den Strafausspruch des angefochtenen Urteils und erstrebt seine Aufhebung insgesamt sowie die Zurückverweisung der Sache zu 1 erneuter Verhandlung und Entscheidung. Der Angeklagte begründet seine Revision mit der allgemein erhobenen Sachrüge.
Beide Rechtsmittel bleiben ohne Erfolg.
Das Landgericht hat im Wesentlichen Folgendes festgestellt:
Nachdem die Lebensgefährtin des Angeklagten, die Zeugin S., von einem angeblichen Besuch ihres Cousins nicht zur angekündigten Zeit nach Hause gekommen war, begab sich der Angeklagte in den frühen Morgenstunden des 18. April 2013 zu Fuß auf den Weg in den Nachbarort St., wo er zunächst vergeblich am Bahnhof nach dem gemeinsamen Auto Ausschau hielt. Da ihm bekannt war, dass die Zeugin in den vorangegangenen Monaten viel Zeit mit dem Nebenkläger verbracht hatte, kam er auf den Gedanken, sie könne sich bei diesem aufhalten. Er lief daher zu der in St. gelegenen Wohnung des Nebenklägers, vor der er das gemeinsame Fahrzeug stehen sah. Er stieg daraufhin die Treppen zur Terrasse der Nebenklägerwohnung hinauf, klopfte an die Terrassentür, die zugleich die Eingangstür zur Wohnung war und rief den Namen der Zeugin. Diese und der Nebenkläger, die seit einiger Zeit eine auch intime Beziehung unterhielten, den vorangegangenen Abend miteinander verbracht und zu diesem Zeitpunkt geschlafen hatten, erwachten durch das Klopfen und die Rufe des Angeklagten, reagierten aber nicht sofort. Daher drückte der Angeklagte mit seiner linken Schulter die unversperrte Terrassentür auf und betrat die direkt angrenzende Küche. In diesem Moment stand der Nebenkläger auf, machte das Licht im Wohnzimmer an und traf in der Küche auf den Angeklagten. Zwischen den beiden Männern entspann sich ein kurzes Wortgefecht, in dessen Verlauf der Angeklagte den Nebenkläger fragte, ob die Zeugin S. da sei, was dieser verneinte. Dies glaubte der Angeklagte nicht, begab sich daher von der Küche in das Wohnzimmer und zog dabei für den Nebenkläger sichtbar sein - wie auch sonst oft - mitgeführtes Klappmesser, um den Nebenkläger zu veranlassen, ihn vorbei zu lassen. Als sich beide schließlich im Wohnzimmer gegenüberstanden, entdeckte der sich umblickende Angeklagte die nur mit einem Bettlaken oder Handtuch bedeckte Zeugin in der dortigen Schlafnische. Erst der Anblick der unbekleideten Zeugin führte dem Angeklagten vor Augen, dass diese mit dem Nebenkläger einvernehmlich sexuell verkehrt hatte. Damit wurde ihm schlagartig bewusst, dass die Beziehung zur Zeugin beendet war. Dieser Gedanke wühlte den Angeklagten so sehr auf, dass er spontan den Entschluss fasste, auf den Nebenkläger einzustechen. Sein Messer in der rechten Hand haltend bewegte er sich unvermittelt auf den Nebenkläger zu, der versuchte, den Angeklagten mit dem ausgestreckten linken Arm abzuwehren. Dennoch gelang es dem Angeklagten, dem Nebenkläger einen Stich in die linke Brustregion im Bereich der fünften und sechsten Rippe zu versetzen. Dabei wusste er, dass ein solcher Stich tödlich wirken kann, und nahm einen tödlichen Erfolg billigend in Kauf. Der Stich drang bis zur Lunge vor und verursachte einen geringfügigen Pneumothorax. Ohne Verzögerung setzte der Angeklagte dann zu einem weiteren Stich an, der ebenfalls auf die Brustregion zielte, den Nebenkläger indes am linken Oberarm traf und dort eine tiefe Stich- und Schnittwunde verursachte. Nach einer nur kurzen Verzögerung führte der Angeklagte schließlich einen dritten Stich, der dem Nebenkläger Schnittverletzungen auf der linken Wange zufügte. Vor oder nach diesem dritten Stich forderte der Nebenkläger den Angeklagten auf, es gut sein zu lassen, er werde ohnehin sterben. Der Angeklagte äußerte zu einem ebenfalls nicht genau feststellbaren Zeitpunkt, dass er den Nebenkläger abstechen werde. Nach dem letzten Stich wandte der Angeklagte seinen Blick kurz vom Nebenkläger ab. Diesen Moment nutzte dieser, um zu versuchen, dem Angeklagten das Messer aus der rechten Hand zu winden. Da dies aufgrund der Gegenwehr des Angeklagten misslang, stieß der Nebenkläger den Angeklagten von sich, ging in die Küche und bewaffnete sich dort mit einem großen Küchenmesser. In dieser Zeit wandte sich der Angeklagte der Zeugin zu, die er aus dem Bett zerrte und beschimpfte.
Als der Nebenkläger aus der Küche ins Wohnzimmer zurückkehrte, nahm er wahr, dass der Angeklagte und die Zeugin sehr nahe beieinander standen. Er entschloss sich daher, den Angeklagten nicht mit dem Messer zu attackieren, weil er Angst hatte, er werde dabei auch die Zeugin verletzen. Er ließ das Küchenmesser fallen, ging auf den Angeklagten zu und versuchte erneut, diesem das Messer aus der Hand zu winden. Aufgrund dieser Gewalteinwirkung ließ der Angeklagte, der sich dem Nebenkläger körperlich unterlegen fühlte, sein Klappmesser letztlich fallen. Anschließend setzte er sich erschöpft und schlapp auf den Wohnzimmerboden und schlug vor, miteinander zu reden. Der Nebenkläger ging darauf jedoch nicht ein und schob den Angeklagten, der wieder stand und keinen Widerstand leistete, aus der Wohnung.
Die Kammer konnte - sachverständig beraten - nicht ausschließen, dass die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten zum Zeitpunkt der Stiche aufgrund einer auf seiner affektiven Erregung beruhenden tiefgreifenden Bewusstseinsstörung im Sinne von § 21 StGB erheblich vermindert war.
Revision der Staatsanwaltschaft
Die Revision der Staatsanwaltschaft zeigt weder zum Vorteil noch zum Nachteil des Angeklagten (§ 301 StPO) einen durchgreifenden Rechtsfehler auf und bleibt aus den in der Antragsschrift des Generalbundesanwalts dargelegten Gründen ohne Erfolg (§ 349 Abs. 2 StPO).
1. Die auf einer rechtsfehlerfreien Beweiswürdigung beruhenden Feststellungen des Landgerichts tragen den Schuldspruch.
2. Auch der Rechtsfolgenausspruch hält der auf die Sachrüge gebotenen umfassenden Rechtsprüfung stand.
a) Soweit die Revision im Einzelnen als rechtsfehlerhaft beanstandet, dass das Landgericht eine erheblich verminderte Steuerungsfähigkeit des Angeklagten bei Begehung der Tat nicht auszuschließen vermochte, zeigt sie einen durchgreifenden Rechtsfehler nicht auf. Die auf der Grundlage des Gutachtens des in der Hauptverhandlung vernommenen psychiatrischen Sachverständigen vorgenommene Beweiswürdigung des Landgerichts ist nicht zu beanstanden. Der Sachverständige hat nachvollziehbar dargelegt, dass ein relevanter Affekt sowie eine daraus folgende tiefgreifende Bewusstseinsstörung des Angeklagten bei der Tatbegehung nicht auszuschließen sei, falls dieser auf den Nebenkläger direkt nach dem Erblicken der unbekleideten Zeugin S. eingestochen habe. Das Landgericht hat einen solchen Tatablauf rechtsfehlerfrei festgestellt, ist dem Sachverständigen in seiner Beurteilung der Steuerungsfähigkeit des Angeklagten nach kritischer Prüfung des Gutachtens gefolgt und hat die danach nicht auszuschließende Verminderung der Steuerungsfähigkeit des Angeklagten als erheblich im Sinne von § 21 StGB bewertet. Dagegen ist aus Rechtsgründen nichts zu erinnern. Soweit die Beschwerdeführerin hierzu einwendet, das Landgericht habe keine Erinnerungslücken des Angeklagten festgestellt, die indes "für gewöhnlich" mit einer affektbedingten tiefgreifenden Bewusstseinsstörung einhergingen, nimmt sie eine eigene Würdigung der dem sachverständig beratenen Landgericht vorliegenden Beweisanzeichen vor; eine solche ist revisionsrechtlich unbeachtlich. Dies gilt auch für den Einwand einer lückenhaften Beweiswürdigung des Landgerichts hinsichtlich der Feststellung, der Angeklagte habe die Terrassentür (nur) aufgedrückt und nicht - was sich nach dem Vortrag der Revision indes aus den in Augenschein genommenen Lichtbildern ergebe - aufgebrochen.
Ohne Erfolg bleibt schließlich auch die von der Revision der Staatsanwaltschaft vorgenommene weitere Beanstandung der Beweiswürdigung zu der Frage, ob der Angeklagte von einem (auch) sexuellen Verhältnis der Zeugin S. mit dem Nebenkläger schon vor der Tat wusste oder dies zumindest annahm. Der vom Landgericht aus den festgestellten Umständen gezogene Schluss, dass der Angeklagte von einem derartigen Verhältnis bis zum Entdecken der unbekleideten Zeugin nicht ausging und daher auf diesen Anblick nicht vorbereitet war, ist möglich. Darauf, dass nach den Feststellungen etwa auch andere Folgerungen des Tatrichters denkbar gewesen wären oder gar näher gelegen hätten, kommt es für die revisionsrechtliche Überprüfung der Beweiswürdigung nicht an (st. Rspr.; vgl. etwa BGH, Urteil vom 16. Mai 2013 - 3 StR 45/13, NStZ 2013, 581). Der von der Beschwerdeführerin gezogene Schluss, der Angeklagte sei schon beim Eindringen in die Wohnung fest von einem sexuellen Verhältnis der Zeugin mit dem Nebenkläger ausgegangen und daher bereits zu diesem Zeitpunkt - wie sich aus dem Aufbrechen der Eingangstür ergebe - affektiv erregt gewesen, so dass der forensisch relevante Affekt nicht erst später durch den Anblick der unbekleideten Nebenklägerin entstanden sein könne, stellt wiederum eine eigene Beweiswürdigung der Beschwerdeführerin dar, die dem Rechtsmittel nicht zum Erfolg verhelfen kann. Die im Übrigen zum Vorliegen eines Affekts vermisste Gesamtwürdigung aller vorliegenden, beweisrechtlich erheblichen Umstände hat das Landgericht nach dem Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe in ausreichendem Umfang vorgenommen. Der Senat kann daher auch ausschließen, dass das Landgericht die von der Beschwerdeführerin angeführten Einzelumstände, die das Landgericht festgestellt hat und die dafür sprechen könnten, dass der Angeklagte beim Eindringen in die Wohnung von der Anwesenheit der Zeugin und deren intimen Verhältnis mit dem Nebenkläger ausging, nicht bedacht und nicht in seine Überzeugungsbildung hierzu einbezogen haben könnte.
b) Auch im Übrigen ist die Strafzumessung des Landgerichts - mit Blick auf die eingeschränkte Prüfungskompetenz des Revisionsgerichts (vgl. BGH, Beschluss vom 10. April 1987 - GSSt 1/86, BGHSt 34, 345, 349 und Urteil vom 31. Juli 2014 - 4 StR 216/14, juris Rn. 4) - rechtlich nicht zu beanstanden. Die verhängte Strafe verfehlt entgegen der Ansicht der Revision mit Blick auf die gegebenen Umstände nicht ihre Bestimmung, gerechter Schuldausgleich zu sein. Soweit die Beschwerdeführerin weiter bemängelt, das Landgericht habe die strafschärfenden Gesichtspunkte "nicht in ausreichendem Maße" gewürdigt, macht sie bereits durch diese Wortwahl deutlich, dass sie im Wesentlichen eine eigene Gewichtung der für die Strafbemessung relevanten Umstände vornimmt und ihre Bewertung an die Stelle derjenigen des Landgerichts setzt. Damit kann sie im Revisionsverfahren nicht erfolgreich sein. Gleiches gilt für die Beanstandung, das Landgericht habe es nach den Urteilsgründen unterlassen, die sich aus der Tatsituation ergebende (besondere) Schutzlosigkeit des Nebenklägers und der Zeugin S. wie auch die von der Bindung der Zeugin an sich sowie von einer Reaktion mit übersteigerter Eifersucht getragenen Tatmotivation des Angeklagten (strafschärfend) zu berücksichtigen. Eine vollständige, erschöpfende Aufzählung aller Strafzumessungserwägungen ist gesetzlich nicht vorgeschrieben. Vielmehr sind gemäß § 267 Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 2 StPO lediglich die bestimmenden Strafzumessungstatsachen anzugeben; deren Auswahl und Gewichtung sind dem Tatrichter übertragen und einer ins Einzelne gehenden revisionsrechtlichen Richtigkeitskontrolle weitgehend entzogen (st. Rspr.; vgl. etwa BGH, Urteil vom 2. August 2012 - 3 StR 132/12, NStZ-RR 2012, 336, 337 mwN). Gemessen an diesen rechtlichen Maßstäben ist ein durchgreifender Rechtsfehler nicht erkennbar. Dies gilt insbesondere auch für die - näher begründete - Entscheidung des Landgerichts, die Strafe nicht dem (auch) in Betracht kommenden Sonderstrafrahmen des § 213 StGB, sondern dem gemäß §§ 21, 23 Abs. 2, § 49 Abs. 1 StGB zweifach gemilderten Regelstrafrahmen des § 212 Abs. 1 StGB zu entnehmen sowie für die Entscheidung, die Vollstreckung der verhängten Freiheitsstrafe zur Bewährung auszusetzen. Die fehlende Prüfung und Erörterung, ob die Strafaussetzung zur Bewährung gemäß § 56 Abs. 3 StGB zu versagen ist, weil sie für das allgemeine Rechtsempfinden unverständlich erscheinen müsste und dadurch das Vertrauen der Bevölkerung in die Unverbrüchlichkeit des Rechts erschüttert werden könnte, gefährdet den Bestand des angefochtenen Urteils hier nicht, da derartige Auswirkungen der Strafaussetzung vorliegend nicht nahe lagen und daher eine Prüfungs- und Erörterungspflicht ausnahmsweise nicht bestand (vgl. BGH, Urteil vom 6. August 2014 - 2 StR 153/14, wistra 2014, 477 mwN).
Revision des Angeklagten
Die aufgrund der allgemein erhobenen Sachrüge des Angeklagten veranlasste umfassende Rechtsprüfung des Urteils hat ebenfalls keinen durchgreifenden, zum Nachteil des Beschwerdeführers wirkenden Rechtsfehler erbracht (§ 349 Abs. 2 StPO).
HRRS-Nummer: HRRS 2015 Nr. 291
Externe Fundstellen: NStZ-RR 2015, 241
Bearbeiter: Christian Becker