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HRRS-Nummer: HRRS 2009 Nr. 1060

Bearbeiter: Ulf Buermeyer

Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 460/08, Beschluss v. 11.11.2009, HRRS 2009 Nr. 1060


BGH 5 StR 460/08 - Beschluss vom 11. November 2009

Vorlagebeschluss; Entscheidung über die Entlassung eines Zeugen (Abwesenheit des Angeklagten); Beanstandung der Entlassungsentscheidung (Entscheidung des Gerichts); Begriff der Vernehmung.

§ 132 GVG; § 247 StPO; § 238 StPO; § 338 Nr. 5 StPO

Leitsätze des Bearbeiters

1. Der Senat legt dem Großen Senat für Strafsachen die Rechtsfrage zur Entscheidung vor, ob die fortdauernde Abwesenheit des nach § 247 StPO während einer Zeugenvernehmung entfernten Angeklagten bei der Verhandlung über die Entlassung des Zeugen den absoluten Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 StPO begründet.

2. Eine Beanstandung (§ 238 Abs. 2 StPO) der in fortdauernder Abwesenheit des Angeklagten getroffenen Entlassungsentscheidung des Vorsitzenden entsprechend dem ausgeweiteten Verständnis dieser Norm als einem einer Revisionsrüge notwendig vorgeschalteten Zwischenrechtsbehelf ist von der Rechtsprechung bislang nicht als Voraussetzung für eine Rüge nach § 338 Nr. 5 StPO wegen gesetzwidriger Abwesenheit des Angeklagten bei der Entlassungsverhandlung verlangt worden. Mangelnder Vortrag des Angeklagten hierzu berührt daher nicht die Vollständigkeit des Vortrags im Sinne des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO.

3. In Abkehr von bisheriger Rechtsprechung rechnet der Senat die Verhandlung über die Entlassung eines nach § 247 StPO in Abwesenheit des Angeklagten vernommenen Zeugen zu dessen Vernehmung im Sinne des § 247 StPO.

Entscheidungstenor

Dem Großen Senat für Strafsachen wird gemäß § 132 Abs. 2 GVG folgende Rechtsfrage zur Entscheidung vorgelegt:

Begründet die fortdauernde Abwesenheit des nach § 247 StPO während einer Zeugenvernehmung entfernten Angeklagten bei der Verhandlung über die Entlassung des Zeugen den absoluten Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 StPO?

Gründe

Das Landgericht hat gegen den Angeklagten - unter Freisprechung im Übrigen - wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes eine Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verhängt und ihn unter Einbeziehung der (in den Urteilsgründen nicht mitgeteilten) Einzelstrafen aus einer rechtskräftigen Verurteilung (zu zwei Jahren und sechs Monaten Gesamtfreiheitsstrafe) zu einer neuen Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und drei Monaten verurteilt. Gegen dieses Urteil wendet sich der Angeklagte mit der auf eine Verfahrensrüge und auf die allgemeine Sachrüge gestützten Revision.

1. Der Senat möchte - dem entsprechenden Beschlussantrag des Generalbundesanwalts folgend - das Urteil auf die Sachrüge im Gesamtstrafausspruch wegen fehlender Angabe der Höhe der einbezogenen Einzelstrafen aufheben und die weitergehende Revision verwerfen. Die Verfahrensvoraussetzung eines wirksamen Eröffnungsbeschlusses sieht er als erfüllt an; bei den unrichtigen Angaben zur eröffneten Anklage in der schriftlichen Fassung handelt es sich, wie die Anhörung der beteiligten Richter eindeutig erweist, um ein Fassungsversehen. Zum Schuld- und Strafausspruch hält das angefochtene Urteil sachlichrechtlicher Prüfung stand. Der Senat hält auch die auf Verletzung des § 247 StPO gestützte Verfahrensrüge nach § 338 Nr. 5 StPO für unbegründet. So kann der Senat aber nach Durchführung des Anfrageverfahrens nicht ohne Vorlage an den Großen Senat für Strafsachen gemäß § 132 Abs. 2 GVG entscheiden.

2. Mit der Rüge beanstandet die Revision die fortdauernde Abwesenheit des Angeklagten während der Verhandlung über die Vereidigung und Entlassung der gemäß § 247 Satz 2 StPO in seiner Abwesenheit zeugenschaftlich vernommenen Nebenklägerin. Während die Beanstandung hinsichtlich der Verhandlung über die Vereidigung der kindlichen Zeugin offensichtlich unbegründet ist (BGH bei Holtz MDR 1978, 460; BGHR StPO § 247 Abwesenheit 1; BGHSt 51, 81), gilt dies nach der bisherigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs nicht bezogen auf die Verhandlung über die Entlassung der Zeugin.

3. Der Senat hält die Rüge für zulässig und das Sachvorbringen der Revision hierzu nach dem Protokoll für erwiesen.

a) Eine Beanstandung der in fortdauernder Abwesenheit des Angeklagten getroffenen Entlassungsentscheidung des Vorsitzenden nach § 238 Abs. 2 StPO entsprechend dem zunehmend ausgeweiteten Verständnis von dieser Norm als einem einer Revisionsrüge notwendig vorgeschalteten Zwischenrechtsbehelf (Schneider in KK 6. Aufl. § 238 Rdn. 33 ff.; Mosbacher JR 2007, 387) ist von der Rechtsprechung bislang nicht als Voraussetzung für eine Rüge nach § 338 Nr. 5 StPO wegen gesetzwidriger Abwesenheit des Angeklagten bei der Entlassungsverhandlung verlangt worden. Mangelnder Vortrag des Angeklagten hierzu berührt daher - entgegen der Auffassung des Generalbundesanwalts in seinem Beschlussverwerfungsantrag - nicht die Vollständigkeit des Vortrags im Sinne des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO. Wollte man die Statthaftigkeit der hier in Frage stehenden Verfahrensrüge von diesem Zwischenrechtsbehelf abhängig machen, wäre ein solches Erfordernis seinerseits im Verfahren nach § 132 GVG zu klären.

b) Das Protokoll ist zur Frage der Wiederzulassung des Angeklagten zur Hauptverhandlung nach Vernehmung der kindlichen Zeugin nicht etwa derart lückenhaft, dass zur Frage der Abwesenheit des Angeklagten nach Abschluss ihrer Aussage ein etwa zulässiges Freibeweisverfahren (vgl. BGHSt 51, 298, 308, 314) veranlasst wäre, das der Rüge die Grundlage entziehen könnte. Zur Begründung nimmt der Senat auf seinen Anfragebeschluss in dieser Sache vom 10. März 2009 (StV 2009, 342 m. Anm. Eisenberg) Bezug.

4. In Abkehr von bisheriger Rechtsprechung (BGHR StPO § 247 Abwesenheit 1, 14, 15; § 338 Nr. 5 Angeklagter 23; BGH NStZ 2007, 352) rechnet der Senat die Verhandlung über die Entlassung eines nach § 247 StPO in Abwesenheit des Angeklagten vernommenen Zeugen zu dessen Vernehmung. Er sieht demnach die Abwesenheit des Angeklagten von diesem Verfahrensabschnitt als von § 247 StPO gedeckt und nicht den absoluten Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 StPO begründend an.

a) Wortlaut und Wortsinn des § 247 StPO erlauben es und legen es sogar nahe, unter "Vernehmung" eines Zeugen nicht nur dessen Aussage und Befragung zu verstehen, sondern auch die damit eng und unmittelbar zusammenhängenden Verfahrensvorgänge seines Aufrufs (vgl. § 243 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 StPO), seiner Belehrung (§§ 57, 52 Abs. 3 Satz 1 StPO), seiner (etwaigen) Vereidigung, eingeschlossen eine Entscheidung hierüber, und seiner Entlassung (§ 248 StPO) dazu zu rechnen. Entsprechend ist der Begriff der "Vernehmung" in der Vorschrift des § 58a Abs. 1 Satz 1 StPO über die Vernehmungsaufzeichnung (vgl. Meyer-Goßner, StPO 52. Aufl. § 58a Rdn. 4) und namentlich in Vorschriften zur Anwesenheit bei Vernehmungen zu verstehen, so zur Beiordnung eines anwaltlichen Beistands "für die Dauer der Vernehmung" in § 68b Abs. 1 Satz 1 StPO (vgl. Meyer-Goßner aaO § 68b Rdn. 5) und gleichermaßen zu den Anwesenheitsrechten bei richterlichen Vernehmungen in § 168c StPO. In § 251 Abs. 4 Satz 3 StPO wird die Vereidigung des Zeugen ersichtlich der "Vernehmung" zugeordnet.

Soweit § 59 Abs. 2 Satz 1 StPO (entsprechend § 79 Abs. 2 StPO) die (eigentliche) Vernehmung und die Vereidigung des Zeugen voneinander trennt, ergibt sich hieraus (entgegen BGHSt 26, 218, 219) nichts anderes. Die Formulierung erklärt sich aus dem spezifischen Regelungsgegenstand über die Abfolge im Sinne des Nacheides. Ähnliches gilt für die Vorschriften über die (anfängliche) Zeugenbelehrung (§ 52 Abs. 3 Satz 1, § 57 Satz 1 StPO), die - wie auch die Bestimmungen über die (abschließende) Zeugenentlassung (§ 248 StPO) - die sachliche Abfolge während einer Vernehmung verdeutlichen. Eine einengende Begriffsdefinition kann daraus nicht abgeleitet werden.

Nach diesem Verständnis des Vernehmungsbegriffs kann das nicht seltene, namentlich in Fällen des § 247 Satz 2 StPO erstrebenswerte Ziel ohne weiteres erreicht werden, jegliche Begegnung des zu schützenden Zeugen mit dem entfernten Angeklagten zu vermeiden. Im Übrigen erwähnt § 247 Satz 4 StPO über die Unterrichtungspflicht betreffend die Zeugenaussage hinaus eine sonstige Verhandlung in - vorausgesetzt ordnungsgemäßer - Abwesenheit.

b) Eine Abwesenheit des Angeklagten bei den vor der Zeugenaussage und -befragung erfolgenden Verfahrensvorgängen des Zeugenaufrufs und der Zeugenbelehrung wird - durch den Bundesgerichtshof soweit ersichtlich bislang unbeanstandet - häufig praktiziert. Abweichend beurteilt die bisherige Rechtsprechung hingegen die der Aussage und Befragung nachfolgenden Verfahrensvorgänge der Vereidigung und Entlassung des Zeugen. Mit diesem - partiell - engen Verständnis, die letztgenannten Vorgänge vom Vernehmungsbegriff des § 247 StPO auszunehmen, erstreckt sie den absoluten Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 StPO - ungeachtet der selbstverständlichen Fälle einer formal mangelhaften Entfernung des Angeklagten oder eines sachlich unzulänglich oder unvertretbar begründeten Entfernungsbeschlusses nach § 247 StPO - im Interesse einer Teilhabe des Angeklagten an wesentlichen Verfahrensabläufen auf dessen fortdauernde Entfernung von den Verfahrensvorgängen der Vereidigung oder Nichtvereidigung des Zeugen sowie seiner Entlassung. Hinsichtlich der Vereidigung, der nach Abschaffung der Regelvereidigung freilich nur mehr untergeordnete Bedeutung zukommen dürfte (vgl. BGHSt 51, 81), wurde dem Angeklagten zur Wahrung der Chance auf Beeinflussung der Vereidigungsentscheidung durch vorherige Anhörung bei fortdauernder Abwesenheit von der Verhandlung über die Vereidigung der absolute Revisionsgrund zugebilligt (vgl. BGHSt 26, 218, 220; vgl. zur Vermeidung der Konfrontation bei Nichtvereidigung BGH NJW 2004, 1187; insoweit in BGHSt 49, 25 nicht abgedruckt). Für den - fraglos wesentlichen - Vorgang der erfolgten Vereidigung musste sich die Rechtsprechung in Fällen unerlässlichen Getrennthaltens des Angeklagten von dem zu vereidigenden Zeugen allerdings mit einer vorgeblich erweiternden Auslegung des § 247 StPO behelfen (vgl. BGHSt 37, 48, 49 f.; BGH NStZ 1985, 136; vgl. auch Meyer-Goßner in Festschrift für Pfeiffer 1988 S. 311, 322). Bezüglich der Entlassung konnte der eigentliche Entlassungsvorgang demgegenüber als unwesentlicher Teil der Hauptverhandlung gewertet werden, so dass insoweit für eine etwa gebotene ausnahmslose Trennung keine Probleme entstanden (vgl. BGH NJW 2004, 1187, insoweit in BGHSt 49, 25 nicht abgedruckt).

Nicht zur Vernehmung im Sinne des § 247 StPO gerechnet, indes grundsätzlich (vgl. aber BGHR StPO § 247 Abwesenheit 18, 20, 23) als wesentlicher Teil der Hauptverhandlung gewertet wird bislang die Verhandlung über die Entlassung des Zeugen (vgl. BGHR StPO § 247 Abwesenheit 1; BGH NJW 1986, 267; vgl. auch BGH NStZ 2000, 440; BGH, Beschlüsse vom 10. August 1995 - 5 StR 272/95 und vom 15. Dezember 1999 - 1 StR 614/99; zur Vermeidung persönlicher Konfrontation insoweit BGHSt 22, 289, 296 f.). So wird die Chance des Angeklagten zu effektiver Einflussnahme auf die Befragung des Zeugen, sei es durch Wahrnehmung seines eigenen Fragerechts, sei es durch den Verteidiger, wenn dieser nach Unterrichtung gemäß § 247 Satz 4 StPO von seinem Mandanten detaillierter informiert worden ist, mit dem absoluten Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 StPO abgesichert. Er soll zur Anwendung kommen, wenn der Zeuge bereits vor Wiederzulassung und Information des Angeklagten entlassen worden ist (vgl. BGHR StPO § 247 Abwesenheit 1 und 15).

c) Der Senat hält die Rechtsprechung zur Erstreckung des absoluten Revisionsgrundes in den genannten Fällen, hier bezogen auf den Fall der fortdauernden Abwesenheit des Angeklagten während der Verhandlung über die Entlassung des Zeugen, nicht für überzeugend und möchte sie ändern. In seinem Anfragebeschluss hat er hierfür eine noch etwas weitergehende Lösung gefunden (im Anschluss an Basdorf in Festschrift für Salger 1995 S. 203). Er hat sich für ein Verständnis vom Begriff der Vernehmung ausgesprochen, wie er nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs bei Rügen nach § 338 Nr. 6 StPO anerkannt ist, mit denen ein zu weit gehender Ausschluss der Öffentlichkeit beanstandet wird, der gemäß § 171a bis § 172 GVG für die Dauer einer Vernehmung erfolgt war. Danach wird "die Vernehmung" im Sinne des entsprechenden Verfahrensabschnitts verstanden; hierzu rechnen alle Verfahrensvorgänge, die mit der eigentlichen Vernehmung eng in Zusammenhang stehen oder sich aus ihr entwickeln (BGH NJW 1996, 2663, insoweit in BGHSt 42, 158 nicht abgedruckt; BGH NJW 2003, 2761, insoweit in BGHSt 48, 268 nicht abgedruckt; BGH, Beschluss vom 20. Juli 2004 - 4 StR 254/04).

Diese Auffassung, welcher der Senat - ungeachtet unterschiedlicher Wertigkeit von Angeklagten- und Öffentlichkeitspräsenz und abweichenden Wortlauts der Ausschließungsnormen - unverändert zuneigt, erfasst über den weiter verstandenen Vernehmungsbegriff (oben 4. a) hinaus vor allem auch andere Beweiserhebungen, namentlich Urkundenverlesungen oder Augenscheinseinnahmen, die in engem inhaltlichen Zusammenhang mit der Zeugenvernehmung stehen und sich - wie bei der Vorlage von Schriftstücken oder sonstigen Beweismitteln durch den Zeugen zur Untermauerung seiner Aussage - oftmals unmittelbar daraus ergeben. Die bisherige Rechtsprechung gestattet solche Beweiserhebungen ohne weiteres unter fortdauerndem Ausschluss der Öffentlichkeit von der Vernehmung (BGHR GVG § 171b Abs. 1 Augenschein 1), nicht indes in Abwesenheit des während der Vernehmung entfernten Angeklagten (BGHR StPO § 247 Abwesenheit 4, 5, 25; § 338 Nr. 5 Angeklagter 3; weitere Nachweise im Anfragebeschluss; vgl. zur Durchbrechung im Sonderfall des Augenscheins am Körper des Zeugen BGHR StPO § 247 Abwesenheit 30).

Im Übrigen hat die Rechtsprechung unsystematisch und eher beiläufig eine Gleichbehandlung der Angeklagtenabwesenheit mit dem Öffentlichkeitsausschluss bereits für Fälle gebilligt, in denen die Verhandlung über den Ausschluss der Öffentlichkeit in Abwesenheit des Angeklagten erfolgte (BGHR StPO § 247 Abwesenheit 11; insoweit nicht abgedruckt in BGHSt 39, 326; BGH NJW 1979, 276; vgl. auch BGHR StPO § 247 Abwesenheit 12, 13). Für seine Überzeugung, dass der Angeklagte gegen Informationsdefizite auch im Bereich anderweitiger Beweiserhebungen über einen relativen Revisionsgrund ausreichend geschützt ist, verweist der Senat auf seine Anfragebeschlüsse vom 10. März 2009 in dieser Sache und im Parallelverfahren 5 StR 530/08 (StV 2009, 226; vgl. zur Heilung bei Augenscheinseinnahme in Abwesenheit des Angeklagten das Senatsurteil vom heutigen Tage im Parallelverfahren; zur Veröffentlichung in BGHSt bestimmt).

5. Für den vorliegenden Fall der Abwesenheit des Angeklagten bei der Entlassungsverhandlung geht der Senat insoweit lediglich von einer etwas engeren Auslegung des Vernehmungsbegriffs, als von ihm noch dem Anfragebeschluss zugrunde gelegt, aus (oben 4. a). Auch dementsprechend zu judizieren, ist der Senat indes nach dem Ergebnis des Anfrageverfahrens gehindert. Lediglich der 1. Strafsenat hat seine Auffassung aufgegeben, wohingegen der 2., 3. und 4. Strafsenat an ihrer Rechtsprechung zur Anwendung des absoluten Revisionsgrundes des § 338 Nr. 5 StPO bei Abwesenheit des Angeklagten von der Entlassungsverhandlung nach Abwesenheitsvernehmung gemäß § 247 StPO festhalten.

a) Der Senat sieht durch die Abwesenheit des Angeklagten von der Verhandlung über die Entlassung der gemäß § 247 StPO in seiner Abwesenheit vernommenen Zeugin den absoluten Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 StPO nicht als erfüllt an, da die Abwesenheit weiterhin von § 247 StPO gedeckt war. Die Voraussetzungen für einen in dieser Fallkonstellation möglichen relativen Revisionsgrund wegen Verletzung des Fragerechts des Angeklagten sind vorliegend nicht gegeben.

Mit Rücksicht auf eine effektive Wahrung des Fragerechts des Angeklagten ist es allerdings - unabhängig von der Frage der Weite des Vernehmungsbegriffs in § 247 StPO - verfahrensfehlerhaft, wenn der Vorsitzende, wie hier, den Angeklagten erst nach Entlassung der in seiner Abwesenheit vernommenen Zeugin über den Inhalt ihrer Aussage unterrichtet. Gleichwohl erscheint es nicht gerechtfertigt, eine durch solches Vorgehen möglicherweise verursachte Beeinträchtigung des Fragerechts des Angeklagten von vornherein durch Eingreifen des absoluten Revisionsgrundes des § 338 Nr. 5 StPO zu schützen.

Durch dieses Verständnis der einschlägigen Vorschriften wird in der Sache das Verteidigungsrecht des Angeklagten nicht beeinträchtigt. Nicht die Teilnahmemöglichkeit an dem Formalakt der Entlassungsentscheidung (§ 248 Satz 2 StPO) ist hierfür wesentlich. Es ist vielmehr geboten, dem Angeklagten einen weitestgehenden verfahrensrechtlichen Ausgleich seiner durch die Abwesenheit entstandenen Informationslücke hinsichtlich des durch die Zeugenvernehmung hinzugetretenen Verfahrensstoffes zu verschaffen. Dies erfordert eine frühestmögliche Unterrichtung im Sinne des § 247 Satz 4 StPO und die Einräumung der Möglichkeit, das eigene Fragerecht oder das des Verteidigers nachholen zu können. Diese Rechte des Angeklagten sind mit Hilfe relativer Revisionsgründe abzusichern. Danach entfällt jedes Bedürfnis, unter Annahme eines absoluten Revisionsgrundes wegen Nichtmitwirkung an einem effektivem Verteidigungshandeln lediglich vorgelagerten Formalakt ein ansonsten fehlerfreies Urteil aufheben zu müssen.

aa) So ist es zunächst auch Aufgabe des Verteidigers - der in einschlägigen Fällen stets amtieren wird (vgl. § 140 Abs. 2 StPO) -, solch verspäteter Unterrichtung des Angeklagten beizeiten entgegenzutreten. Er ist gehalten, auf eine effektive Wahrnehmbarkeit des eigenen Fragerechts seines Mandanten in dessen Interesse zu achten. Nicht selten wird er überdies an einer Unterrichtung des Angeklagten auch deswegen interessiert sein, weil er hierdurch intern eine Reaktion seines Mandanten herbeiführen kann, um gegebenenfalls weitere eigene Fragen an den Zeugen zu richten.

Vor diesem Hintergrund wird sich der Verteidiger veranlasst sehen, eine wegen Vernachlässigung des Fragerechts sachwidrig verfrühte Entlassungsanordnung des Vorsitzenden nach § 238 Abs. 2 StPO zu beanstanden und so die Grundlage für eine Unterrichtung des Angeklagten vor der Entlassung des Zeugen zu schaffen. Dieser Interessenlage entspringt ersichtlich auch der - durchaus neue - Ansatz des Generalbundesanwalts, in Fällen der vorliegenden Art die Revisibilität des gerügten, auf die vorzeitige Zeugenentlassung bezogenen Vorsitzendenverhaltens von einem bereits in der Hauptverhandlung erhobenen entsprechenden Einwand abhängig zu machen.

bb) Will der Angeklagte den in seiner Abwesenheit vernommenen Zeugen nach Unterrichtung über den Inhalt seiner Aussage selbst befragen, so ist ihm das zu gestatten. Gleiches gilt für Fragen des in dieser Situation durch seinen Mandanten ergänzend informierten Verteidigers. Ist der Zeuge sachwidrig zuvor entlassen worden, so ist er vom Gericht zu der durch die verfrühte Entlassung vereitelten ergänzenden Befragung - die notfalls zur gebotenen Schonung des Zeugen wieder in vorübergehender Abwesenheit des nach § 247 StPO zu entfernenden Angeklagten erfolgen darf - alsbald erneut vorzuladen. Die ohne Rücksicht auf das Fragerecht des Angeklagten erfolgte verfahrensfehlerhafte vorzeitige Entlassung des Zeugen hindert das Gericht, den Angeklagten auf den Weg des Beweis- oder Beweisermittlungsantrags zu verweisen, wenn er eine erneute Vorladung des Zeugen durchzusetzen wünscht. Solches entspräche nur nach ordnungsgemäßer Entlassung des Zeugen erst nach Unterrichtung des Angeklagten dem Verfahrensrecht (vgl. Fischer in KK 6. Aufl. § 244 Rdn. 70; BGHR StPO § 244 Abs. 6 Beweisantrag 16; § 244 Abs. 2 Aussageentstehung 1; BGH NJW 1986, 267; vgl. auch BGHR StPO § 248 Entlassung 1).

cc) Zwar weisen die Antwortbeschlüsse des 2. und 3. Strafsenats zutreffend auf damit zusammenhängende, denkbare Verfahrenserschwernisse hin. Jedoch geht es dem Senat nicht darum, eine vorzeitige Zeugenentlassung zum Standard zu machen, sondern um die Art der Fehlerkorrektur. Die vom Senat befürwortete Eröffnung einer effektiven Heilungsmöglichkeit in Bezug auf das beeinträchtigte Fragerecht des unzulänglich informierten Angeklagten auf dessen Verlangen bietet dabei einen sachgerechten und hinreichenden Ausgleich für das erlittene Verfahrensdefizit. Sie ist im Lichte der Gebote eines wirksamen Zeugen- und Opferschutzes sowie der zügigen Verfahrensförderung allemal vorzugswürdig gegenüber einer uneingeschränkten Aufhebung des Urteils wegen des absoluten Revisionsgrundes, für den eine konkrete Beeinträchtigung des Fragerechts nicht einmal dargetan sein muss.

Allein diese Verfahrensweise steht im Übrigen im Einklang mit der Rechtsprechung, die bei einem ausdrücklichen Verzicht des Angeklagten auf eine weitere Zeugenbefragung keinen wesentlichen Verfahrensvorgang in der Verhandlung über die Entlassung des Zeugen sieht (vgl. BGHR StPO § 247 Abwesenheit 18, 20, 23). Konsequent sollte diese - für das vom Senat für zutreffend erachtete Ergebnis als Begründung gleichfalls tragfähige - Auffassung aber generell für die Entlassungsverhandlung gelten und nicht nur für jenen Ausnahmefall, in dem dann freilich auch der relative Revisionsgrund von vornherein abgeschnitten wäre.

b) In den relevanten Fällen kann mithin im Revisionsverfahren erfolgreich gerügt werden, dass das Fragerecht des Angeklagten (oder seines Verteidigers) durch Verweigerung der erneuten Vorladung eines während der Abwesenheit des Angeklagten vernommenen Zeugen, über dessen Aussage er erst nach dessen Entlassung unterrichtet wurde, verletzt worden ist, weil dem Angeklagten eine bestimmte zulässige Frage versagt wurde und das Urteil auf diesem Verstoß beruht. Im Falle der Heilung der verfrühten Entlassung durch nochmalige Vorladung des Zeugen wird allerdings nicht allein die Verhinderung sofortiger Befragung mit der Revision beanstandet werden können (vgl. Eisenberg StV 2009, 344, 345); Verzögerungsmomente können auch bei vollständig verfahrensfehlerfreiem Verhandlungsablauf ohne weiteres eintreten. Freilich wird, jedenfalls sofern die Verhinderung einer zulässigen Frage belegt werden kann, auch gerügt werden können, dass das Gericht die berechtigte Beanstandung des Verteidigers zurückgewiesen hat, der Zeuge möge nicht vor Unterrichtung des Angeklagten entlassen werden.

Bei einer solchen Verfahrensweise wird auch das Gewicht der durch die betreffenden Maßnahmen jeweils berührten Rechte des Angeklagten in ausgewogener Weise berücksichtigt. Der Gesetzgeber hat die grundlegende Beschneidung des Anwesenheitsrechts des Angeklagten mit § 247 StPO in weitem Maße dem tatgerichtlichen Ermessen überantwortet (BGHSt 22, 18, 20 f.; BGHR StPO § 247 Satz 2 Begründungserfordernis 1 und 2). Hierdurch bleibt der Angeklagte oftmals von den ganz entscheidenden, ihn belastenden Passagen der Hauptverhandlung ausgeschlossen (Basdorf in Festschrift für Salger 1995 S. 203, 206). Eine unzulängliche Unterrichtung des Angeklagten ist nur unter außerordentlich engen Voraussetzungen, insbesondere bezogen auf inhaltliche Mängel, über einen relativen Revisionsgrund zu beanstanden (vgl. BGHR StPO § 247 Satz 4 Unterrichtung 8; Meyer-Goßner aaO § 247 Rdn. 15 bis 17, 22; Diemer in KK 6. Aufl. § 247 Rdn. 16c). Nicht einmal die das Informationsrecht des Angeklagten besser gewährleistende Videoübertragung der Verfahrensvorgänge während seiner Abwesenheit (vgl. BGHSt 51, 180) soll über einen relativen Revisionsgrund durchsetzbar sein (vgl. BGH NStZ 2009, 582).

c) Vor diesem Hintergrund erscheint es nicht angemessen, die Position des (lediglich) verspätet unterrichteten Angeklagten gemäß der bisherigen Rechtsprechung durch den absoluten Revisionsgrund ohne Rücksicht darauf zu verstärken, ob er von seinem Fragerecht überhaupt Gebrauch machen wollte. Eine Reduktion des absoluten Revisionsgrundes durch eine sachgerechte Auslegung des Begriffs der Vernehmung in § 247 StPO, wie sie der Senat für angezeigt hält (vgl. zu entsprechender Tendenz schon BGHR StPO § 247 Abwesenheit 14, 20), würde dieses Missverhältnis beseitigen.

HRRS-Nummer: HRRS 2009 Nr. 1060

Externe Fundstellen: NJW 2010, 1012; StV 2010, 60

Bearbeiter: Ulf Buermeyer