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HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 1420

Bearbeiter: Fabian Afshar/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, StB 48/24, Beschluss v. 06.08.2024, HRRS 2024 Nr. 1420


BGH StB 48/24 - Beschluss vom 6. August 2024 (OLG Koblenz)

Beschwerde gegen die Aufhebung des Haftbefehls (Beurteilung des dringenden Tatverdachts durch das erkennende Gericht; vorläufige Würdigung der Beweislage; Prüfungsumfang des Beschwerdegerichts).

§ 304 StPO; § 112 StPO

Entscheidungstenor

Die Beschwerde des Generalbundesanwalts gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Koblenz vom 8. Juli 2024 wird verworfen.

Die Staatskasse trägt die Kosten des Rechtsmittels und die notwendigen Auslagen des Angeklagten im Beschwerdeverfahren.

Gründe

I.

Der Angeklagte befand sich vom 21. März 2023 bis zum 8. Juli 2024 in Untersuchungshaft aufgrund Haftbefehls des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs vom 13. März 2023 (2 BGs 324/23), nach Anklageerhebung neu gefasst durch Beschluss des Oberlandesgerichts Koblenz vom 4. März 2024 (5 St 3 BJs 48/21).

Gegenstand des zuletzt maßgeblichen, der Anklage entsprechenden Haftbefehls ist der Vorwurf, der Angeklagte habe sich zwischen dem 20. Mai und Ende Juni 2015 in A. (Arabische Republik Syrien) durch neun selbständige Handlungen an der ausländischen terroristischen Vereinigung „Islamischer Staat“ (IS) beteiligt (§ 129a Abs. 1 Nr. 1, § 129b Abs. 1 StGB) und dabei in acht Fällen jeweils durch dieselbe Handlung zudem - (Fall 2) im Zusammenhang mit einem nichtinternationalen Konflikt versucht, eine nach dem humanitären Völkerrecht zu schützende Person zu töten, - (Fälle 3 und 4) in zwei tatmehrheitlichen Fällen im Zusammenhang mit einem nichtinternationalen Konflikt eine nach dem humanitären Völkerrecht zu schützende Person als Geisel genommen, - (Fälle 5 und 6) in zwei tatmehrheitlichen Fällen jeweils durch dieselbe Handlung a) im Zusammenhang mit einem nichtinternationalen Konflikt eine nach dem humanitären Völkerrecht zu schützende Person getötet, b) im Zusammenhang mit einem nichtinternationalen Konflikt gegen eine nach dem humanitären Völkerrecht zu schützende Person die Todesstrafe vollstreckt, ohne dass diese Person in einem unparteiischen ordentlichen Gerichtsverfahren, das die völkerrechtlich erforderlichen Rechtsgarantien geboten habe, abgeurteilt worden sei, c) einen Menschen aus niedrigen Beweggründen getötet und d) in einem dieser Fälle (Fall 6) im Zusammenhang mit einem nichtinternationalen Konflikt eine nach dem humanitären Völkerrecht zu schützende Person grausam oder unmenschlich behandelt, indem er ihr erhebliche körperliche oder seelische Schäden oder Leiden zugefügt, insbesondere sie gefoltert oder verstümmelt habe, - (Fälle 7 und 8) in zwei tatmehrheitlichen Fällen jeweils durch dieselbe Handlung a) im Zusammenhang mit einem nichtinternationalen Konflikt eine nach dem humanitären Völkerrecht zu schützende Person getötet, b) einen Menschen aus niedrigen Beweggründen getötet, in einem der Fälle (Fall 8) zudem grausam und c) in diesem Fall (Fall 8) im Zusammenhang mit einem nichtinternationalen Konflikt eine nach dem humanitären Völkerrecht zu schützende Person grausam oder unmenschlich behandelt, indem er ihr erhebliche körperliche oder seelische Schäden oder Leiden zugefügt, insbesondere sie gefoltert oder verstümmelt habe, - (Fall 9) im Zusammenhang mit einem nichtinternationalen Konflikt, ohne dass dies durch die Erfordernisse des Konflikts geboten gewesen sei, in erheblichem Umfang völkerrechtswidrig Sachen der gegnerischen Partei, die der Gewalt der eigenen Partei unterlagen, sich angeeignet oder beschlagnahmt, Verbrechen strafbar gemäß § 8 Abs. 1 Nr. 1, 2, 3 und 7, Abs. 4, § 9 Abs. 1 Variante 2, § 2 VStGB, § 129a Abs. 1 Nr. 1, § 129b Abs. 1 Satz 1 und 2, §§ 211, 22, 23 Abs. 1, § 25 Abs. 2, §§ 52, 53 StGB.

Wegen dieser Vorwürfe findet seit dem 8. April 2024 die Hauptverhandlung vor dem Oberlandesgericht Koblenz statt. Dieses hat den Haftbefehl durch Beschluss vom 8. Juli 2024 mit der Begründung aufgehoben, dass der Angeklagte nach vorläufiger Bewertung des bisherigen, an über zwanzig Verhandlungstagen gewonnenen Beweisergebnisses der ihm zur Last gelegten Taten nicht mehr dringend verdächtig sei.

Der Generalbundesanwalt wendet sich mit seiner Beschwerde gegen die Aufhebung des Haftbefehls und beantragt dessen Änderung dahin, dass hinsichtlich der unter den Fällen 2, 4 und 7 bis 9 der Anklage aufgeführten Tatvorwürfe dringender Tatverdacht vorliege. Das Oberlandesgericht hat der Beschwerde nicht abgeholfen.

II.

Die nach § 304 Abs. 4 Satz 2 Halbsatz 2 Nr. 1 StPO statthafte und auch im Übrigen zulässige (§ 306 Abs. 1 StPO) Beschwerde ist unbegründet.

1. Die Beurteilung des dringenden Tatverdachts, die das erkennende Gericht während laufender Hauptverhandlung vornimmt, unterliegt im Haftbeschwerdeverfahren in nur eingeschränktem Umfang der Nachprüfung durch das Beschwerdegericht. Allein das Gericht, vor dem die Beweisaufnahme stattfindet, ist in der Lage, deren Ergebnisse aus eigener Anschauung festzustellen und zu würdigen sowie auf dieser Grundlage zu bewerten, ob der dringende Tatverdacht nach dem erreichten Verfahrensstand noch fortbesteht oder weggefallen ist. Das Beschwerdegericht hat demgegenüber keine eigenen unmittelbaren Erkenntnisse über den Verlauf der Beweisaufnahme. Allerdings muss es auch im Fall der Aufhebung eines Haftbefehls in die Lage versetzt werden, seine Entscheidung über ein hiergegen gerichtetes Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft auf einer hinreichend tragfähigen tatsächlichen Grundlage zu treffen. Hieraus folgt indes nicht, dass das erkennende Gericht alle bislang erhobenen Beweise in der von ihm zu treffenden Entscheidung einer umfassenden Darstellung und Würdigung zu unterziehen hat. Seine abschließende Bewertung der Beweise und ihre entsprechende Darlegung ist den Urteilsgründen vorbehalten. Das Haftbeschwerdeverfahren führt insoweit nicht zu einem über die Nachprüfung des dringenden Tatverdachts hinausgehenden Zwischenverfahren, in dem sich das Tatgericht zu Inhalt und Ergebnis aller Beweiserhebungen erklären müsste.

Um dem Beschwerdegericht eine eigenverantwortliche Entscheidung zu ermöglichen, bedarf es daher einer - wenn auch knappen - Darstellung, ob und inwieweit sowie durch welche Beweismittel sich der zu Beginn der Beweisaufnahme vorliegende Verdacht bestätigt oder verändert hat und welche Beweisergebnisse gegebenenfalls noch zu erwarten sind. Das Beschwerdegericht beanstandet die Beurteilung des dringenden Tatverdachts, soweit die Würdigung des Erstgerichts offensichtliche Mängel aufweist, welche die Einschätzung der Verdachtslage als unvertretbar erscheinen lassen. Der Beschwerde vermag es indes nicht zum Erfolg zu verhelfen, wenn der Rechtsmittelführer die Ergebnisse der Beweisaufnahme abweichend bewertet (s. insgesamt BGH, Beschlüsse vom 29. Oktober 2020 - StB 38/20, juris Rn. 12 f. mwN; vom 21. September 2020 - StB 28/20, BGHR StPO § 112 Tatverdacht 5 Rn. 16 f.).

2. Unter Beachtung dieses Maßstabes ist die vorläufige Beweiswürdigung des Oberlandesgerichts hinzunehmen. Dieses hat in der angefochtenen Entscheidung und vertiefend mit Beschluss vom 23. Juli 2024 zur Nichtabhilfe die Gründe dargelegt, aus denen es einen dringenden Tatverdacht nicht mehr für gegeben erachtet. Diese Ausführungen sind ausreichend, um eine Prüfung nach den beschriebenen Grundsätzen zu ermöglichen und die im derzeitigen Verfahrensstand vorrangig vom Tatgericht vorzunehmende Bewertung der Beweislage zumindest als noch vertretbar anzusehen.

a) Das Oberlandesgericht ist nach Darlegung der Einlassung des Angeklagten und der bisher in der Hauptverhandlung erhobenen Beweise zu der Einschätzung gekommen, dass aufgrund der seit der Anklageerhebung und durch die Beweisaufnahme neu bekannt gewordenen Umstände die Möglichkeit nicht fernliege, dass der Angeklagte durch einige Zeugen zu Unrecht belastet worden sei. Beispielsweise hätten Zeugenvernehmungen Belastungstendenzen ohne sachlichen Hintergrund erbracht. Zudem habe die das Verfahren auslösende Nichtregierungsorganisation wesentliche entlastende Beweisergebnisse zum Teil über ein Jahr zurückgehalten und diese nur anlässlich der Zeugenvernehmung eines verantwortlichen Mitarbeiters in der Hauptverhandlung offenbart. Im Folgenden hat sich das Oberlandesgericht mit jedem einzelnen Tatvorwurf befasst und die aus seiner Sicht maßgeblichen Gründe für das Entfallen des dringenden Tatverdachts aufgezeigt.

b) Die dagegen mit der Beschwerde vorgebrachten Einwände dringen, zumal unter Berücksichtigung der weiteren Ausführungen im Nichtabhilfebeschluss, im Ergebnis nicht durch. Obschon in der Beschwerdebegründung erörterte Umstände nahelegen, dass eine andere Würdigung des aktuellen Beweisergebnisses möglich wäre, ergeben sich daraus keine offensichtlichen Mängel der angefochtenen Entscheidung.

aa) Das Oberlandesgericht hat in Bezug auf Fall 2 berücksichtigt, dass das Opfer des dem Angeklagten zur Last gelegten versuchten Tötungsdeliktes bislang nicht in der Hauptverhandlung vernommen worden ist und sonst keine das konkrete Geschehen betreffenden Beweismittel bekannt sind. Im Rahmen der vorläufigen Bewertung der Beweislage hat es einstellen dürfen, dass der sich in den Niederlanden aufhaltende Zeuge zu dem für seine Vernehmung vorgesehenen Hauptverhandlungstermin nicht erschienen ist, er seine Aussagebereitschaft von einem - aktuell nicht absehbaren - Familiennachzug abhängig gemacht hat und seine Vernehmung nicht zwangsweise herbeigeführt werden kann. Denn für die Beurteilung des Tatverdachts kommt es jedenfalls nach Beginn der Hauptverhandlung darauf an, ob die Verurteilung mit vollgültigen Beweismitteln hochwahrscheinlich ist (vgl. die entsprechende st. Rspr. zum hinreichenden Tatverdacht, etwa BGH, Beschluss vom 18. Dezember 2018 - StB 52/18, BGHSt 64, 1 Rn. 14 mwN). Dass die - von der Einschätzung des Generalbundesanwalts abweichende - Prognose des Oberlandesgerichts zu einer Vernehmungsmöglichkeit des Zeugen unvertretbar ist, ist nicht ersichtlich. Im Übrigen hat es zur Bewertung der Beweislage den konkreten Tatvorwurf nicht unmittelbar betreffende Erkenntnisse aus der Beweisaufnahme heranziehen dürfen, die ihm Anlass gegeben haben, die bisherigen, sich aus den Akten ergebenden Aussagen des Zeugen kritischer als zuvor zu bewerten.

bb) Hinsichtlich des Falles 4 hat das Oberlandesgericht insbesondere erwogen, dass der bislang nicht in der Hauptverhandlung vernommene, laut Anklagevorwurf von der Geiselnahme Betroffene - nach vorläufiger Einschätzung der übrigen Beweislage - unzutreffende Angaben zu den Fällen 7 und 8 gemacht habe; daher sei die Richtigkeit des von ihm zu seiner eigenen Entführung Bekundeten nicht hochwahrscheinlich. Insofern macht der Generalbundesanwalt zwar berechtigterweise geltend, dass die Glaubhaftigkeit der Aussagen zu unterschiedlichen Vorfällen nicht einheitlich beurteilt werden müsse. Allerdings handelt es sich hierbei letztlich um eine Wertung, die während der Hauptverhandlung gerade dem Tatgericht vorbehalten ist. Ähnliches gilt für die Frage, inwieweit dem Umstand Gewicht zukommt, dass andere Zeugen ausgesagt haben, sie seien ebenfalls im „Gästepalast“ festgehalten, der Betroffene ihres Wissens aber nicht dort inhaftiert worden.

cc) Bezüglich der Fälle 7 und 8 habe, so das Oberlandesgericht, keiner der bisher vernommenen Zeugen von einer weiteren Hinrichtung zweier Kämpfer der „Freien Syrischen Armee“ über die Fälle 5 und 6 hinaus berichtet. Da der Bruder desjenigen Zeugen, auf den insoweit der dringende Tatverdacht bislang gestützt worden sei, nach dem bisherigen Ergebnis der Hauptverhandlung nach Zeugen für Anschuldigungen gegen den Angeklagten gesucht habe, erschienen aufgrund der engen familiären Verbundenheit auch die Aussagen des Zeugen und seiner Ehefrau nicht mehr geeignet, einen dringenden Tatverdacht zu begründen. Ferner habe der Zeuge nach Aktenlage Vorwürfe gegen einen Bruder des Angeklagten erhoben, die mit dem vorläufigen Ergebnis der Beweisaufnahme nicht in Einklang stünden. Dass das Oberlandesgericht vor diesem Hintergrund keinen dringenden Tatverdacht mehr sieht, ist nach den eingangs dargelegten Maßstäben vertretbar.

dd) Dies gilt ebenfalls für den Vorwurf zu Fall 9, demzufolge der Angeklagte mit anderen das von dem Bruder des vorgenannten Zeugen bewohnte Haus ausgeräumt und zur Nutzung durch den IS vorbereitet habe. Aus den bereits aufgezeigten Gründen hält das Oberlandesgericht die sich aus den Akten ergebenden Aussagen der Brüder und der Ehefrau für nicht ausreichend, um einen dringenden Tatverdacht zu begründen. Hinzu kommt, dass der das Haus ursprünglich bewohnende Bruder nach Bekundungen mehrerer Zeugen schon vor der Ankunft des IS geflohen gewesen sei und daher zu etwaigen Tätern aus eigener Anschauung keine Angaben machen könne.

ee) Für die aktuelle Beurteilung der Beweislage durch das Tatgericht ist schließlich nicht entscheidend, dass es bei Erlass des geänderten Haftbefehls insgesamt aufgrund der Aktenlage einen dringenden Tatverdacht angenommen, bislang aber die dort genannten Augenzeugen für die Fälle 2, 4 und 7 bis 9 nicht vernommen hat. Das Oberlandesgericht hat den möglichen weiteren Erkenntnisgewinn durch die ausstehenden Zeugenaussagen bedacht, die nach der letzten Haftentscheidung gewonnenen anderweitigen Erkenntnisse aus den von ihm plausibel dargelegten Gründen jedoch für so gewichtig gehalten, dass es seine ursprüngliche Einschätzung der Verdachtslage nicht mehr aufrechterhalten hat.

III.

Eine Anhörung des Angeklagten vor der - ihn im Ergebnis nicht beschwerenden - Entscheidung über die Beschwerde ist gemäß § 33 Abs. 3, 4 Satz 1 StPO, wie vom Generalbundesanwalt angeregt, unterblieben.

HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 1420

Bearbeiter: Fabian Afshar/Karsten Gaede