HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 1375
Bearbeiter: Christian Becker
Zitiervorschlag: BGH, StB 38/20, Beschluss v. 29.10.2020, HRRS 2020 Nr. 1375
Die Beschwerde des Generalbundesanwalts gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Frankfurt vom 1. Oktober 2020 wird verworfen.
Die Kosten des Rechtsmittels sowie die notwendigen Auslagen des Angeklagten im Beschwerdeverfahren hat die Staatskasse zu tragen.
Der Angeklagte wurde am 26. Juni 2019 vorläufig festgenommen und befand sich vom 27. Juni 2019 bis 1. Oktober 2020 ununterbrochen in Untersuchungshaft, zuletzt aufgrund des Haftbefehls des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs vom 27. Juni 2019 (3 BGs 132/19) in der Fassung des Beschlusses des Oberlandesgerichts Frankfurt vom 2. Juni 2020 (5-2 StE 1/20-5a-3/20).
Gegenstand dieses Haftbefehls ist - entsprechend der Anklageschrift des Generalbundesanwalts vom 28. April 2020 - der Vorwurf, der Angeklagte habe einem Mitangeklagten dazu Hilfe geleistet, den Regierungspräsidenten des Regierungsbezirks K., Dr. L., heimtückisch und aus niedrigen Beweggründen zu töten (§ 211 Abs. 2, § 27 Abs. 1 StGB). Ferner wird dem Angeklagten zur Last gelegt, einen wesentlichen Teil einer vollautomatischen Schusswaffe zum Verschießen von Patronenmunition besessen zu haben (§ 51 Abs. 1, § 1 Abs. 2 bis 4, § 2 Abs. 3 i.V.m. Anlage 2 Abschnitt 1 Nr. 1.2.1 WaffG).
Mit Beschlüssen vom 2. Juni 2020 hat das Oberlandesgericht das Hauptverfahren eröffnet, die Anklage des Generalbundesanwalts vom 28. April 2020 zur Hauptverhandlung zugelassen, Haftfortdauer angeordnet sowie den Haftbefehl erweitert und neu gefasst.
Die Hauptverhandlung hat am 16. Juni 2020 begonnen.
Mit Beschluss vom 1. Oktober 2020 (5-2 StE 1/20-5a-3/20) hat das Oberlandesgericht den Haftbefehl des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs vom 27. Juni 2019 in der Fassung des Beschlusses des Strafsenats vom 2. Juni 2020 aufgehoben. Nach der Würdigung des Oberlandesgerichts hat unter Berücksichtigung der Beweisaufnahme aus der bis zum Entscheidungszeitpunkt an 20 Tagen durchgeführten Hauptverhandlung kein dringender Tatverdacht mehr dahingehend bestanden, dass der Angeklagte sich der Beihilfe zum Mord an Dr. L. strafbar gemacht hat.
Der Strafsenat geht zwar weiterhin davon aus, dass der Mitangeklagte mit hoher Wahrscheinlichkeit am späten Abend des 1. Juni 2019 mit einem Revolver einen gezielten Schuss auf den Kopf von Dr. L. abgab und diesen dadurch tötete. Das Oberlandesgericht stützt dies vor allem auf die Einlassung des Mit angeklagten, die insoweit durch zwei auf dem Hemd des Tatopfers gefundene DNA-Spuren Bestätigung findet.
Kein dringender Tatverdacht bestehe jedoch mehr, soweit dem Angeklagten in dem Haftbefehl zur Last gelegt worden ist, spätestens seit Juli 2016 mit der Möglichkeit gerechnet zu haben, durch wiederholtes gemeinsames Schießtraining und die gemeinsame Teilnahme an Demonstrationen den Mitangeklagten in dessen Willen, einen politischen Entscheidungsträger zu töten, zu bestärken und durch die wiederholten Schießübungen die Fertigkeiten des Mitangeklagten im Umgang mit hierzu einzusetzenden Schusswaffen zu fördern. Denn die bislang den Verdacht bedingt vorsätzlichen Handelns wesentlich stützenden Beweismittel, die Aussagen des Mitangeklagten und der ehemaligen Lebensgefährtin des Angeklagten, sind nach der Würdigung des Oberlandesgerichts nicht mehr hinreichend belastbar. Der Strafsenat hat seine diesbezüglichen Erwägungen unter Mitteilung der tragenden Aussageinhalte in einer ausführlichen Abwägung dargelegt. Er hat insbesondere auf das - die Tatbeteiligung des Angeklagten betreffende - wechselnde Einlassungsverhalten des Mitangeklagten und den Umstand hingewiesen, dass die Zeugin in der Hauptverhandlung ihre belastenden Angaben nicht nur relativiert, sondern ihre Vernehmung auch erhebliche Zweifel an der Glaubhaftigkeit ihrer Aussage im Ermittlungsverfahren zu Tage gebracht habe. Das Oberlandesgericht hat sämtliche durch den Generalbundesanwalt in seiner Stellungnahme vom 28. September 2020 genannten übrigen Beweiszeichen, die geeignet sein könnten, den Tatverdacht aus dem Haftbefehl zu stützen, in seine Würdigung einbezogen und dargelegt, warum auch unter Berücksichtigung derer kein dringender Tatverdacht mehr besteht.
Zwar sei hinsichtlich des verbleibenden Tatvorwurfs des Verstoßes gegen das Waffengesetz weiterhin dringender Tatverdacht gegeben; jedoch stehe insoweit die Fortdauer der Untersuchungshaft zu einer im Verurteilungsfalle zu erwartenden Strafe außer Verhältnis (§ 120 Abs. 1 Satz 1 Alternative 2 StPO).
Gegen die Aufhebung des Haftbefehls wendet sich der Generalbundesanwalt mit seiner Beschwerde vom 6. Oktober 2020, welcher das Oberlandesgericht nicht abgeholfen hat. Mit dem Rechtsmittel greift die Anklagebehörde die Beweiswürdigung des Oberlandesgerichts an. Insbesondere sei nicht hinreichend berücksichtigt, dass der Mitangeklagte seine Einlassung, auf die sich der Haftbefehl maßgeblich stützt, ohne Aktenkenntnis und frei von Belastungseifer in Richtung auf den Angeklagten getätigt habe. Auch fänden die Angaben des Mitangeklagten und der Zeugin zum objektiven Tatgeschehen teilweise Bestätigung in der übrigen Beweisaufnahme.
Die nach § 304 Abs. 4 Satz 2 Halbsatz 2 Nr. 1 StPO statthafte und auch im Übrigen zulässige (§ 306 Abs. 1 StPO) Beschwerde bleibt in der Sache ohne Erfolg.
1. Die Würdigung des Oberlandesgerichts, der dringende Tatverdacht der dem Angeklagten angelasteten Beihilfe zum Mord sei nach der bisherigen Durchführung der Hauptverhandlung entfallen, ist unter Berücksichtigung des insoweit durch das Beschwerdegericht anzulegenden Prüfungsmaßstabs nicht zu beanstanden.
a) Die Beurteilung des dringenden Tatverdachts, die das erkennende Gericht während laufender Hauptverhandlung vornimmt, unterliegt im Haftbeschwerdeverfahren in nur eingeschränktem Umfang der Nachprüfung durch das Beschwerdegericht. Allein das Gericht, vor dem die Beweisaufnahme stattfindet, ist in der Lage, deren Ergebnisse aus eigener Anschauung festzustellen und zu würdigen sowie auf dieser Grundlage zu bewerten, ob der dringende Tatverdacht nach dem erreichten Verfahrensstand noch fortbesteht oder weggefallen ist. Das Beschwerdegericht hat demgegenüber keine eigenen unmittelbaren Erkenntnisse über den Verlauf der Beweisaufnahme (vgl. BGH, Beschlüsse vom 19. Dezember 2003 - StB 21/03, BGHR StPO § 112 Tatverdacht 3; vom 21. September 2020 - StB 28/20, juris Rn. 16 mwN). Allerdings muss es auch im Fall der Aufhebung eines Haftbefehls in die Lage versetzt werden, seine Entscheidung über ein hiergegen gerichtetes Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft auf einer hinreichend tragfähigen tatsächlichen Grundlage zu treffen. Hieraus folgt indes nicht, dass das erkennende Gericht alle bislang erhobenen Beweise in der von ihm zu treffenden Entscheidung einer umfassenden Darstellung und Würdigung zu unterziehen hat. Seine abschließende Bewertung der Beweise und ihre entsprechende Darlegung ist den Urteilsgründen vorbehalten. Das Haftbeschwerdeverfahren führt insoweit nicht zu einem über die Nachprüfung des dringenden Tatverdachts hinausgehenden Zwischenverfahren, in dem sich das Tatgericht zu Inhalt und Ergebnis aller Beweiserhebungen erklären müsste (vgl. BGH, Beschluss vom 21. September 2020 - StB 28/20, juris Rn. 16 mwN).
Um dem Beschwerdegericht eine eigenverantwortliche Entscheidung zu ermöglichen, bedarf es daher einer - wenn auch knappen - Darstellung, ob und inwieweit sowie durch welche Beweismittel sich der zu Beginn der Beweisaufnahme vorliegende Verdacht bestätigt oder verändert hat und welche Beweisergebnisse gegebenenfalls noch zu erwarten sind (vgl. BGH, Beschluss vom 21. September 2020 - StB 28/20, juris Rn. 17 mwN). Das Beschwerdegericht beanstandet die Beurteilung des dringenden Tatverdachts, soweit die Würdigung des Erstgerichts offensichtliche Mängel aufweist, welche die Einschätzung der Verdachtslage als unvertretbar erscheinen lassen (vgl. BGH, Beschlüsse vom 19. Dezember 2003 - StB 21/03, BGHR StPO § 112 Tatverdacht 3; vom 21. September 2020 - StB 28/20, juris Rn. 17). Der Beschwerde vermag es indes nicht zum Erfolg zu verhelfen, wenn der Rechtsmittelführer die Ergebnisse der Beweisaufnahme abweichend bewertet (vgl. BGH, Beschlüsse vom 21. April 2016 - StB 5/16, juris Rn. 12; vom 26. Mai 2020 - StB 15/20, juris Rn. 12; vom 21. September 2020 - StB 28/20, juris Rn. 17).
b) Unter Beachtung der eingeschränkten Prüfungskompetenz des Beschwerdegerichts trägt die Würdigung des Oberlandesgerichts die Annahme, der dringende Tatverdacht der Beihilfe zum Mord liege nicht mehr vor. Die ausführlichen, in sich schlüssigen Darlegungen genügen den an die Nachvollziehbarkeit und Plausibilität zu stellenden Anforderungen. Sie sind nicht in dem Sinne mangelhaft, dass sie die Beurteilung der Verdachtslage als unvertretbar erscheinen ließen. Eine noch weitergehende Darstellung und Würdigung der Beweislage ist nicht erforderlich gewesen. Das Oberlandesgericht hat sich eingehend mit der Frage beschäftigt, warum der Tatverdacht nicht auf die Angaben des Mitangeklagten und der Zeugin gestützt werden kann und sich dabei mit der Glaubhaftigkeit von deren Angaben auseinandergesetzt. Nicht zuletzt unter Berücksichtigung dessen, dass eine detaillierte Analyse der Glaubhaftigkeit von Zeugenaussagen im Rahmen der Haftentscheidung nicht erforderlich ist (vgl. BGH, Beschluss vom 9. Februar 2017 - StB 2/17, juris Rn. 17; vom 21. September 2020 - StB 28/20, juris Rn. 17), genügt dies den dargestellten Anforderungen. Dies gilt umso mehr, als das Oberlandesgericht die weiteren Indizien in den Blick genommen und begründet hat, warum es den Angaben des Mitangeklagten zwar insofern Glauben schenkt, als er sich selbst belastet, nicht aber er andere einer Straftat bezichtigt.
Soweit sich die Beschwerde gegen die Schlussfolgerungen wendet, die das Oberlandesgericht aus den mitgeteilten Ergebnissen der Beweisaufnahme zum Tatverdacht gezogen hat, ersetzt sie im Wesentlichen lediglich die Bewertung des erkennenden Gerichts durch ihre eigene, zeigt jedoch keinen offensichtlichen Fehler in der Würdigung des Strafsenats auf, der es unvertretbar erscheinen lässt, den Tatverdacht gegen den Angeklagten im gegenwärtigen Verfahrensstand als nicht mehr dringend zu erachten. Insbesondere hat das Oberlandesgericht - anders als der Generalbundesanwalt meint - nicht verkannt, dass die Aussagen des Mitangeklagten und der Zeugin zum objektiven Geschehen - wie etwa zu gemeinsamen Schießübungen - teilweise Bestätigung in der übrigen Beweisaufnahme gefunden haben. Die Genese der Aussage des Mitangeklagten hat in der Gesamtabwägung überdies hinreichend Berücksichtigung gefunden.
2. Auch soweit das Oberlandesgericht auf die Einlassung des Mitangeklagten in der Hauptverhandlung, in der dieser abweichend zu seiner ursprünglichen polizeilichen Vernehmung behauptet hat, der Angeklagte sei bei der Tatausführung dabei gewesen, nicht den dringenden Tatverdacht der Mittäterschaft (§ 211 Abs. 1, Abs. 2, § 25 StGB) gestützt hat, ist diese Würdigung aus den vorstehenden Gründen plausibel und daher im Rahmen der Beschwerdeentscheidung nicht zu beanstanden.
3. Schließlich begegnet es keinen Bedenken, dass der Strafsenat hinsichtlich des verbleibenden Tatvorwurfs des Verstoßes gegen das Waffengesetz nach § 51 Abs. 1, § 1 Abs. 2 bis 4, § 2 Abs. 3 i.V.m. Anlage 2 Abschnitt 1 Nr. 1.2.1 WaffG davon ausgegangen ist, die Fortdauer der Untersuchungshaft stehe angesichts der im Verurteilungsfall zu erwartenden Strafe und der bisherigen Dauer der Vollstreckung der Untersuchungshaft von einem Jahr und drei Monaten außer Verhältnis (§ 120 Abs. 1 Satz 1 2. Variante StPO).
HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 1375
Bearbeiter: Christian Becker