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HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 723

Bearbeiter: Fabian Afshar/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, StB 22/24, Beschluss v. 23.04.2024, HRRS 2024 Nr. 723


BGH StB 22/24 - Beschluss vom 23. April 2024 (OLG Koblenz)

Beschwerde gegen die Aufhebung des Haftbefehls (Beurteilung des dringenden Tatverdachts durch das erkennende Gericht während laufender Hauptverhandlung; vorläufige Würdigung der Beweislage; Prüfungsumfang des Beschwerdegerichts).

§ 304 StPO; § 112 StPO

Entscheidungstenor

Die Beschwerde des Generalbundesanwalts gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Koblenz vom 8. März 2024 wird verworfen.

Die Staatskasse trägt die Kosten des Rechtsmittels und die notwendigen Auslagen des Angeklagten im Beschwerdeverfahren.

Gründe

I.

Der Angeklagte befand sich vom 6. Juni 2023 bis zum 8. März 2024 in Untersuchungshaft aufgrund Haftbefehls des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs vom 1. Juni 2023 (3 BGs 106/23).

Gegenstand dieses Haftbefehls ist der Vorwurf, der Angeklagte habe in der Zeit vom 18. auf den 19. September 1991 in S. vorsätzlich einem anderen zu dessen vorsätzlich begangener rechtswidriger Tat, nämlich einem heimtückisch und mit gemeingefährlichen Mitteln begangenen Mord und versuchten Mord in 20 tateinheitlichen Fällen, aus niedrigen Beweggründen Hilfe geleistet, strafbar gemäß § 211 Abs. 1 und 2, § 212 Abs. 1, §§ 22, 23 Abs. 1, § 27 Abs. 2, § 52 StGB. Der Angeklagte habe in der Nacht vom 18. auf den 19. September 1991 in einer Gaststätte in S. als Anführer der dortigen Skinhead-Szene vor dem Hintergrund damals stattfindender Brandanschläge einen anderweitig Verfolgten mit den Worten „hier müsste auch mal sowas brennen oder passieren“ dazu veranlasst, vor Ort ein Asylbewerberheim in Brand zu setzen.

Das Oberlandesgericht Koblenz, vor dem seit dem 27. Februar 2024 die Hauptverhandlung gegen den Angeklagten wegen des dem Haftbefehl zugrundeliegenden Vorwurfs geführt wird, hat den Haftbefehl durch Beschluss vom 8. März 2024 mit der Begründung aufgehoben, dass ein dringender Tatverdacht in Bezug auf die subjektive Tatseite unter Berücksichtigung der in der Hauptverhandlung erhobenen Beweise nicht mehr bestehe.

Der Generalbundesanwalt wendet sich gegen die Aufhebung des Haftbefehls mit seiner Beschwerde, der das Oberlandesgericht nicht abgeholfen hat.

II.

Die nach § 304 Abs. 4 Satz 2 Halbsatz 2 Nr. 1 StPO statthafte und auch im Übrigen zulässige (§ 306 Abs. 1 StPO) Beschwerde ist unbegründet.

1. Die Beurteilung des dringenden Tatverdachts, die das erkennende Gericht während laufender Hauptverhandlung vornimmt, unterliegt im Haftbeschwerdeverfahren in nur eingeschränktem Umfang der Nachprüfung durch das Beschwerdegericht. Allein das Gericht, vor dem die Beweisaufnahme stattfindet, ist in der Lage, deren Ergebnisse aus eigener Anschauung festzustellen und zu würdigen sowie auf dieser Grundlage zu bewerten, ob der dringende Tatverdacht nach dem erreichten Verfahrensstand noch fortbesteht oder weggefallen ist. Das Beschwerdegericht hat demgegenüber keine eigenen unmittelbaren Erkenntnisse über den Verlauf der Beweisaufnahme. Allerdings muss es auch im Fall der Aufhebung eines Haftbefehls in die Lage versetzt werden, seine Entscheidung über ein hiergegen gerichtetes Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft auf einer hinreichend tragfähigen tatsächlichen Grundlage zu treffen. Hieraus folgt indes nicht, dass das erkennende Gericht alle bislang erhobenen Beweise in der von ihm zu treffenden Entscheidung einer umfassenden Darstellung und Würdigung zu unterziehen hat. Seine abschließende Bewertung der Beweise und ihre entsprechende Darlegung ist den Urteilsgründen vorbehalten. Das Haftbeschwerdeverfahren führt insoweit nicht zu einem über die Nachprüfung des dringenden Tatverdachts hinausgehenden Zwischenverfahren, in dem sich das Tatgericht zu Inhalt und Ergebnis aller Beweiserhebungen erklären müsste.

Um dem Beschwerdegericht eine eigenverantwortliche Entscheidung zu ermöglichen, bedarf es daher einer - wenn auch knappen - Darstellung, ob und inwieweit sowie durch welche Beweismittel sich der zu Beginn der Beweisaufnahme vorliegende Verdacht bestätigt oder verändert hat und welche Beweisergebnisse gegebenenfalls noch zu erwarten sind. Das Beschwerdegericht beanstandet die Beurteilung des dringenden Tatverdachts, soweit die Würdigung des Erstgerichts offensichtliche Mängel aufweist, welche die Einschätzung der Verdachtslage als unvertretbar erscheinen lassen. Der Beschwerde vermag es indes nicht zum Erfolg zu verhelfen, wenn der Rechtsmittelführer die Ergebnisse der Beweisaufnahme abweichend bewertet (s. insgesamt BGH, Beschluss vom 29. Oktober 2020 - StB 38/20, juris Rn. 12 mwN).

2. Daran gemessen ist die vorläufige Beweiswürdigung des Oberlandesgerichts hinzunehmen.

a) Das Oberlandesgericht hat in den Gründen des angefochtenen Beschlusses näher dargelegt, dass nach dem seinerzeitigen Stand der Beweisaufnahme auch unter Berücksichtigung der weiteren Indizien die subjektive Tatseite im Sinne eines dringenden Tatverdachts nicht nachzuweisen sei. Dabei hat es im Wesentlichen darauf abgestellt, dass der für den zur Last gelegten Gesprächsverlauf maßgeblich herangezogene Zeuge ausgesagt habe, in früheren Vernehmungen lediglich eine Äußerung des Angeklagten bekundet zu haben, nach der „hier auch mal was passieren“ müsse. Der Zeuge habe dies nicht als Veranlassung eines nächtlichen Brandanschlags verstanden, zumal die Mitglieder der S. er Szene noch keine Information darüber hätten haben können, dass am selben Tag in H. Brandflaschen gegen eine Vertragsarbeiterunterkunft eingesetzt worden seien. Gegen einen bedingten Vorsatz des Angeklagten spreche dessen von Sorge vor falscher Verdächtigung geprägtes Verhalten nach der Tat gegenüber seinen Freunden. Zudem habe der Zeuge die Ausführungen des Angeklagten auf eine offene „Randale“ durch eine Gruppe vor dem Asylbewerberheim bezogen.

b) Diese Darlegungen des Oberlandesgerichts genügen nach dem hier zu beachtenden Maßstab im Ergebnis noch den zuvor aufgezeigten Anforderungen. Dies gilt, obwohl eine andere Wertung der Beweismittel ebenfalls möglich erscheint und nicht sämtliche für die Würdigung bedeutsamen Gesichtspunkte in dem angefochtenen Beschluss Erwähnung finden.

So ist zur Beurteilung der vom Angeklagten nach Aktenlage eingeräumten, zur Tatzeit bestehenden „Pogromstimmung“ nicht allein auf eine Kenntnis von Brandanschlägen in H. abzustellen, sondern auch die Vielzahl weiterer ähnlicher vorangegangener Vorfälle in den Blick zu nehmen. Zudem können sich aus dem Verhältnis des Angeklagten zu dem gesondert verfolgten Haupttäter sowie aus dem situativen Zusammenhang Rückschlüsse ziehen lassen. Beispielsweise seien nach verschriftlichten Aussagen aus dem Ermittlungsverfahren „Aktionen“ grundsätzlich nicht ohne Kenntnis des Angeklagten durchgeführt worden und habe es sich bei dem gesondert Verfolgten um einen seiner besten Freunde oder gar seinen besten Freund gehandelt. Ferner erschließt sich nicht ohne Weiteres, dass eine am Tag nach dem Brandanschlag gezeigte Furcht vor Strafverfolgung als Indiz für eine fehlende Beteiligung gewertet wird, da auch ein an der Tat Beteiligter verständlicherweise Ermittlungen befürchten kann. Im Übrigen ist nicht allein auf das vom Zeugen erklärte eigene Verständnis bekundeter Äußerungen des Angeklagten abzustellen, sondern eine Gesamtbetrachtung geboten. Für die Entscheidung über die Haftbeschwerde ist allerdings maßgebend, dass die abschließende Würdigung dem Urteil vorbehalten bleibt und das Tatgericht, wie dargetan, während laufender Hauptverhandlung im Rahmen der Haftentscheidung nicht verpflichtet ist, die Beweislage umfassend aufzuzeigen.

c) Schließlich kommt es für die hiesige Entscheidung im Ergebnis nicht darauf an, dass das maßgeblich auf einen fehlenden Vorsatz des Angeklagten abstellende Oberlandesgericht eine etwaige Strafbarkeit wegen fahrlässiger Begehung nicht erwogen hat; denn aus einer solchen ergäbe sich unter den konkreten Umständen ersichtlich kein Haftgrund (§ 112 Abs. 1 Satz 1 StPO).

HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 723

Bearbeiter: Fabian Afshar/Karsten Gaede