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HRRS-Nummer: HRRS 2025 Nr. 542

Bearbeiter: Felix Fischer/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 457/24, Beschluss v. 22.10.2024, HRRS 2025 Nr. 542


BGH 2 StR 457/24 - Beschluss vom 22. Oktober 2024 (LG Hanau)

Strafzumessung (minder schwerem Fall: gesetzlich vertypter Milderungsgrund, Unterlassen, Versuch, minder schwerer Fall des Totschlags); Schuldspruch (Bezeichnung der Tat: Unterlassen, gleichartige Tateinheit).

§ 13 Abs. 2 StGB; § 23 Abs. 2 StGB; § 49 StGB; § 213 StGB; § 260 StPO

Leitsätze des Bearbeiters

1. Sieht das Gesetz einen besonderen Strafrahmen für minder schwere Fälle vor und ist auch ein gesetzlich vertypter Milderungsgrund gegeben, muss bei der Strafrahmenwahl im Rahmen einer Gesamtwürdigung zunächst geprüft werden, ob die allgemeinen Milderungsgründe die Annahme eines minder schweren Falls tragen. Ist nach einer Abwägung aller allgemeinen Strafzumessungsumstände das Vorliegen eines minder schweren Falls abzulehnen, so sind zusätzlich die den gesetzlich vertypten Strafmilderungsgrund verwirklichenden Umstände in die gebotene Gesamtabwägung einzubeziehen. Erst wenn der Tatrichter die Anwendung des milderen Strafrahmens danach weiterhin nicht für gerechtfertigt hält, darf er seiner konkreten Strafzumessung den (allein) wegen des gegebenen gesetzlich vertypten Milderungsgrundes gemilderten Regelstrafrahmen zugrunde legen.

2. Zur Bezeichnung der Tat gemäß § 260 Abs. 4 Satz 2 StPO gehört als Strafzumessungsregel nicht die Handlungsform des Unterlassens.

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Hanau vom 19. April 2024

a) im Schuldspruch dahin geändert, dass der Angeklagte des versuchten Totschlags in Tateinheit mit fahrlässiger Körperverletzung, unerlaubtem Besitz einer halbautomatischen Kurzwaffe, unerlaubtem Besitz von Munition und unerlaubtem Führen einer halbautomatischen Kurzwaffe schuldig ist,

b) im Strafausspruch und im Ausspruch über den Vorwegvollzug von Freiheitsstrafe aufgehoben.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels und die dem Nebenkläger im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen, an eine andere als Schwurgericht zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

2. Die weitergehende Revision wird verworfen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen „versuchten Totschlages durch Unterlassen tateinheitlich mit fahrlässiger Körperverletzung tateinheitlich mit dem unerlaubten Besitz einer halbautomatischen Kurzwaffe in zwei tateinheitlichen Fällen tateinheitlich mit zwei tateinheitlichen Fällen des unerlaubten Besitzes von Munition tateinheitlich mit dem unerlaubten Führen einer halbautomatischen Kurzwaffe“ zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren und zwei Monaten verurteilt, seine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt unter Bestimmung eines Teilvorwegvollzugs der Strafe angeordnet sowie Einziehungsentscheidungen getroffen. Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützten Revision. Das Rechtsmittel hat den aus der Beschlussformel ersichtlichen Teilerfolg; im Übrigen ist es unbegründet.

1. Der Schuldspruch ist zu berichtigen. Zur Bezeichnung der Tat gemäß § 260 Abs. 4 Satz 2 StPO gehört als Strafzumessungsregel nicht die Handlungsform des Unterlassens (vgl. auch BGH, Urteil vom 14. März 2007 - 5 StR 461/06, Rn. 25 f.; Beschluss vom 12. Oktober 1977 - 2 StR 410/77, BGHSt 27, 287, 289). Mit Blick auf die Klarheit und Verständlichkeit des Schuldspruchs ist es zudem entbehrlich, gleichartige Tateinheit in die Entscheidungsformel aufzunehmen (s. BGH, Urteil vom 28. Januar 2021 - 3 StR 564/19, BGHSt 65, 286, 313 Rn. 84 mwN).

2. Der Strafausspruch kann nicht bestehen bleiben. Für die Bemessung der Freiheitsstrafe von sechs Jahren und zwei Monaten hat die Strafkammer den wegen Versuchs und Unterlassens doppelt gemilderten Strafrahmen des § 212 Abs. 1 StGB zugrunde gelegt. Einen sonstigen minder schweren Fall des Totschlags gemäß § 213 Alt. 2 StGB hat das Landgericht allein unter dem Gesichtspunkt der Versuchsstrafbarkeit geprüft und abgelehnt. Dies erweist sich als rechtsfehlerhaft.

Sieht das Gesetz einen besonderen Strafrahmen für minder schwere Fälle vor und ist auch ein gesetzlich vertypter Milderungsgrund gegeben, muss bei der Strafrahmenwahl im Rahmen einer Gesamtwürdigung zunächst geprüft werden, ob die allgemeinen Milderungsgründe die Annahme eines minder schweren Falls tragen. Ist nach einer Abwägung aller allgemeinen Strafzumessungsumstände das Vorliegen eines minder schweren Falls abzulehnen, so sind zusätzlich die den gesetzlich vertypten Strafmilderungsgrund verwirklichenden Umstände in die gebotene Gesamtabwägung einzubeziehen. Erst wenn der Tatrichter die Anwendung des milderen Strafrahmens danach weiterhin nicht für gerechtfertigt hält, darf er seiner konkreten Strafzumessung den (allein) wegen des gegebenen gesetzlich vertypten Milderungsgrundes gemilderten Regelstrafrahmen zugrunde legen (st. Rspr.; vgl. etwa BGH, Beschlüsse vom 13. Oktober 2016 - 3 StR 248/16, Rn. 5; vom 7. März 2017 - 2 StR 567/16, Rn. 6; vom 4. April 2017 - 3 StR 516/16, NStZ 2017, 524, und vom 11. September 2019 - 5 StR 386/19, jeweils mwN). Bei Vorliegen eines zweiten gesetzlich vertypten Milderungsgrundes ist entsprechend zu verfahren (vgl. BGH, Beschluss vom 26. Februar 2019 - 1 StR 14/19, NStZ 2019, 472 Rn. 8).

Da die Strafkammer die Freiheitsstrafe hier auf sechs Jahre und zwei Monate und damit erkennbar oberhalb der Hälfte des - auf sechs Monate bis acht Jahre und fünf Monate bestimmten - doppelt gemilderten Strafrahmens des § 212 Abs. 1 StGB festgesetzt hat, kann nicht ausgeschlossen werden, dass sie unter Beachtung der genannten Prüfungsreihenfolge zu einem dem Angeklagten günstigeren Strafrahmen gelangt und in dessen Rahmen eine mildere Freiheitsstrafe bestimmt hätte, wenn sie einen minder schweren Fall gemäß § 213 Alt. 2 StGB unter Einbeziehung des vertypten Milderungsgrundes des § 13 Abs. 2 StGB angenommen und wegen des vertypten Milderungsgrundes gemäß § 23 Abs. 2, § 49 Abs. 1 StGB eine weitere Strafrahmenverschiebung vorgenommen hätte (vgl. BGH, Beschluss vom 24. Oktober 2017 - 1 StR 393/17, Rn. 16).

Die dem Strafausspruch zu Grunde liegenden Feststellungen sind rechtsfehlerfrei getroffen, weshalb sie aufrechterhalten bleiben können. Das zu neuer Verhandlung und Entscheidung berufene Tatgericht wäre nicht gehindert, ergänzende Feststellungen zu treffen, die den bisherigen nicht widersprechen.

3. Die Aufhebung des Strafausspruchs entzieht dem Ausspruch über den Vorwegvollzug (§§ 64, 67 Abs. 2 Satz 2 und 3 StGB) die Grundlage.

HRRS-Nummer: HRRS 2025 Nr. 542

Bearbeiter: Felix Fischer/Karsten Gaede