hrr-strafrecht.de - Rechtsprechungsübersicht


HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 154

Bearbeiter: Fabian Afshar

Zitiervorschlag: BGH, StB 81/23, Beschluss v. 12.01.2024, HRRS 2024 Nr. 154


BGH StB 81/23 - Beschluss vom 12. Januar 2024 (OLG Düsseldorf)

Untersuchungshaft (Haftbeschwerde; dringender Tatverdacht; Fluchtgefahr bei Krebserkrankung; Haftgrund der Schwerkriminalität; Verhältnismäßigkeit unter Berücksichtigung der ärztlichen Versorgung); mitgliedschaftlichen Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung im Ausland.

§ 112 StPO; § 116 Abs. 1 Satz 1 StPO; § 304 StPO; § 129a StGB; § 129b StGB

Entscheidungstenor

1. Die Beschwerde des Angeklagten gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 12. Dezember 2023 wird verworfen.

2. Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels zu tragen.

Gründe

I.

Der Angeklagte ist am 18. Mai 2022 aufgrund Haftbefehls des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs vom 12. Mai 2022 festgenommen worden und befindet sich seither ununterbrochen in Untersuchungshaft. Gegenstand des Haftbefehls ist der Vorwurf, der Angeklagte habe sich spätestens seit September 2015 an verschiedenen Orten der Bundesrepublik Deutschland, insbesondere in A., F., M., N., S., St. und U., als Mitglied an einer Vereinigung im Ausland (Devrimci Halk Kurtulus Partisi-Cephesi - DHKPC) beteiligt, deren Zwecke oder Tätigkeit darauf gerichtet gewesen seien, Mord (§ 211 StGB) oder Totschlag (§ 212 StGB) zu begehen, strafbar gemäß § 129a Abs. 1 Nr. 1, § 129b Abs. 1 Satz 1 und 2 StGB.

Mit Beschlüssen vom 15. Dezember 2022 (AK 45-47/23, juris) und 5. April 2023 (AK 14-16/23, juris) hat der Senat die Haftfortdauer über sechs sowie über neun Monate hinaus angeordnet. Nachdem der Generalbundesanwalt gegen den Angeklagten und zwei Mitangeklagte die Anklage zum Oberlandesgericht erhoben hatte, hat dieses anlässlich der Eröffnung des Hauptverfahrens am 1. Juni 2023 ebenfalls die Haftfortdauer beschlossen. Seit dem 14. Juni 2023 findet die Hauptverhandlung statt.

Aufgrund Haftprüfungsantrages des Angeklagten hat das Oberlandesgericht mit Beschluss vom 12. Dezember 2023 erneut entschieden, dass die gegen den Angeklagten angeordnete Untersuchungshaft fortdauert und weiter vollzogen wird. Dagegen wendet er sich mit seiner Beschwerde. Er macht geltend, jedenfalls wegen des bei ihm am 7. September 2023 festgestellten Prostatakrebses bestünde weder der Haftgrund der Fluchtgefahr noch derjenige der Schwerkriminalität; überdies sei der weitere Vollzug im Hinblick auf eine bestehende beziehungsweise zu erwartende Haftunfähigkeit unverhältnismäßig.

Mit Beschluss vom 21. Dezember 2023 hat das Oberlandesgericht dem Rechtsmittel nicht abgeholfen. Der Beschwerdeführer hat sein Vorbringen mit Verteidigerschriftsatz vom 10. Januar 2024 ergänzt.

II.

Die Beschwerde des Angeklagten hat in der Sache keinen Erfolg.

1. Der Angeklagte ist der ihm im vollstreckten Haftbefehl angelasteten Tat weiterhin dringend verdächtig. Auf die früheren Haftprüfungsentscheidungen des Senats und den dort in Bezug genommenen Inhalt der Anklageschrift wird verwiesen. In den Gründen des angefochtenen Beschlusses hat das Oberlandesgericht dargelegt, der dringende Tatverdacht sei durch die bisherige Beweisaufnahme erhärtet worden und werde durch die vorgesehene Erhebung weiteren Urkundenbeweises voraussichtlich noch verfestigt werden. Die Erklärungen des Angeklagten in der Hauptverhandlung hat es dahin gewürdigt, dass sie nicht zur Erschütterung des Vorwurfs, sondern allenfalls zu dessen indizieller Bestätigung geeignet seien. Die Ausführungen des Oberlandesgerichts genügen den rechtlichen Maßstäben, die für die im Haftbeschwerdeverfahren vorzunehmende Überprüfung des dringenden Tatverdachts während laufender Hauptverhandlung gelten (st. Rspr.; vgl. etwa BGH, Beschluss vom 21. September 2020 - StB 28/20, BGHR StPO § 112 Tatverdacht 5 Rn. 16 f. mwN). Der Angeklagte hat diesbezüglich auch keine Beanstandungen erhoben.

2. Die Haftgründe der Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO) und der Schwerkriminalität (§ 112 Abs. 3 StPO) bestehen fort.

a) Fluchtgefahr ist gegeben, weil die Würdigung sämtlicher Umstände es weiterhin wahrscheinlicher macht, dass sich der Angeklagte, auf freien Fuß gelangt, dem Verfahren entzöge, als dass er sich ihm zur Verfügung stellte.

Von der konkreten Straferwartung geht weiterhin ein erheblicher Fluchtanreiz aus. Wenngleich dieser Anreiz mit zunehmender Dauer des im Fall der rechtskräftigen Verurteilung anzurechnenden - nunmehr länger als ein Jahr und sieben Monate währenden - Untersuchungshaftvollzugs geringer wird (zur sog. Nettostraferwartung s. BGH, Beschluss vom 2. November 2016 - StB 35/16, juris Rn. 9 mwN), ist die im angefochtenen Beschluss inzident getroffene tatrichterliche Prognose nicht zu beanstanden, dass der Angeklagte noch mit einer zu vollstreckenden Freiheitsstrafe zu rechnen hat, die ihn empfindlich trifft. Hinzu kommen die übrigen im Senatsbeschluss vom 15. Dezember 2022 (AK 45-47/22, juris Rn. 29) genannten fluchtbegünstigenden Umstände.

Hinreichende fluchthemmende Faktoren stehen dem noch immer nicht entgegen. Das gilt auch für die beim Angeklagten diagnostizierte Krebserkrankung. Ausweislich des Berichts der Uniklinik K. vom 7. September 2023 ist an diesem Tag bei ihm mittels einer Biopsie ein „low risk Prostatakarzinom“ nachgewiesen worden; hiernach besteht lediglich ein geringes Progressionsrisiko (örtlich begrenztes Karzinom, das mit großer Wahrscheinlichkeit entweder gar nicht oder nur sehr langsam wächst). Ärztlicherseits wird als Therapieoption derzeit eine aktive Überwachung („active surveillance“) mit regelmäßigen, zunächst vierteljährlichen Untersuchungs- und Kontrollterminen empfohlen. Der ärztliche Dienst der Justizvollzugsanstalt hat am 20. November 2023 dahin Stellung genommen, dass der Angeklagte dementsprechend nicht akut gesundheitsgefährdet ist. Dabei ist der - vom Beschwerdeführer zuletzt mitgeteilte - Laborbericht vom 9. November 2023 bekannt gewesen, der eine Erhöhung des PSA-Werts seit dem 7. September 2023 um 24% ausweist. Dem handschriftlichen Vermerk auf diesem Dokument zufolge sind die Laborwerte mit dem „Chefarzt“ besprochen worden; sie haben demnach keinen Anlass zu einer abweichenden Beurteilung gegeben.

Zu Recht hat das Oberlandesgericht diese Befunde nicht als Umstand gewertet, der die Gefahr beseitigt, dass sich der Angeklagte im Fall seiner Freilassung dem weiteren Erkenntnis- oder Vollstreckungsverfahren entzöge. Für ein solches Sichentziehen genügt bereits jedes aktive Verhalten, das den Erfolg hat, dass der Fortgang des Strafverfahrens wenigstens vorübergehend durch Aufhebung der Bereitschaft verhindert wird, für Ladungen und Vollstreckungsmaßnahmen zur Verfügung zu stehen (s. BGH, Beschlüsse vom 8. Mai 2014 - 1 StR 726/13, NJW 2014, 2372 Rn. 15; vom 10. August 2017 - AK 33/17, juris Rn. 38; vom 20. April 2022 - StB 15/22, juris Rn. 13; BeckOK StPO/Krauß, 49. Ed., § 112 Rn. 24 mwN).

Das Beschwerdevorbringen, der Angeklagte habe sich - der Empfehlung der Uniklinik K. zuwider - für eine „operative Therapieoption“ entschieden, rechtfertigt keine andere Bewertung. Es bietet keine hinreichende Gewähr dafür, dass der Angeklagte sich im Fall seiner Freilassung tatsächlich einer radikalen Prostatektomie unterzieht und es, gegebenenfalls auch im Anschluss an den operativen Eingriff, unterlässt, unterzutauchen oder sich sonst der Beteiligung am Strafverfahren zu verweigern.

Nach alledem kann dahinstehen, ob es eine die Fluchtgefahr verstärkende Bedeutung haben könnte, dass sich der Angeklagte durch einen nunmehr begonnenen Hungerstreik möglicherweise bewusst in einen Zustand der Verhandlungsunfähigkeit versetzt (vgl. dazu BGH, Beschluss vom 30. März 2017 - AK 18/17, juris Rn. 23; BeckOK StPO/Krauß, 49. Ed., § 112 Rn. 24, jew. mwN).

b) Darüber hinaus liegen die Voraussetzungen des § 112 Abs. 3 StPO auch bei dessen gebotener restriktiver Auslegung vor. Denn hierfür kann bereits die zwar nicht mit bestimmten Tatsachen belegbare, aber nach den Umständen des Falls doch nicht auszuschließende Fluchtgefahr genügen. Ausreichend, aber auch erforderlich ist die Feststellung, dass ein verhältnismäßig geringes oder entferntes Risiko dieser Art besteht. Nur wenn nach den Umständen des Einzelfalls - anders als hier - gewichtige Gründe gegen jede Fluchtgefahr sprechen, ist nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit von einem auf § 112 Abs. 3 StPO gestützten Haftbefehl abzusehen (vgl. BGH, Beschluss vom 20. April 2022 - StB 15/22, juris Rn. 12 mwN).

3. Eine - bei verfassungskonformer Auslegung auch im Rahmen des § 112 Abs. 3 StPO mögliche - Außervollzugsetzung des Haftbefehls (§ 116 StPO analog) ist nicht erfolgversprechend. Unter den genannten Umständen kann der Zweck der Untersuchungshaft nicht durch weniger einschneidende Maßnahmen als ihren Vollzug erreicht werden. Wie sich aus der Generalklausel des § 116 Abs. 4 Nr. 2 Variante 3 StPO für die Wiederinvollzugsetzung eines Haftbefehls ergibt, setzt dessen Außervollzugsetzung voraus, dass in den Beschuldigten Vertrauen gesetzt werden kann; hierfür bedarf es einer Tatsachenbasis (vgl. BGH, Beschlüsse vom 30. März 2017 - AK 18/17, juris Rn. 26; vom 10. August 2017 - AK 33/17, juris Rn. 39; ferner LR/Lind, StPO, 27. Aufl., § 116 Rn. 50; MüKoStPO/Böhm, 2. Aufl., § 116 Rn. 56). Für eine solche Vertrauensgrundlage in der Person des Angeklagten fehlen zureichende tatsächliche Anhaltspunkte.

4. Der weitere Vollzug der Untersuchungshaft steht nicht außer Verhältnis zur Bedeutung der Sache und der im Fall einer Verurteilung zu erwartenden Strafe (§ 120 Abs. 1 Satz 1 StPO).

a) Seit der letzten Haftentscheidung des Senats am 5. April 2023 (AK 14-16/23, juris) ist das Strafverfahren in einer Weise gefördert worden, die dem Anspruch des inhaftierten Angeklagten auf ein Urteil innerhalb angemessener Frist (Art. 5 Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 2 EMRK) genügt. Insoweit wird auf die Ausführungen im angefochtenen Beschluss verwiesen. Mit seiner Beschwerde macht der Angeklagte auch keine Verletzung des Beschleunigungsgrundsatzes geltend.

b) Die Untersuchungshaft erweist sich ebenso wenig mit Blick auf den Gesundheitszustand des Angeklagten als unverhältnismäßig. Vorrangig ist Gesundheitsgefahren im Rahmen der Untersuchungshaft zu begegnen (s. BGH, Beschluss vom 30. März 2017 - AK 18/17, juris Rn. 30).

aa) Die vom Angeklagten gewünschte radikale Prostatektomie kann aus dem Untersuchungshaftvollzug heraus gewährleistet werden. Zwar ist nach der Stellungnahme des ärztlichen Dienstes der Justizvollzugsanstalt vom 20. November 2023 die Operation außerhalb des Justizvollzugskrankenhauses („extramural“) durchzuführen; der „damit verbundene Aufwand“ sei jedoch „im Rahmen des Justizvollzugs in aller Regel leistbar“. So hat am 6. Oktober 2023 zur Besprechung der Befunde und der weiteren Behandlungsmöglichkeiten eine einstündige Telefonkonferenz stattgefunden, an der neben dem Angeklagten und seiner Lebensgefährtin die zuständige Ärztin der Uniklinik K., die Anstaltsärztin der Justizvollzugsanstalt sowie ein Dolmetscher teilgenommen haben.

Soweit der Beschwerdeführer vorgetragen hat, ein Verteidiger habe am 8. Januar 2024 Kontakt zu einer Klinik in H. aufgenommen, ist darauf hinzuweisen, dass der Angeklagte nicht das Krankenhaus frei wählen kann, in dem die Operation durchgeführt wird. Weder in den Vorschriften der § 45 Abs. 1, § 46 Abs. 2 StVollzG NRW i.V.m. § 24 Abs. 1 UVollzG NRW, welche die medizinische Behandlung des Untersuchungsgefangenen in einem Krankenhaus außerhalb des Vollzugs regeln, noch sonst ist ein solches Recht vorgesehen. So normiert § 23 Abs. 3 UVollzG NRW lediglich die Einholung ärztlichen Rates (zu § 114b Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 StPO vgl. BeckOK StPO/Krauß, 49. Ed., § 114b Rn. 12; LR/Lind, StPO, 27. Aufl., § 114b Rn. 19 mwN).

bb) Die mit der Beschwerde geäußerte Besorgnis des Angeklagten, künftig sei eine adäquate Behandlung seiner Erkrankung, auch in Form des erstrebten operativen Eingriffs, im Rahmen der Untersuchungshaft nicht gewährleistet, ist aus verständiger Sicht nicht gerechtfertigt. Nach anfänglichen Verzögerungen, die in der Stellungnahme des ärztlichen Dienstes der Justizvollzugsanstalt vom 10. August 2023 offengelegt worden sind, sind weitere dem Justizvollzug anzulastende Versäumnisse oder Erschwernisse nicht mehr aufgetreten. Vielmehr hatte der Angeklagte selbst zu den Verzögerungen beigetragen, indem er einen früheren im Juli 2023 angesetzten Termin in der Uniklinik K. zur Vornahme einer Biopsie unter Berufung auf die angeordnete Fesselung abgelehnt hatte. Die Justizvollzugsanstalt hat sodann auf den aus anstaltsärztlicher Sicht nicht mehr zu verantwortenden Zeitverzug hingewiesen.

cc) Wegen weiterer Einzelheiten wird auf den angefochtenen Beschluss und den Nichtabhilfebeschluss Bezug genommen. Das Beschwerdevorbringen zu massiver Lebens- und irreparabler schwerer Gesundheitsgefahr, die nicht anders als durch die Beendigung des Untersuchungshaftvollzugs abwendbar seien, findet eine tatsächliche Stütze weder in den ärztlichen Befunden noch in anderen Aktenbestandteilen.

HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 154

Bearbeiter: Fabian Afshar