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HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 149

Bearbeiter: Fabian Afshar

Zitiervorschlag: BGH, StB 70/23, Beschluss v. 13.12.2023, HRRS 2024 Nr. 149


BGH StB 70/23 - Beschluss vom 13. Dezember 2023 (OLG Frankfurt am Main)

Sofortige Beschwerde gegen Ablehnung der Reststrafaussetzung und Festsetzung einer Mindestverbüßungsdauer (vollstreckungsrechtliche Gesamtwürdigung unter Berücksichtigung der Tatschuld und der Persönlichkeit des Verurteilten).

§ 57a Abs. 1 StGB; § 304 Abs. 4 Satz 2 Hs. 2 Nr. 5 Var. 5 StPO; § 454 Abs. 3 Satz 1 StPO

Entscheidungstenor

1. Die sofortige Beschwerde des Verurteilten gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 20. Oktober 2023 wird verworfen.

2. Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels zu tragen.

Gründe

I.

Das Oberlandesgericht hat den Verurteilten am 29. Dezember 2015 des Völkermordes schuldig gesprochen, ihn mit einer lebenslangen Freiheitsstrafe belegt, die besondere Schwere seiner Schuld festgestellt und angeordnet, dass ein Jahr der Strafe wegen überlanger Verfahrensdauer als vollstreckt gilt. Das Urteil ist seit dem 27. Juli 2016 rechtskräftig. Nach den getroffenen Feststellungen beteiligte sich der Verurteilte, welcher der Volksgruppe der Hutu angehört, in seiner Funktion als Bürgermeister einer etwa 65.000 Einwohner zählenden ruandischen Gemeinde an dem sog. Kirchenmassaker von Kiziguro (Ruanda). Am 11. April 1994 wurden dort mindestens 400 Angehörige der Volksgruppe der Tutsi, die auf einem Kirchengelände Zuflucht gesucht hatten, unter grausamen Umständen ermordet. Gemeinsam mit anderen ruandischen Autoritätspersonen hatte der Verurteilte die Tötungen angeordnet und befehligte sie. Er machte sich das Ziel der anderen zu eigen, zumindest die in Ruanda lebenden Tutsi auszurotten.

Vom 25. März bis zum 6. November 2008 befand sich der Verurteilte für die vorliegende Sache in Auslieferungshaft. Vom 22. Dezember 2008 bis zum 14. Mai 2009 sowie vom 26. Juli 2010 bis zur Rechtskraft des Urteils wurde gegen ihn Untersuchungshaft vollzogen. Aufgrund seither andauernden Strafvollzuges hat er am 19. August 2023 15 Jahre Freiheitsstrafe verbüßt.

Das Oberlandesgericht hat zur Gefährlichkeit des Verurteilten ein psychiatrisches Gutachten eingeholt. Nach Anhörung des Verurteilten hat es mit dem angefochtenen Beschluss seinen Antrag abgelehnt, die Vollstreckung des Strafrestes zur Bewährung auszusetzen, und eine Mindestverbüßungsdauer von 20 Jahren festgesetzt. Dagegen wendet er sich mit seiner sofortigen Beschwerde.

II.

Die sofortige Beschwerde ist nach § 454 Abs. 3 Satz 1, § 304 Abs. 4 Satz 2 Halbsatz 2 Nr. 5 Variante 5 StPO insgesamt statthaft. Im Sinne dieser Variante ist „die Aussetzung des Strafrestes“ nicht nur durch deren Ablehnung, sondern ebenso durch die - hiermit verbundene - Festsetzung einer Mindestverbüßungsdauer betroffen (vgl. BGH, Beschluss vom 14. Mai 1993 - StB 10/93, BGHR StGB § 57a Abs. 1 Schuldschwere 13). Das auch im Übrigen zulässige (§ 306 Abs. 1, § 311 Abs. 1 und 2 StPO) Rechtsmittel ist aber unbegründet.

1. Das Oberlandesgericht hat über die Reststrafaussetzung und die Mindestverbüßungsdauer unter Zugrundelegung der vom Bundesverfassungsgericht entwickelten rechtlichen Maßstäbe (s. BVerfG, Beschlüsse vom 3. Juni 1992 - 2 BvR 1041/88, BVerfGE 86, 288; vom 22. Mai 1995 - 2 BvR 671/95, NStZ 1996, 53; ferner MüKoStGB/Groß/Kett-Straub, 4. Aufl., § 57a Rn. 19 f. mwN) entschieden. Danach hat es eine vollstreckungsrechtliche Gesamtwürdigung vorgenommen. Es ist von den in den Urteilsgründen zur Begründung der besonderen Schuldschwere herangezogenen Umständen ausgegangen. Anschließend hat es erwogen, ob die der bloßen Tatschuld angemessene Verbüßungsdauer durch besondere während des Vollzugs hervorgetretene Umstände so weit ausgeglichen worden ist, dass kein weiteres Strafvollstreckungsbedürfnis mehr besteht.

Auf dieser Grundlage hat das Oberlandesgericht die Wertung getroffen, dass bereits die Schwere der abgeurteilten Tat eine weitere Vollstreckung gebietet. Nach den Urteilsfeststellungen handele es sich um das Anordnen und Befehligen einer über viele Stunden andauernden, brutalen‚ mit besonderen Qualen verbundenen, unbarmherzigen, konsequenten und auf Effizienz ausgerichteten Massentötung, bei welcher Verwaltungsstrukturen und Obrigkeitsdenken ausgenutzt und in die eine Vielzahl von weiteren Personen verstrickt wurden. Darüber hinaus hat das Oberlandesgericht eine seit der Urteilsverkündung eingetretene positive Persönlichkeitsentwicklung des Verurteilten, die das Strafvollstreckungsbedürfnis maßgeblich mindert, nicht zu erkennen vermocht. Er habe die Tat nicht im Sinne eines Schuldeingeständnisses aufgearbeitet; es fehle an ernsthafter Reue. Bis heute sei er in den Denkmustern der Tat und seiner rassistischen Gesinnung mit einem Freund-Feind-Schema verhaftet. Gegenüber der Volksgruppe der Tutsi werde eine fest verankerte feindliche Haltung deutlich.

Aufgrund der Gesamtwürdigung, in die das Oberlandesgericht weitere Umstände einbezogen hat, etwa das fortgeschrittene Alter und das beanstandungsfreie Vollzugsverhalten des Verurteilten sowie den großen zeitlichen Abstand zur Tat, ist es zu der Überzeugung gelangt, eine Mindestverbüßungsdauer von 20 Jahren sei angemessen.

2. Der Senat tritt dieser Würdigung und deren Ergebnis bei.

Nicht nur die Tatschuld erweist sich - was die sofortige Beschwerde nicht in Abrede stellt - als außerordentlich schwer. Auch die Beurteilung der Persönlichkeit des Verurteilten legt keine Tatsachen offen, aufgrund derer eine - vom Vorliegen der weiteren Voraussetzungen abhängige (§ 57a Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 StGB) - Haftentlassung zu einem früheren Zeitpunkt angemessen wäre. Entgegen dem Beschwerdevorbringen ist hinreichend belegt, dass der Verurteilte weiterhin in den Denkmustern der Tat verhaftet ist, eine rassistische Gesinnung hat und eine feindliche Haltung gegenüber der Volksgruppe der Tutsi einnimmt. Dies ergibt sich aus den schriftlichen Angaben des psychologischen Dienstes der Justizvollzugsanstalt und des psychiatrischen Sachverständigen, die auf Erklärungen des Verurteilten beruhen, sowie aus den Erkenntnissen, die das Oberlandesgericht nachvollziehbar im Anhörungstermin gewonnen hat (zur besonderen Bedeutung dieses eigenen Eindrucks vgl. BGH, Beschluss vom 3. September 2020 - StB 26/20, juris Rn. 5 mwN). Als bloße „Missverständnisse“ sind die sich wechselseitig bestätigenden Wahrnehmungen verschiedener Personen nicht erklärlich.

Ohne Erfolg macht die Beschwerde geltend, in dem angefochtenen Beschluss werde unzutreffend davon ausgegangen, dass der Verurteilte mit hoher Wahrscheinlichkeit nach Ruanda abgeschoben werde. Denn insoweit handelt es sich lediglich um ein Zitat aus den Gründen des rechtskräftigen Urteils, in denen der Staatsschutzsenat eine zu erwartende Abschiebung im Rahmen der Abwägung der für und gegen die besondere Schuldschwere sprechenden Umstände mildernd berücksichtigt hatte. Bei der angegriffenen Entscheidung über die weitere Strafvollstreckung hat er hingegen nicht auf einen derartigen Gesichtspunkt abgestellt.

3. Nach alledem kommt es derzeit nicht entscheidungserheblich darauf an, ob nach § 57a Abs. 1 Satz 1 Nr. 3, Satz 2 i.V.m. § 57 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, Satz 2 StGB die Reststrafaussetzung unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit verantwortet werden kann.

HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 149

Bearbeiter: Fabian Afshar