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HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 1326

Bearbeiter: Fabian Afshar/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, AK 57/23, Beschluss v. 05.10.2023, HRRS 2023 Nr. 1326


BGH AK 57/23 - Beschluss vom 5. Oktober 2023

Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate (dringender Tatverdacht; Fluchtgefahr; Haftgrund der Schwerkriminalität); mitgliedschaftliche Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung im Ausland.

§ 112 StPO; § 121 StPO; § 129a StGB; § 129b StGB

Entscheidungstenor

Die Untersuchungshaft hat fortzudauern.

Eine etwa erforderliche weitere Haftprüfung durch den Bundesgerichtshof findet in drei Monaten statt.

Bis zu diesem Zeitpunkt wird die Haftprüfung dem nach den allgemeinen Vorschriften zuständigen Gericht übertragen.

Gründe

I.

Der Beschuldigte ist am 20. März 2023 vorläufig festgenommen worden und befindet sich aufgrund des Haftbefehls des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs vom Folgetag (2 BGs 373/23) seitdem ununterbrochen in Untersuchungshaft.

Gegenstand des Haftbefehls ist der Vorwurf, der Beschuldigte habe sich in der Zeit von Ende 2013 bis mindestens 2015 als Mitglied an einer terroristischen Vereinigung im Ausland - dem sogenannten „Islamischen Staat“ (IS) - beteiligt, deren Zwecke und deren Tätigkeit darauf gerichtet gewesen seien, Mord (§ 211 StGB), Totschlag (§ 212 StGB) und Kriegsverbrechen (§§ 8, 9, 10, 11 oder 12 VStGB) zu begehen, strafbar gemäß § 129a Abs. 1 Nr. 1, § 129b Abs. 1 StGB.

II.

Die Voraussetzungen für die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus liegen vor.

1. Der Beschuldigte ist der ihm im Haftbefehl vorgeworfenen Tat dringend verdächtig.

a) Nach dem gegenwärtigen Ermittlungsstand ist im Sinne eines solchen Tatverdachts von folgendem Sachverhalt auszugehen:

aa) Der IS ist eine Organisation mit militant-fundamentalistischer islamischer Ausrichtung, die es sich ursprünglich zum Ziel gesetzt hatte, einen das Gebiet des heutigen Irak und die historische Region „ash-Sham“ - die heutigen Staaten Syrien, Libanon und Jordanien sowie Palästina - umfassenden und auf ihrer Ideologie gründenden „Gottesstaat“ unter Geltung der Scharia zu errichten und dazu das Regime des syrischen Präsidenten Assad und die schiitisch dominierte Regierung im Irak zu stürzen. Zivile Opfer nahm und nimmt sie bei ihrem fortgesetzten Kampf im Kauf, weil sie jeden, der sich ihren Ansprüchen entgegenstellt, als „Feind des Islam“ begreift; die Tötung solcher „Feinde“ oder ihre Einschüchterung durch Gewaltakte sieht der IS als legitimes Mittel des Kampfes an.

Die Vereinigung, die sich mit der Ausrufung des „Kalifats“ am 29. Juni 2014 aus „Islamischer Staat im Irak und in Großsyrien“ (ISIG) in „Islamischer Staat“ (IS) umbenannte, wodurch sie von der territorialen Selbstbeschränkung Abstand nahm, wurde von 2010 bis zu seinem Tod Ende Oktober 2019 durch Abu Bakr al-Baghdadi geführt. Bei der Ausrufung des Kalifats erklärte der Sprecher des IS ihn zum „Kalifen“, dem die Muslime weltweit Gehorsam zu leisten hätten. Auch die nachfolgenden Anführer des IS wurden und werden durch dessen Mitglieder als „Kalifen“ bezeichnet.

Dem jeweiligen Anführer unterstanden ein Stellvertreter sowie „Minister“ als Verantwortliche für einzelne Bereiche, so ein „Kriegsminister“ und ein „Propagandaminister“. Zur Führungsebene gehörten außerdem beratende „Shura-Räte“. Veröffentlichungen wurden von eigenen Medienstellen produziert und verbreitet. Das auch von den Kampfeinheiten verwendete Symbol der Vereinigung besteht aus dem „Prophetensiegel“ (einem weißen Oval mit der Inschrift „Allah - Rasul - Mohammad“) auf schwarzem Grund, überschrieben mit dem islamischen Glaubensbekenntnis. Die zeitweilig über mehrere Tausend Kämpfer waren dem „Kriegsminister“ unterstellt und in lokale Kampfeinheiten mit jeweils einem Kommandeur gegliedert.

Die Vereinigung teilte von ihr besetzte Gebiete in Gouvernements ein und richtete einen Geheimdienstapparat ein; diese Maßnahmen zielten auf die Schaffung totalitärer staatlicher Strukturen. Angehörige der irakischen und syrischen Armee, aber auch von in Gegnerschaft zum IS stehenden Oppositionsgruppen, ausländische Journalisten und Mitarbeiter von Nichtregierungsorganisationen sowie Zivilisten, die den Herrschaftsbereich des IS in Frage stellten, sahen sich der Verhaftung, Folter und der Hinrichtung ausgesetzt. Filmaufnahmen von besonders grausamen Tötungen wurden mehrfach vom IS zu Zwecken der Einschüchterung veröffentlicht. Darüber hinaus begeht er Massaker an Zivilisten und außerhalb seines Machtbereichs Terroranschläge. So übernahm er für Anschläge in Europa, etwa in Paris, Brüssel und Berlin, die Verantwortung.

Im Jahr 2014 gelang es dem IS, große Teile der Staatsterritorien von Syrien und dem Irak zu besetzen. Er kontrollierte die aneinander angrenzenden Gebiete Ostsyriens und des Nordwestiraks. Ab dem Jahr 2015 geriet die Vereinigung militärisch zunehmend unter Druck und musste schrittweise massive territoriale Verluste hinnehmen. Im August 2017 wurde sie aus ihrer letzten nordirakischen Hochburg in Tal Afar verdrängt. Im März 2019 galt der IS - nach der Einnahme des von seinen Kämpfern gehaltenen ostsyrischen Baghouz - sowohl im Irak als auch in Syrien als militärisch besiegt, ohne dass allerdings die Vereinigung als solche zerschlagen wäre.

bb) Der Beschuldigte trat Ende des Jahres 2013 dem IS bei, dem er zu einem nicht genau bekannten Zeitpunkt öffentlich die Treue schwor, und gehörte ihm jedenfalls bis zu seiner Flucht aus Syrien (frühestens im Jahr 2015) an.

Er war Mitglied einer Kampfeinheit, welche die Macht des IS in dem im Süden von Damaskus gelegenen Stadtteil H. sicherte, und nahm - mit einer Kalaschnikow bewaffnet - regelmäßig an Patrouillen teil.

Diese Einheit entführte gegnerische Kämpfer sowie andere missliebige Personen und richtete sie auch hin. So erschoss sie am 16. Januar 2014 mindestens elf Menschen, von denen die meisten für die Freie Syrische Armee (FSA) gekämpft hatten. Auch enthaupteten schwarz gekleidete und vermummte Angehörige der Einheit am 19. April 2015 vor der Moschee zwei gefesselte, wehrlos auf dem Boden liegende Tatopfer; das Hinrichtungsgeschehen wurde gefilmt und die Aufnahmen zu propagandistischen Zwecken weiterverbreitet.

b) Der Beschuldigte hat gegenüber den Strafverfolgungsbehörden bisher keine Angaben gemacht.

aa) Den dringenden Tatverdacht stützen bereits die Angaben von mehr als einem Dutzend Zeugen, die von seiner Mitgliedschaft beim IS berichten.

Auch wenn die Protokolle über fünf Zeugenvernehmungen, die zwischen dem 8. Mai 2023 und dem 27. Juli 2023 stattgefunden hatten, der Verteidigerin nicht vorliegen, sind sie für die Haftprüfungsentscheidung heranzuziehen. Vier der Niederschriften können erst zur Akte gelangt sein, nachdem ihr am 6. Juni 2023 letztmalig Einsicht in diese gewährt worden ist. Ausdrücklich darauf hinweisen, dass weitere Beweisergebnisse aktenkundig geworden sind, musste der Generalbundesanwalt ohnehin nicht - anders als ein Tatgericht nach Erlass des Eröffnungsbeschlusses (vgl. dazu BGH, Beschluss vom 10. Mai 2017 - 1 StR 145/17, BGHR StPO § 1 Hinweispflicht 8). Denn dem Ermittlungsverfahren ist es immanent, dass fortlaufend beund entlastende Erkenntnisse zusammengetragen werden.

Soweit die Verteidigerin in ihrer Stellungnahme vom 29. Juli 2023 Zweifel an den Angaben mehrerer Zeugen geäußert und (vermeintliche) Ungereimtheiten aufgezeigt hat, rechtfertigt dies keine abweichende Bewertung des dringenden Tatverdachts. Eine ins Einzelne gehende Analyse solcher Äußerungsinhalte auf ihren Wahrheitsgehalt hin bleibt einer etwaigen Hauptverhandlung vorbehalten. Im jetzigen Stadium des Verfahrens ist sie weder rechtlich geboten noch tatsächlich möglich (vgl. BGH, Beschlüsse vom 13. Juli 2023 - AK 34/23, juris Rn. 25; vom 3. März 2020 - AK 63/19, juris Rn. 18).

bb) Überdies werden die Angaben der Zeugen bestätigt durch die Auswertung beim Beschuldigten sichergestellter Asservate, Ermittlungen bei E-Mail-Dienstleistern und in sozialen Netzwerken sowie überwachte Telefongespräche. Exemplarisch haben mehrere Zeugen dem Beschuldigten die Kunya“ “ zugeordnet. Bestätigt wird dies durch den Umstand, dass er bei mehreren Telefonaten mit diesem Namen angesprochen wurde und die Auswertung des bei seiner illegalen Einreise bei ihm sichergestellten Mobiltelefons ergeben hat, dass er unter anderem die E-Mail-Adresse nutzte und diese mit zahlreichen Internetdiensten verknüpfte.

cc) Wegen der Einzelheiten der Verdachtslage wird auf den Haftbefehl vom 21. März 2023 sowie den ausführlichen Vermerk des Bundeskriminalamts vom 24. August 2023 verwiesen.

c) In rechtlicher Hinsicht ist der Beschuldigte dringend verdächtig der mitgliedschaftlichen Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung im Ausland (§ 129a Abs. 1 Nr. 1, § 129b Abs. 1 StGB), indem er sich mit hoher Wahrscheinlichkeit dem IS anschloss und sich durch seine Patrouillengänge an ihm beteiligte (vgl. zu den Anforderungen BGH, Beschlüsse vom 18. Oktober 2022 - AK 31/22, juris Rn. 21 ff.; vom 21. April 2022 - AK 14/22, juris Rn. 28 ff.; vom 21. April 2022 - AK 18/22, juris Rn. 5 ff.).

Die Anwendbarkeit deutschen Strafrechts folgt aus § 7 Abs. 2 Nr. 2 StGB, weil der Beschuldigte im Inland festgenommen worden ist, die Tat auch in Syrien - als Anschluss an eine terroristische Organisation gemäß Art. 1 und 3 des syrischen Anti-Terror-Gesetzes Nr. 19 vom 28. Juni 2012 - mit Strafe bedroht ist und ein Auslieferungsverkehr mit Syrien derzeit nicht stattfindet (s. zum Ganzen BGH, Beschluss vom 8. März 2023 - AK 10/23, juris Rn. 41 mwN). Die Voraussetzungen des § 129b Abs. 1 Satz 2 Variante 4 StGB sind ebenfalls erfüllt.

Die nach § 129b Abs. 1 Satz 2 und 3 StGB erforderliche Ermächtigung zur Strafverfolgung liegt vor.

2. Es bestehen die Haftgründe der Fluchtgefahr gemäß § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO sowie - bei der gebotenen restriktiven Auslegung des § 112 Abs. 3 StPO (vgl. nur BVerfG, Beschluss vom 15. Dezember 1965 - 1 BvR 513/65, BVerfGE 19, 342, 350 f.) - der Schwerkriminalität.

Der Beschuldigte hat im Falle seiner Verurteilung mit einer erheblichen Haftstrafe zu rechnen. Von der Straferwartung geht ein ganz erheblicher Fluchtanreiz aus, der sich jedenfalls regelmäßig nach der prognostisch tatsächlich zu verbüßenden Strafhaft richtet (zur sog. Nettostraferwartung s. BGH, Beschluss vom 2. November 2016 - StB 35/16, juris Rn. 9; BeckOK StPO/Krauß, 48. Ed., § 112 Rn. 29 f.). Der danach zu stellenden Prognose ist zugrunde zu legen, dass der Regelstrafrahmen eines Verbrechens der mitgliedschaftlichen Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung im Ausland im Mindestmaß Freiheitsstrafe von einem Jahr vorsieht. Auch mit Blick auf den Umstand, dass es sich beim IS um eine jedenfalls im Tatzeitraum besonders gefährliche und grausam vorgehende terroristische Vereinigung handelte, was im besonderen Maße für die Kampfeinheit zutrifft, welcher der Beschuldigte angehörte, und er sich an der Organisation über einen langen Zeitraum beteiligte, dürfte die ihm drohende Strafe nicht mehr im unteren Bereich des bis zu zehn Jahre Freiheitsstrafe reichenden Strafrahmens liegen.

Bei dieser Sachlage stellen die Umstände, dass sich der Beschuldigte, der in einer niedersächsischen Asylbewerberunterkunft gemeldet ist und über keine Arbeitsstelle verfügt, zuletzt weit überwiegend in der Wohnung seiner Brüder in N. aufhielt, keine maßgeblich fluchthindernden Tatsachen dar.

Zwar blieb der Beschuldigte auch noch dort, als die Durchsuchungen seiner Wohnanschrift und der seiner Brüder am 8. März 2023 ihm offenbarten, dass die Strafverfolgungsbehörden gegen ihn ermittelten. Dass er die sich hieran anschließenden zwölf Tage in Freiheit nicht dazu nutzte, sich dem drohenden Strafverfahren zu entziehen, ist - entgegen der Ansicht der Verteidigung - weder ein Indiz für seine Unschuld, noch spricht es entscheidend gegen eine Fluchtgefahr. Die etwaigen Auswirkungen einer Haftstrafe stehen ihm erst seit seiner Festnahme aufgrund der Inhaftierung konkret vor Augen (vgl. BGH, Beschluss vom 18. September 2019 - AK 50/19, juris Rn. 24).

Insgesamt ist es wahrscheinlicher, dass sich der Beschuldigte - sollte er auf freien Fuß gelangen - dem Strafverfahren entziehen, als dass er sich ihm stellen wird. Dies begründet erst recht die für den Haftgrund des § 112 Abs. 3 StPO ausreichende Gefahr, dass die Ahndung der Tat ohne seine weitere Inhaftierung vereitelt werden könnte (vgl. BGH, Beschluss vom 5. April 2023 - AK 11/23 u.a., juris Rn. 40).

Der Zweck der Untersuchungshaft kann unter den gegebenen Umständen nicht durch weniger einschneidende Maßnahmen im Sinne des § 116 Abs. 1 StPO - die bei verfassungskonformer Auslegung auch im Rahmen des § 112 Abs. 3 StPO möglich sind - erreicht werden.

3. Die Voraussetzungen des § 121 Abs. 1 StPO für die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus liegen vor. Die besonderen Schwierigkeiten und der Umfang der Ermittlungen haben ein Urteil noch nicht zugelassen und rechtfertigen den weiteren Vollzug der Untersuchungshaft. Die elektronische Zweitakte umfasst am 24. August 2023 annähernd 3.700 Dateien mit einer Gesamtgröße von 7,77 Gigabyte.

Das Ermittlungsverfahren ist, auch nach der vorläufigen Festnahme des Beschuldigten am 20. März 2023, mit der in Haftsachen gebotenen Zügigkeit geführt worden. Anlässlich seiner Ergreifung haben, wie schon zuvor am 8. März 2023, Durchsuchungen stattgefunden, bei denen insgesamt 43 Asservate sichergestellt worden sind, darunter 18 elektronische mit einer Gesamtdatenmenge von ungefähr 550 Gigabyte, deren Durchsicht, Auslesung und Auswertung weitgehend abgeschlossen ist. Überdies sind, auch nach dem 20. März 2023, zahlreiche Zeugen vernommen worden, bis zum 24. August 2023 insgesamt 77 (zum Teil mehrfach).

Wegen der näheren Einzelheiten wird auf die Zuschrift des Generalbundesanwalts vom 14. September 2023 Bezug genommen.

4. Der weitere Vollzug der Untersuchungshaft steht derzeit nicht außer Verhältnis zur Bedeutung der Sache und der im Falle einer Verurteilung zu erwartenden Strafe (§ 120 Abs. 1 Satz 1 StPO).

HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 1326

Bearbeiter: Fabian Afshar/Karsten Gaede