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HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 271

Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 2 ARs 460/23, Beschluss v. 21.12.2023, HRRS 2024 Nr. 271


BGH 2 ARs 460/23 2 AR 203/23 - Beschluss vom 21. Dezember 2023

Örtliche Zuständigkeit (JGG; Abgabe des Verfahrens: Wechsel des Aufenthalts des Angeklagten, pflichtgemäßes Ermessen, gemeinschaftliches oberes Gericht).

§ 42 JGG

Entscheidungstenor

1. Der Abgabebeschluss des Amtsgerichts ‒ Jugendschöffengerichts ‒ Gießen vom 18. Oktober 2023 wird aufgehoben.

2. Dieses Gericht ist für die Untersuchung und Entscheidung der Sache weiter zuständig.

Gründe

Die Jugendschöffengerichte der Amtsgerichte Gießen und Ellwangen (Jagst) streiten um die Zuständigkeit für die Verhandlung und Entscheidung in einer Jugendstrafsache.

I.

Die Staatsanwaltschaft Gießen hat am 5. Juli 2023 beim Amtsgericht - Jugendschöffengericht - Gießen Anklage gegen den damals in L. wohnhaften Angeklagten wegen Diebstahls erhoben. Mit Beschluss vom 31. Juli 2023 hat das Amtsgericht Gießen die Anklage zur Hauptverhandlung zugelassen und das Hauptverfahren eröffnet. Ab dem 16. August 2023 hielt sich der Angeklagte in einer von dem „C.“ betriebenen Wohngruppe auf. Mit Beschluss vom 18. Oktober 2023 gab das Amtsgericht Gießen das Verfahren an das Amtsgericht - Jugendschöffengericht - Ellwangen (Jagst) ab. Die Begründung beschränkt sich auf die Behauptung, der Wohnsitz des Angeklagten befinde sich in dessen Bezirk. Das Amtsgericht Ellwangen (Jagst) hat Bedenken gegen die Übernahme des Verfahrens und hat die Sache mit Beschluss vom 31. Oktober 2023 gemäß § 42 Abs. 3 Satz 2 JGG dem Bundesgerichtshof zur Entscheidung vorgelegt.

II.

1. Der Bundesgerichtshof ist als gemeinschaftliches oberes Gericht des Amtsgerichts Gießen (Bezirk des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main) und des Amtsgerichts Ellwangen (Jagst) (Bezirk des Oberlandesgerichts Stuttgart) für die Entscheidung gemäß § 42 Abs. 3 Satz 2 JGG zuständig.

2. Der Abgabebeschluss des Amtsgerichts Gießen vom 18. Oktober 2023 ist aus mehreren Gründen aufzuheben. Für die Verhandlung und Entscheidung ist weiterhin das Amtsgericht Gießen zuständig.

Der Generalbundesanwalt hat in seiner Zuschrift vom 16. November 2023 u.a. ausgeführt:

„Es steht schon nicht fest, ob der Wohnsitz des Angeklagten im Amtsgerichtsbezirk Ellwangen/Jagst liegt. Aktenkundig ist lediglich, dass die Wohngruppe von dem „C. “, der über eine Anschrift in C. verfügt (SA S. 56 RS), betrieben wird. C. befindet sich im Amtsgerichtsbezirk Bad Mergentheim.

Ungeachtet dessen hat die Abgabeentscheidung auch deshalb keinen Bestand, weil das Amtsgericht Gießen die Abgabe an das Amtsgericht Ellwangen/Jagst allein mit dem Umstand begründet hat, dass der Angeklagte nunmehr im dortigen Bezirk wohne. Dem Abgabebeschluss lässt sich nicht entnehmen, ob dem Amtsgericht Gießen bewusst gewesen ist, dass eine Abgabeentscheidung gemäß § 42 Abs. 3 Satz 1 JGG im pflichtgemäßen Ermessen steht, und es sein Ermessen entsprechend ausgeübt hat (vgl. Senat, Beschluss vom 4. August 2021 - 2 ARs 200/21, juris Rn. 6).“

Dem tritt der Senat bei. Die im richterlichen Ermessen stehende Abgabe erwiese sich im vorliegenden Fall zudem als unzweckmäßig. Der Grundsatz, dass sich Jugendliche bzw. Heranwachsende vor dem für ihren Aufenthaltsort zuständigen Gericht verantworten sollen, das regelmäßig über die größte Sachnähe verfügt, kann zur Vermeidung erheblicher Verfahrenserschwernisse durchbrochen werden (vgl. BGH, Beschlüsse vom 16. April 2003 - 2 ARs 96/03, juris Rn. 2; vom 11. Februar 2014- 2 ARs 424/13, juris Rn. 1; vom 8. September 2015 - 2 ARs 142/15, juris Rn. 1; vom 28. April 2020 - 2 ARs 58/20, juris Rn. 3, und vom 10. Juni 2021 - 2 ARs 131/21, juris Rn. 5).

Dies wäre hier geboten. Eine Abgabe des Verfahrens wäre aus verfahrensökonomischer Sicht nicht vertretbar. Das Amtsgericht Gießen hat über die Eröffnung des Hauptverfahrens entschieden und ist damit bereits in die Sache eingearbeitet, während sich ein anderes Amtsgericht zunächst noch einarbeiten müsste. Dies würde zu weiterer, nicht hinnehmbarer Verzögerung des Verfahrens führen. Eine Hauptverhandlung vor dem Amtsgericht Gießen hätte nur für den Angeklagten selbst einen erhöhten Reiseaufwand zur Folge, der ihm ohne Weiteres zugemutet werden kann, zumal seine Mutter weiterhin im Bezirk des Amtsgerichts Gießen wohnhaft ist. Bei dieser Sachlage tritt der erzieherisch relevante Gesichtspunkt der Entscheidungsnähe des für den Wohnsitz zuständigen Gerichts zurück (vgl. BGH, Beschluss vom 28. April 2020 - 2 ARs 58/20, juris Rn. 3 mwN).

HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 271

Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede