HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 402
Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 477/23, Beschluss v. 10.01.2024, HRRS 2024 Nr. 402
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Wiesbaden vom 23. Mai 2023
a) dahin abgeändert, dass der Angeklagte des sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen in Tateinheit mit Vergewaltigung in fünf Fällen, davon in vier Fällen in weiterer Tateinheit mit Beischlaf zwischen Verwandten und der Vergewaltigung in Tateinheit mit Beischlaf zwischen Verwandten schuldig ist,
b) im Strafausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels und die der Nebenklägerin insoweit entstandenen notwendigen Auslagen, an eine andere als Jugendschutzkammer zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
2. Die weitergehende Revision wird als unbegründet verworfen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen in Tateinheit mit Vergewaltigung und Beischlaf zwischen Verwandten in fünf Fällen und wegen Vergewaltigung in Tateinheit mit Beischlaf zwischen Verwandten zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von acht Jahren und sechs Monaten verurteilt. Ferner hat es eine Adhäsionsentscheidung getroffen. Dagegen wendet sich der Angeklagte mit seiner Revision, mit der er die Verletzung formellen und materiellen Rechts rügt. Das Rechtsmittel hat in dem aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Umfang Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO); im Übrigen ist es unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
1. Die Verfahrensrüge hat aus den Gründen der Antragsschrift des Generalbundesanwalts keinen Erfolg.
2. Die auf die Sachrüge veranlasste umfassende Überprüfung des angefochtenen Urteils hält im Schuldspruch lediglich im Fall II. 1. Fall 4 der Urteilsgründe rechtlicher Nachprüfung nicht stand.
a) Nach den dazu getroffenen Feststellungen zog der Angeklagte im Mai/Juni 2022 seine 16-jährige Tochter aus und forderte sie auf, sich mit dem Gesicht zum Tisch zu stellen und sich darauf mit den Händen abzustützen. Er stellte sich hinter sie und führte anschließend den Analverkehr bis zum Samenerguss durch.
b) Das Landgericht hat hier, wie in allen weiteren Fällen, in denen der Angeklagte an seiner Tochter den Vaginalverkehr vollzog, den Tatbestand des Beischlafs zwischen Verwandten (§ 173 Abs. 1 StGB) als verwirklicht angesehen. Dies hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Der Begriff des „Beischlafs“ setzt das Eindringen des männlichen Glieds in die Scheide voraus; nach dem eindeutigen Gesetzeswortlaut werden beischlafähnliche Handlungen wie der Analverkehr von § 173 StGB (anders als von § 177 Abs. 6 Satz 2 Nr. 1 StGB) nicht erfasst (vgl. auch BGH, Beschlüsse vom 7. September 2010 - 4 StR 342/10, NStZ-RR 2010, 371, vom 12. Juni 2018 - 3 StR 226/18 Rn. 3 mwN). Der Senat hat den Schuldspruch entsprechend geändert.
3. Der Strafausspruch hält rechtlicher Nachprüfung insgesamt nicht stand. Das Landgericht hat alle verhängten Einzelfreiheitsstrafen dem Strafrahmen des § 177 Abs. 6 StGB entnommen. Die Wahl dieses Strafrahmens hat das Landgericht lediglich damit begründet, dass das Gesetz einen „minder schweren Fall“ nicht vorsehe.
a) Die Bestimmung des Strafrahmens begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Die Urteilsgründe ergeben nicht, weshalb eine Strafrahmenverschiebung unterblieben ist. Zwar ist das Landgericht zu Recht davon ausgegangen, dass der Angeklagte das Regelbeispiel nach § 177 Abs. 6 Satz 2 Nr. 1 StGB verwirklicht hat. Nach ständiger Rechtsprechung kann gleichwohl eine Ausnahme von der Regelwirkung in Betracht kommen, wenn ein Regelbeispiel mit gewichtigen Milderungsgründen zusammentrifft. Der Bestrafung kann dann ausnahmsweise der Strafrahmen des § 177 Abs. 1 StGB zugrunde gelegt werden. In extremen Ausnahmefällen - ein solcher liegt hier freilich fern - kann sogar eine weitergehende Milderung des Strafrahmens und die Bemessung der Strafe aus dem Rahmen für den minder schweren Fall (§ 177 Abs. 9 StGB) in Betracht zu ziehen sein (vgl. BGH, Beschlüsse vom 11. April 2000 - 1 StR 78/00, BGHR StGB § 177 Abs. 2 Strafrahmenwahl 13; vom 6. März 2001 - 4 StR 558/00, StV 2001, 456, 457; vom 13. September 2005 - 4 StR 163/05, NStZ-RR 2006, 6, 7; vom 13. April 2011 - 4 StR 100/11, StraFo 2011, 325; vom 1. August 2017 - 2 StR 185/17, StraFo 2017, 425, jeweils mwN).
Für die Entscheidung, ob die Regelwirkung des Regelbeispiels für den besonders schweren Fall ausnahmsweise wegen gewichtiger Milderungsgründe entfällt, ist - ähnlich wie bei der Prüfung der Voraussetzungen eines minder schweren Falles - auf das gesamte Tatbild einschließlich aller subjektiven Momente und der Täterpersönlichkeit abzustellen und zu prüfen, ob sich angesichts deutlich überwiegender Milderungsgründe die Bewertung der Tat als besonders schwerer Fall als unangemessen erweisen würde (vgl. BGH, Beschluss vom 1. August 2017 - 2 StR 185/17, StraFo 2017, 425 mwN).
Ob und gegebenenfalls in welchen Fällen hier ausnahmsweise die Regelwirkung des Regelbeispiels entfällt, hätte - auch mit Blick darauf, dass das Landgericht bei der Strafzumessung im engeren Sinne gewichtige Umstände anführt, die gegen einen Wegfall der Regelwirkung sprechen können - unter den gegebenen Umständen schon deshalb der Erörterung bedurft, weil der nicht in Deutschland vorbestrafte Angeklagte hier erstmalig eine Freiheitsstrafe zu verbüßen hat.
b) Der dargestellte Erörterungsmangel bei der Wahl der Strafrahmen führt zur Aufhebung des gesamten Strafausspruchs, weil der Senat letztlich nicht ausschließen kann, dass das Landgericht einen besonders schweren Fall im Sinne des § 177 Abs. 6 Satz 2 Nr. 1 StGB verneint und gegen den Angeklagten niedrigere Einzelfreiheitsstrafen verhängt hätte.
4. Das neu zur Entscheidung berufene Tatgericht wird zu bedenken haben, dass psychische Tatfolgen bei der Bemessung einzelner Strafen mit ihrem vollen Gewicht nur in Ansatz gebracht werden können, wenn festgestellt ist, dass sie die unmittelbare Folge gerade dieser Taten sind. Sind sie nur Folge aller Taten, so können sie dem Angeklagten nur einmal, nämlich bei der Bildung der Gesamtstrafe, angelastet werden (vgl. BGH, Beschluss vom 28. September 2022 - 2 StR 550/21, Rn. 2 mwN).
HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 402
Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede