HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 656
Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 171/23, Beschluss v. 10.01.2024, HRRS 2024 Nr. 656
1. Auf die Revision des Angeklagten B. wird das Urteil des Landgerichts Frankfurt am Main vom 3. Juni 2022 - soweit es ihn betrifft -
a) hinsichtlich der Einziehungsentscheidung im Fall II.1 der Urteilsgründe dahin abgeändert, dass der Angeklagte in Höhe von 500 € als Gesamtschuldner haftet;
b) aufgehoben
aa) im Fall II.5 der Urteilsgründe; die zugehörigen Feststellungen - mit Ausnahme derjenigen zur Täterschaft des Angeklagten - bleiben bestehen,
bb) im Gesamtstrafenausspruch und
cc) mit den zugehörigen Feststellungen und unter Erstreckung auf den Mitangeklagten S. im Ausspruch über die Einziehung im Fall II.9 der Urteilsgründe.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
2. Die weitergehende Revision wird verworfen.
Das Landgericht hat den Angeklagten B. wegen Diebstahls mit Waffen in drei Fällen, wobei es in einem Fall beim Versuch blieb, und Diebstahls in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und drei Monaten verurteilt und im Übrigen freigesprochen. Zudem hat es einen Kubotan eingezogen und gegen den Angeklagten und den nicht revidierenden Mitangeklagten S. in den Fällen II.5 und II.9 der Urteilsgründe die „gesamtschuldnerische Einziehung eines Geldbetrages in Höhe von 29.812,55 € als Ersatz des Wertes der Taterträge“ angeordnet, gegen den Angeklagten außerdem in Höhe eines weiteren Betrages von 500 € (Fall II.1 der Urteilsgründe).
Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner auf die Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützten Revision. Diese hat in dem aus der Beschlussformel ersichtlichen Umfang Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO). Sie ist hinsichtlich der Aufhebung der Einziehungsentscheidung im Fall II.9 der Urteilsgründe auf den Mitangeklagten S. zu erstrecken (§ 357 StPO). Im Übrigen ist das Rechtsmittel unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).
Nach den durch das Landgericht getroffenen Feststellungen entwendete der Angeklagte im Zeitraum vom 8. Oktober 2019 bis zum 1. März 2020 bei vier Gelegenheiten stehlenswertes Gut aus einer Gaststätte (Fall II.1 der Urteilsgründe), einem Kiosk (Fall II.5 der Urteilsgründe) und zwei Shisha-Bars (Fälle II.8 und II.9 der Urteilsgründe); in einem weiteren Fall wurde das entsprechende Vorhaben nach Entdeckung der Tat abgebrochen, als sich der Angeklagte und der Mitangeklagte S. bereits in den Räumlichkeiten einer weiteren Shisha-Bar befanden (Fall II.7 der Urteilsgründe). In den Fällen II.7 bis II.9 der Urteilsgründe führte der Angeklagte jeweils griffbereit einen Kubotan mit sich.
Im Einzelnen hat das Landgericht - soweit hier von Bedeutung - folgende Feststellungen getroffen:
In der Nacht vom 7. auf den 8. Oktober 2019 stieg der Angeklagte gemeinsam mit einem unbekannten Dritten durch ein Souterrainfenster in eine Pizzeria ein, wo sie die Kassenschublade mit 500 € entwendeten (Fall II.1 der Urteilsgründe).
Am 10. Februar 2020 verschafften sich der Angeklagte und der Mitangeklagte S. gegen 2.30 Uhr gewaltsam Zutritt zu einem Kiosk in F. Sie entwendeten den gesamten Zigarettenbestand, Tabakboxen, Bargeld, eine Geldzählmaschine sowie diverse Alkoholika. Das Diebesgut hatte einen Gesamtwert von 23.432,70 € (Fall II.5 der Urteilsgründe).
Am 14. Februar 2020 verschafften sie sich zu einer in F. gelegenen Shisha-Bar gewaltsam Zutritt. Anschließend entnahmen sie aus dem Gastraum sechsundzwanzig Shishas, neunundzwanzig Shisha-Schläuche, fünfunddreißig Mundstücke, drei traditionelle Schläuche, fünf Schlauchadapter und die Tageseinnahmen in Höhe von 679,90 €, die der Mitangeklagte S. einsteckte. Außerdem entwendeten sie eine Flasche Tequila Don Julio 1942, eine Flasche Whisky Johnny Walker Blue Label und eine Flasche Champagner Dom Perignon. Die Shishas, Zubehörteile und Alkoholika verluden sie anschließend in das Fluchtfahrzeug, in dem nach polizeilichem Aufgriff unter anderem zwanzig Wasserpfeifen, neunundzwanzig Shisha-Schläuche mit Metallendstück sowie jeweils eine Flasche Tequila Don Julio 1942 und Whisky Johnny Walker Blue Label sichergestellt wurden. Das Diebesgut hatte einen Gesamtwert von 6.379,85 € (Fall II.9 der Urteilsgründe).
Die Revision des Angeklagten führt auf die erhobene Verfahrensrüge zur Aufhebung der Verurteilung im Fall II.5 der Urteilsgründe, die die Aufhebung der in diesem Fall getroffenen Einziehungsentscheidung und des Gesamtstrafenausspruchs nach sich zieht (hierzu unter I.). Daneben unterliegt die Einziehungsentscheidung auf die Sachrüge im Fall II.1 der Urteilsgründe der Abänderung, ferner der Aufhebung im Fall II.9 der Urteilsgründe (hierzu unter II.). Im Übrigen bleibt das Rechtsmittel ohne Erfolg.
Die Verfahrensrüge, mit der der Angeklagte beanstandet, das Landgericht habe bei seiner Beweiswürdigung im Fall II.5 der Urteilsgründe retrograde Standortdaten aus einer Funkzellenabfrage rechtsfehlerhaft verwertet, dringt durch.
1. Der Rüge liegt folgendes Verfahrensgeschehen zugrunde:
a) Auf der Grundlage des mit „wegen besonders schweren Fall des Diebstahls […] gemäß §§ 242, 243 StGB“ eingeleiteten Ermittlungsberichts der Polizei vom 12. Februar 2020 beantragte die Staatsanwaltschaft den Erlass eines „Funkzellenbeschlusses“ beim Amtsgericht -ErmittlungsrichterF. Der Ermittlungsrichter erließ den Beschluss zur Erhebung der nach § 96 TKG in der Fassung vom 3. Mai 2012 (im Folgenden: § 96 TKG a.F.) erhobenen und gespeicherten Verkehrsdaten, bei mobilen Anschlüssen unter anderem auch der Standortdaten, betreffend die Tatortfunkzelle am Folgetag wegen des Verdachts einer Straftat nach §§ 242, 243 StGB. Der Erhebungszeitraum lief vom 9. Februar 2020, 22.30 Uhr, bis zum 10. Februar 2020, 11.58 Uhr. Nach Umsetzung des Beschlusses am 17. Februar 2020 wurde der Angeklagte auf Basis der erhobenen Verkehrsdaten als möglicher Täter ermittelt.
b) Das Landgericht hat die Inhalte der Funkzellenauswertung im Selbstleseverfahren und durch Vernehmung eines Polizeibeamten entgegen dem jeweiligen Widerspruch der Verteidigung in die Hauptverhandlung eingeführt. Seine Überzeugung von der Täterschaft des Angeklagten hat es auch auf die Verwertung der aus der Funkzellenabfrage gewonnenen Erkenntnisse gestützt.
2. Die zulässig erhobene Verfahrensrüge, mit der sich die Revision gegen die mit einer Funkzellenabfrage erfolgte Erhebung und Verwertung der retrograden Standortdaten des Angeklagten wendet, ist begründet. Die Beweiserhebung im Ermittlungsverfahren verstieß gegen § 100g Abs. 3 Satz 1 in Verbindung mit § 100g Abs. 1 Satz 3 StPO in der aktuellen Fassung vom 20. November 2019, § 100g Abs. 2 StPO (dazu unter a)). Aus dem Beweiserhebungsverbot folgt ein Beweisverwertungsverbot (dazu unter b)).
a) Die Anordnung der Funkzellenabfrage im Ermittlungsverfahren auf Grundlage des § 100g Abs. 3 Satz 1 StPO war gesetzeswidrig, weil im Zeitpunkt der Anordnung der Verdacht einer besonders schweren Straftat nach § 100g Abs. 2 StPO nicht bestand. Eine solche Katalogtat ist für die Funkzellenabfrage aber Anordnungsvoraussetzung (vgl. im Ergebnis auch MüKo-StPO/Rückert, 2. Aufl., § 100g Rn. 86 f.; SSW StPO/Eschelbach, 5. Aufl., § 100g Rn. 39; SK-StPO/Greco/Wolter, 6. Aufl., § 100g Rn. 58; wohl auch Singelnstein, JZ 2012, 601, 603). Bei Anwendung der anerkannten Auslegungsmethoden ist § 100g Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 StPO so zu verstehen, dass die Verweisung auf § 100g Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StPO zugleich den mit Gesetz vom 20. November 2019 eingefügten (BGBl. I S. 1724) und seither unverändert geltenden § 100g Abs. 1 Satz 3 StPO erfasst.
aa) Bereits der Wortlaut des § 100g Abs. 3 Satz 1 StPO legt nahe, dass über die dort in Nummer 1 enthaltene Verweisung nicht nur § 100g Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StPO, sondern auch die zusätzlichen Voraussetzungen der retrograden Standortdatenerhebung gemäß § 100g Abs. 1 Satz 3 StPO - und damit § 100g Abs. 2 StPO - in Bezug genommen werden.
Die Funkzellenabfrage ist legaldefiniert als „Erhebung aller in einer Funkzelle angefallenen Verkehrsdaten“. Sie stellt sich damit per se als retrograd dar („angefallenen“). Zudem werden - ungeachtet der Frage, ob eine Differenzierung zwischen einer retrograden Standortdatenerhebung und einer Funkzellenabfrage überhaupt denkbar ist (so BGH, Beschluss vom 3. August 2017 - 1 BGs 237/17, NStZ 2018, 47) - von der Ermittlungsmaßnahme auch Standortdaten erfasst („alle […] Verkehrsdaten“), handelt es sich bei solchen doch um Verkehrsdaten (vgl. zum Begriff der Verkehrsdaten § 3 Nr. 30 TKG in der Fassung vom 27. Juni 2017 [§ 3 Nr. 70 TKG n.F.] und jetzt § 9 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 TTDSG; vgl. auch Säcker/Körber/Körber, TKG, 4. Aufl., § 3 Rn. 120).
bb) Die Gesetzeshistorie belegt, dass die Verweisung in § 100g Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 StPO auch als Verweisung auf § 100g Abs. 1 Satz 3 StPO zu lesen ist. Hiernach soll die Erhebung retrograder Standortdaten, die - wie soeben aufgezeigt - bei einer Funkzellenabfrage jedenfalls miterhoben werden, generell, mithin auch hinsichtlich der in § 100g Abs. 3 Satz 1 StPO relevanten geschäftlich gespeicherten Standortdaten, nur unter den Voraussetzungen des § 100g Abs. 2 StPO zulässig sein.
Die im Anordnungszeitpunkt und weiterhin geltende Fassung des § 100g Abs. 3 Satz 1 StPO geht zurück auf das Gesetz zur Einführung einer Speicherfrist und einer Höchstspeicherfrist für Verkehrsdaten vom 10. Dezember 2015 (BGBl. I S. 2218), mit dem der Gesetzgeber in Reaktion auf Urteile des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG, Urteil vom 2. März 2010 ? 1 BvR 256, 263, 586/08, BVerfGE 125, 260) und des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH, Urteil vom 8. April 2014 ? C-293, 594/12, NJW 2014, 2169) „Unzulänglichkeiten bei der Strafverfolgungsvorsorge und bei der Gefahrenabwehr“ beseitigen wollte.
Innerhalb des durch dieses Gesetz stark veränderten § 100g StPO in der Fassung vom 10. Dezember 2015 (im Folgenden: § 100g StPO a.F.) unterschied der Gesetzgeber einerseits zwischen der Erhebung von zu geschäftlichen Zwecken gespeicherten Daten nach § 96 TKG a.F. (§ 100g Abs. 1 Satz 1 StPO a.F.) und andererseits der nur unter strengeren Voraussetzungen zulässigen Erhebung anlasslos gespeicherter Daten (§ 100g Abs. 2 StPO a.F.). Die Erhebung retrograder Standortdaten über § 100g StPO a.F. sollte nach dem Willen des Gesetzgebers nur dann zulässig sein, wenn es sich um anlasslos nach § 113b Abs. 1 Nr. 2 TKG in der Fassung vom 10. Dezember 2015 (im Folgenden: § 113b TKG a.F.) gespeicherte Verkehrsdaten handelte und deshalb immer zwingend auch die qualifizierten Voraussetzungen des § 100g Abs. 2 StPO a.F. erfüllt waren. Der Gesetzgeber hielt ausdrücklich fest, die Erhebung der besonders sensiblen Standortdaten werde im Vergleich zum geltenden Recht stark eingeschränkt. Auf zu geschäftlichen Zwecken gespeicherte Verkehrsdaten dürfe - anders als bisher - zur Ermittlung des Aufenthaltsortes nicht zurückgegriffen werden (BT-Drucks. 18/5088, S. 24; vgl. auch BT-Drucks. 19/4671, S. 61). Entsprechend fasste er § 100g Abs. 1 Satz 3 StPO so, dass Verkehrsdaten nur in Echtzeit oder anterograd erhoben werden durften. Die im Gegenschluss zu § 100g Abs. 3 Satz 2 StPO a.F. (Funkzellenabfrage anhand der anlasslos nach § 113b TKG a.F. gespeicherten Daten) allein auf die Erhebung von zu geschäftlichen Zwecken gespeicherten Daten gerichtete Funkzellenabfrage nach § 100g Abs. 3 Satz 1 StPO durfte daher zunächst die Abfrage retrograder Standortdaten nicht umfassen (vgl. BGH, Beschluss vom 3. August 2017 ? 1 BGs 237/17, NStZ 2018, 47).
Weil die Speicherpflicht nach § 113b TKG a.F. erst zum 1. Juli 2017 umzusetzen war (§ 150 Abs. 13 TKG in der Fassung vom 10. Dezember 2015), führte der Gesetzgeber zugleich mit der Neufassung des § 100g StPO zum 18. Dezember 2015 in § 12 EGStPO die Möglichkeit ein, nach § 96 Abs. 1 TKG a.F. gespeicherte Standortdaten bis zum 29. Juli 2017 auf der Grundlage des § 100g Abs. 1 StPO in der bis zum 17. Dezember 2015 geltenden Fassung - und damit ausnahmsweise ohne Einhaltung der Voraussetzungen des § 100g Abs. 2 StPO - zu erheben. Da es sich erkennbar um eine Ausnahme von der eigentlichen Gesetzeskonzeption handelte, sollte nach Ablauf der Übergangsfrist die Erhebung retrograder Standortdaten nach der gesetzgeberischen Vorstellung allein im Normgefüge der ab dem 1. Juli 2017 wirksamen anlasslosen Speicherung von Verkehrsdaten zulässig sein, was stets die Einhaltung der Voraussetzungen des § 100g Abs. 2 StPO erfordert hätte.
Entgegen den vom Gesetzgeber gehegten Erwartungen ließ sich das von ihm im Jahr 2015 eingeführte Regelungskonzept nach Auslaufen der Übergangsfrist des § 12 EGStPO ab Mitte 2017 indes nicht mehr durchsetzen. Nachdem das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen mit Beschluss vom 22. Juni 2017 (13 B 238/17, NVwZ-RR 2018, 43) festgestellt hatte, dass bis zum rechtskräftigen Abschluss eines bei dem Verwaltungsgericht Köln geführten Hauptsacheverfahrens keine Verpflichtung bestehe, die in § 113b Abs. 3 TKG a.F. genannten Telekommunikationsverkehrsdaten zu speichern, sah die Bundesnetzagentur aufgrund einer Erklärung vom 28. Juni 2017 bis zum Abschluss eines Hauptsacheverfahrens von Anordnungen und sonstigen Maßnahmen (einschließlich der Einleitung von Bußgeldverfahren) zur Durchsetzung der in § 113b TKG a.F. geregelten Speicherungspflichten gegenüber allen verpflichteten Unternehmen ab (vgl. dazu OVG Münster, Beschluss vom 25. August 2017 ? 13 B 762/17, NVwZ-RR 2018, 54, 58 Rn. 19 ff.). Damit lief die zunächst weiter von Gesetzes wegen mögliche Erhebung retrograder Standortdaten tatsächlich leer.
Noch vor dem rechtskräftigen Abschluss des in Bezug genommenen Hauptsacheverfahrens (vgl. zunächst VG Köln, Urteil vom 20. April 2018 ? 9 K 3859/16, juris; nachfolgend BVerwG, Urteil vom 14. August 2023 ? 6 C 22/22, NJW 2024, 98) reagierte der Gesetzgeber, indem er auf der Grundlage des Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie (EU) 2016/680 im Strafverfahren sowie zur Anpassung datenschutzrechtlicher Bestimmungen an die Verordnung (EU) 2016/679 vom 20. November 2019 (BGBl. I 1724) § 100g Abs. 1 Satz 3 StPO seine heutige Fassung verlieh. Dabei hielt er ausdrücklich fest, durch die Anpassung des Wortlauts von § 100g Abs. 1 Satz 3 StPO solle gewährleistet werden, dass die Strafverfolgungsbehörden bei Vorliegen der in § 100g Abs. 2 StPO genannten Voraussetzungen auch auf geschäftlich gespeicherte Standortdaten zugreifen könnten. Er sah zugleich seine bereits 2015 verlautbarte Intention gewahrt, die Erhebung von Standortdaten nur unter den strengeren Anforderungen des § 100g Abs. 2 StPO zu erlauben (BT-Drucks. 19/4671, S. 61). Damit brachte er zum Ausdruck, dass er künftig zwar den der Erhebung zur Verfügung stehenden Datenbestand auf geschäftlich erhobene Daten erstrecken, an den gemäß § 100g Abs. 2 StPO engeren Voraussetzungen einer Erhebung retrograder Standortdaten aber festhalten wollte.
cc) Die systematische Auslegung des § 100g StPO steht diesem Normverständnis nicht entgegen; sie liefert kein eindeutiges Ergebnis. Einerseits verweist § 100g Abs. 3 Satz 1 StPO - anders als § 100g Abs. 3 Satz 2 StPO - nicht ausdrücklich auf § 100g Abs. 2 StPO. Andererseits verbindet das aufgezeigte Regelungskonzept des Gesetzgebers § 100g Abs. 1 Satz 1 StPO und § 100g Abs. 1 Satz 3 StPO untrennbar, so dass eine Verweisung auf § 100g Abs. 1 Satz 1 StPO sachgedanklich auch eine Verweisung auf § 100g Abs. 1 Satz 3 StPO beinhaltet. Letzteres spricht, da - wie im Rahmen der Wortlautauslegung aufgezeigt - mit einer Funkzellenabfrage retrograde Standortdaten miterhoben werden, dafür, dass § 100g Abs. 1 Satz 3 StPO innerhalb des § 100g Abs. 3 Satz 1 StPO ebenfalls Geltung beansprucht.
dd) Schließlich ergibt die Auslegung des § 100g Abs. 3 Satz 1 StPO nach seinem Sinn und Zweck, dass die Anordnung einer Funkzellenabfrage unter denselben Voraussetzungen steht wie Maßnahmen nach § 100g Abs. 1 Satz 3 StPO.
Mit der gesetzlichen Regelung der Funkzellenabfrage schuf der Gesetzgeber im Jahr 2015 eine ausdrückliche gesetzliche Ermächtigungsgrundlage, die es den Ermittlungsbehörden erlaubt, alle Verkehrsdaten innerhalb einer Funkzelle zu erheben. Sinn und Zweck dieses Ermittlungsinstruments ist, Ermittlungsansätze zu generieren, die an die Anwesenheit in einer oder mehreren Funkzelle(n), an den Abgleich der festgestellten Anwesenheiten (vgl. auch BT-Plenarprotokoll 18/110, S. 10588 [C]) und an eine Kommunikation innerhalb der Funkzelle anknüpfen. Während die retrograde Standortdatenerhebung im Sinne des § 100g Abs. 1 StPO ermitteln soll, in welcher Funkzelle sich eine bestimmte Zielperson zu einer bestimmten Zeit aufgehalten hat, wendet die Funkzellenabfrage den Blick vom Individuum weg auf ein konkretes räumliches Gebiet (vgl. Ruppert in: Handbuch Sicherheits- und Staatsschutzrecht, § 26 Rn. 26).
Dieser bei der teleologischen Auslegung zu berücksichtigende weitreichende Ansatz des Ermittlungsinstruments bedingt zugleich die aufgezeigte einschränkende Auslegung. Denn die Funkzellenabfrage ermöglicht es - was dem Gesetzgeber bei der Schaffung des § 100g Abs. 3 Satz 1 StPO bewusst war - technisch, alle Verkehrsdaten zu erheben, die in einer bestimmten Funkzelle angefallen sind, um festzustellen, welche Mobilgeräte zu einer bestimmten Zeit der betreffenden Funkzelle zuzuordnen „waren“ (vgl. BT-Drucks. 18/5088, S. 32). Dies unterscheidet sie - mit Blick auf die Erhebung der Funkzelle zugleich als Aufenthaltsort - in ihrer Wirkweise aus der maßgeblichen Sicht der von der Maßnahme Betroffenen nicht von einer retrograden Standortdatenerhebung nach § 100g Abs. 1 Satz 3 StPO. Schließlich ermöglicht sie - was dem Gesetzgeber ebenfalls gewahr war (BT-Drucks. 18/5088, S. 24) und seiner nicht näher begründeten Wertung, es handele sich bei der Funkzellenabfrage nicht um eine Standortdatenerhebung (BT-Drucks. 18/5088, S. 32), entgegensteht - die Erstellung von (partiellen) Bewegungsprofilen (so SSW-StPO/Eschelbach, 5. Aufl., § 100g Rn. 38; MüKo-StPO/Rückert, 2. Aufl., § 100g Rn. 87; Singelnstein, JZ 2012, 601, 602 und 604; a.A. Ruppert in: Handbuch Sicherheits- und Staatsschutzrecht, § 26 Rn. 43 zur Frage eines „spezifischen Bewegungsprofils“). Da die Erhebung retrograder Standortdaten aus Gründen der Verhältnismäßigkeit gerade wegen der Möglichkeit des Erstellens von Bewegungsprofilen nur unter den Voraussetzungen des § 100g Abs. 2 StPO zugelassen werden sollte (BT-Drucks. 18/5088, S. 27 und 31), ist das Instrument der Funkzellenabfrage nach seinem Sinn und Zweck auf die Ermittlung der in § 100g Abs. 2 Satz 2 StPO aufgeführten Katalogtaten beschränkt.
b) Die Anordnung der Funkzellenabfrage war im Fall II.5 der Urteilsgründe rechtswidrig, da der Verdacht einer Katalogtat im Sinne des § 100g Abs. 2 Satz 2 StPO am 12. Februar 2020 nicht bestand. Dies führt zu einem Beweisverwertungsverbot.
aa) Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu § 100a StPO dürfen mit Blick auf die Grundsätze eines rechtsstaatlichen Strafverfahrens die aus einer rechtswidrig angeordneten Telefonüberwachung gewonnenen Erkenntnisse regelmäßig nicht als Beweismittel verwertet werden (vgl. BGH, Urteile vom 17. März 1983 ? 4 StR 640/82, BGHSt 31, 304, 308 f.; vom 24. August 1983 ? 3 StR 136/83, BGHSt 32, 68, 70; vom 16. Februar 1995 ? 4 StR 729/94, BGHSt 41, 30, 31; Beschlüsse vom 1. August 2002 - 3 StR 122/02, BGHSt 47, 362, 365 f.; vom 26. Februar 2003 ? 5 StR 423/02, BGHSt 48, 240, 248). Das gilt insbesondere für Fälle, in denen es an einer wesentlichen sachlichen Voraussetzung für die Anordnung der Maßnahme nach § 100a StPO gefehlt hat. Dementsprechend hat es etwa die Unverwertbarkeit zur Folge, wenn der Verdacht einer Katalogtat von vornherein nicht bestanden hat (vgl. BGH, Urteil vom 17. März 1983 ? 4 StR 640/82, BGHSt 31, 304, 309).
bb) Diese Grundsätze erlangen mit Blick auf die Vergleichbarkeit der Regelungssystematiken (vgl. MüKo-StPO/Rückert, 2. Aufl., § 100g Rn. 119) auch im Anwendungsbereich des § 100g StPO und damit bei rechtswidrig erlangten Funkzellendaten Geltung. Auf die Frage, ob ein Beweisverwertungsverbot die Erhebung eines vorherigen Widerspruchs (vgl. zu § 100a StPO BGH, Beschluss vom 7. März 2006 - 1 StR 316/05, BGHSt 51, 1) voraussetzt, kommt es hier nicht an, da die Verteidigung der Verwertung widersprochen hat.
cc) Eine Katalogtat im Sinne des insoweit abschließenden § 100g Abs. 2 Satz 2 StPO lag im Zeitpunkt der Anordnung der Funkzellenabfrage nicht vor. Der in dem ermittlungsrichterlichen Beschluss angenommene Tatverdacht hinsichtlich einer Straftat nach den §§ 242, 243 StGB bildet eine solche nicht ab. Anhaltspunkte für die Annahme eines qualifizierten Tatverdachts hinsichtlich einer denkbaren Katalogtat, nämlich des allein in Betracht kommenden schweren Bandendiebstahls (§ 244a Abs. 1 StGB; vgl. § 100g Abs. 2 Satz 2 Buchstabe g StPO in der Fassung vom 20. November 2019), ergeben sich weder anhand der in dem Beschluss dargelegten Verdachtslage, noch waren solche im Zeitpunkt der Anordnung nach der sich aus dem durch die Revision vorlegten Ermittlungsbericht ergebenden Verdachtssituation gegeben.
c) Der Verfahrensfehler bedingt die Aufhebung des Schuldspruchs im Fall II.5 der Urteilsgründe mit den der Täterschaft des Angeklagten zugrundeliegenden Feststellungen (§ 353 Abs. 2 StPO).
Die Verurteilung des Angeklagten im Fall II.5 der Urteilsgründe beruht auf dem aufgezeigten Rechtsfehler (§ 337 Abs. 1 StPO). Das Landgericht hat seine Überzeugung von der Täterschaft maßgeblich auf die erhobenen Verkehrsdaten und den Aufenthaltsort des Angeklagten innerhalb der tatortnahen Funkzelle gestützt. Zwar hat es weitere Indizien herangezogen, nämlich die durch den Angeklagten vorgenommene Einzahlung auf sein Bankkonto am darauffolgenden Morgen in Höhe von 297,11 €, was nach der landgerichtlichen Wertung nahezu der Summe des entwendeten Münzgeldes und Kassenbestandes entsprach, sowie den Umstand, dass der Mitangeklagte S. am 11. Februar 2020 an den Angeklagten eine SMS verschickte, mit der er ihm mitteilte, dass eine nicht näher bezeichnete Person „für die Kippen 2.220 geben will. Sag schnell!“. Ungeachtet dieser Indizienlage kann der Senat nicht ausschließen, dass das Landgericht ohne die Verwertung der Funkzellendaten zu einem für den Angeklagten günstigeren Beweisergebnis gelangt wäre.
3. Der Wegfall der Einzelstrafe hat die Aufhebung der Gesamtstrafe zur Folge. Sie entzieht zugleich der in diesem Fall gegen den Angeklagten gesamtschuldnerisch angeordneten Einziehung des Wertes von Taterträgen in Höhe von 23.432,70 € die Grundlage.
1. Die auf die Sachrüge veranlasste weitere Überprüfung des Urteils in den Fällen II.1 und II.7 bis 9 der Urteilsgründe hat im Schuld- und Strafausspruch keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben.
2. Indes hält die Einziehungsentscheidung rechtlicher Prüfung nicht stand, soweit das Landgericht im Fall II.1 der Urteilsgründe die Einziehung weiterer 500 € gegen den Angeklagten als Alleinschuldner angeordnet hat, ferner, soweit es die Tatbeute in Höhe von 6.379,85 € im Fall II.9 der Urteilsgründe seiner Entscheidung zur Wertersatzeinziehung zugrunde gelegt hat.
a) Soweit das Landgericht gegen den Angeklagten als Alleinschuldner im Fall II.1 der Urteilsgründe den Wertersatz von Taterträgen in Höhe von 500 € eingezogen hat (§ 73 Abs. 1, § 73c Satz 1 StGB), ist dieser Ausspruch um die gesamtschuldnerische Haftung zu ergänzen (vgl. BGH, Beschluss vom 14. Dezember 2021 - 6 StR 496/21, juris Rn. 2 mwN). In einer Gesamtschau der Urteilsgründe erlangte der unbekannt gebliebene Mittäter neben dem Angeklagten tatsächliche Verfügungsgewalt über die Kassenschublade und deren Inhalt (vgl. BGH, Beschluss vom 14. Juli 2020 - 6 StR 161/20, juris Rn. 1).
b) Auch die Einziehungsentscheidung im Fall II.9 der Urteilsgründe über einen weiteren Betrag in Höhe von 6.379,85 € hält sachlich-rechtlicher Nachprüfung nicht stand.
aa) Der Senat vermag anhand der insoweit lückenhaften Urteilsgründe nicht auszuschließen, dass das polizeilich sichergestellte Diebesgut in diesem Fall an den Geschädigten zurückgeführt und der Anspruch auf Rückgewähr erloschen ist (§ 73e Abs. 1 Satz 1 StGB). Selbst wenn eine Rückführung noch nicht erfolgt wäre, ist dem Tatgericht insoweit aus dem Blick geraten, dass die Einziehung hinsichtlich des sichergestellten Diebesgutes in diesem Fall gemäß § 73 Abs. 1 StGB zu erfolgen hätte. Die nicht näher begründete Erwägung des Landgerichts, dass ein Geldbetrag einzuziehen sei, wenn die Einziehung eines Gegenstandes nicht möglich sei, trifft zwar abstrakt zu. Warum hier die Einziehung des sichergestellten Diebesgutes nicht möglich war, erschließt sich indes nicht. Insofern fehlt es an der tatbestandlichen Voraussetzung einer Wertersatzeinziehung (§ 73c Abs. 1 StGB).
bb) Der Rechtsfehler betrifft den gesamten Wert des Diebesgutes im Fall II.9 der Urteilsgründe, auch wenn nach den landgerichtlichen Feststellungen nur ein Teil der Beute im Fluchtfahrzeug aufgefunden wurde. Dies steht nämlich im Widerspruch zu der weiteren Feststellung, dass sämtliche Shishas, Zubehörteile und Alkoholika in das Fahrzeug verladen worden waren. Die Feststellungen sind zudem lückenhaft, weil offenbleibt, ob der Angeklagte Mitverfügungsgewalt an den ebenfalls entwendeten Tageseinnahmen erlangt hat.
cc) Der Rechtsfehler führt - auch hinsichtlich des Mitangeklagten S. (§ 357 Abs. 1 StPO) ? zur Aufhebung der Einziehungsentscheidung im Fall II.9 der Urteilsgründe. Der Senat kann nicht ausschließen, dass eine rechtsfehlerfreie Prüfung in diesem Fall zu einem niedrigeren Einziehungsanspruch gegen beide Angeklagte geführt hätte.
Im Umfang der Aufhebung bedarf die Sache neuer Verhandlung und Entscheidung. Die Feststellungen zum äußeren Tatgeschehen des Einbruchsdiebstahls im Fall II.5 der Urteilsgründe sind von dem Rechtsfehler nicht betroffen und können mit Ausnahme derjenigen zur Täterschaft des Angeklagten bestehen bleiben (§ 353 Abs. 2 StPO). Gleiches gilt für die Feststellungen zum Gesamtstrafenausspruch.
Im Fall II.9 der Urteilsgründe sind die Feststellungen zur Einziehungsentscheidung von der Aufhebung mit betroffen. Das nunmehr zur Entscheidung berufene Tatgericht wird für eine zu treffende Einziehungsentscheidung neue Feststellungen zum Umfang der in das Fluchtfahrzeug verladenen sowie der später sichergestellten Tatbeute und zum Verbleib des entwendeten Bargelds im Hinblick auf eine mögliche Gesamtschuldnerschaft zu treffen haben. Hingegen haben die rechtsfehlerfreien Feststellungen zu dem entwendeten Diebesgut sowie dessen Wert Bestand.
HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 656
Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede