HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 719
Bearbeiter: Christian Becker
Zitiervorschlag: BGH, StB 18/22, Beschluss v. 18.05.2022, HRRS 2022 Nr. 719
Die Beschwerde des Angeklagten gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 12. April 2022 wird verworfen.
Der Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.
Der Angeklagte befindet sich seit dem 7. Januar 2021 ununterbrochen in Untersuchungshaft, zunächst aufgrund des Haftbefehls des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs vom selben Tage und seit dem Invollzugsetzungsbeschluss vom 12. April 2022 aufgrund desjenigen des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 11. April 2022. Der letztgenannte, nach Urteilsverkündung durch das Oberlandesgericht am 23. März 2022 erlassene Haftbefehl ist weiterhin auf den Haftgrund der Fluchtgefahr gestützt und enthält den auch der Verurteilung zugrundeliegenden Vorwurf, der Angeklagte habe sich vom 23. November 2017 bis 20. Oktober 2020 wegen Unterstützung der terroristischen Vereinigung im Ausland „Hai`at Tahrir alSham“ (HTS) in vierzehn Fällen strafbar gemacht, davon in 1 vier Fällen in Tateinheit mit einer Zuwiderhandlung gegen ein Bereitstellungsverbot eines unmittelbar geltenden Rechtsaktes der Europäischen Gemeinschaften oder der Europäischen Union (EUVO 881/2002), der der Durchführung einer vom Rat der Europäischen Union im Bereich der gemeinsamen Außenund Sicherheitspolitik beschlossenen Sanktionsmaßnahme dient; § 129a Abs. 1 Nr. 1, Abs. 5 Satz 1 Alternative 1, § 129b Abs. 1 Satz 1 und 2, §§ 52, 53 StGB, § 18 Abs. 1 Nr. 1 a) Variante 8 AWG i.V.m. der Verordnung (EG) Nr. 881/2002 vom 27. Mai 2002 i.d.F. der Durchführungsverordnung (EU) 2018/55 der Kommission vom 8. Juni 2018. Der Senat hat mit Beschluss vom 10. März 2021 (StB 8/21) eine Haftbeschwerde des Angeklagten verworfen und mit Beschluss vom 11. August 2021 (AK 39/21 und 40/21) im besonderen Haftprüfungsverfahren die Fortdauer der Untersuchungshaft angeordnet. Das Oberlandesgericht hat gegen den Angeklagten wegen der vorgenannten Taten mit Urteil vom 23. März 2022 eine Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren verhängt. Der Angeklagte hat gegen das Urteil, dessen Gründe noch nicht vorliegen, Revision eingelegt.
Mit seiner Haftbeschwerde wendet sich der Angeklagte ausdrücklich gegen die Annahme von (fortbestehender) Fluchtgefahr in dem Haftbefehl vom 11. April 2022 und beantragt, diesen aufzuheben oder den weiteren Vollzug der Untersuchungshaft aus Gründen der Verhältnismäßigkeit auszusetzen. Das Oberlandesgericht hat der Beschwerde durch näher begründeten Beschluss vom 25. April 2022 nicht abgeholfen.
Die gemäß § 304 Abs. 4 Satz 2 Halbsatz 2 Nr. 1 StPO zulässige Beschwerde, die sich der Sache nach zutreffend gegen den Invollzugsetzungsbeschluss vom 12. April 2022 als die zuletzt ergangene den Bestand des Haftbefehls betreffende Haftentscheidung wendet (vgl. BGH, Beschlüsse vom 2. November 2016 - StB 35/16, juris Rn. 6; vom 20. April 2022 - StB 15/22, juris Rn. 7; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Aufl., § 117 Rn. 8 mwN), bleibt in der Sache ohne Erfolg.
1. Gegen den Angeklagten besteht weiterhin der dringende Verdacht im Sinne des § 112 Abs. 1 Satz 1 StPO, er habe zwischen November 2017 und Oktober 2020 im Wissen um die Zwecke und Strukturen der Vereinigung HTS Vermögenswerte, insbesondere Geldmittel, an Repräsentanten dieser Vereinigung transferiert. Wegen der Einzelheiten wird auf den Haftbefehl des Oberlandesgerichts und die Beschlüsse des Senats vom 10. März 2021 und 11. August 2021 verwiesen.
Der dringende Verdacht wird durch das verurteilende Erkenntnis hinreichend belegt (vgl. BGH, Beschlüsse vom 8. Januar 2004 - StB 20/03, BGHR StPO § 112 Tatverdacht 4; vom 30. Mai 2018 - StB 12/18, NStZ-RR 2018, 255 mwN; vom 6. April 2022 - StB 11/22, juris Rn. 5; vom 20. April 2022 - StB 15/22, juris Rn. 9). Es ist zum jetzigen Zeitpunkt jedenfalls nichts dafür ersichtlich, die vom Tatgericht vorgenommene Beweiswürdigung, die ausweislich des Haftbefehls vom 11. April 2022 weit überwiegend von geständigen Angaben des Angeklagten ausgeht, werde einer revisionsgerichtlichen Prüfung nicht standhalten können (vgl. näher BGH, Beschluss vom 28. Oktober 2005 - StB 15/05, NStZ 2006, 297 Rn. 1 mwN).
2. Der Haftgrund der Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO) liegt vor. Nach wie vor erscheint es bei Würdigung der konkreten Umstände des Einzelfalls wahrscheinlicher, dass sich der Angeklagte dem weiteren Verfahren entziehen, als dass er sich ihm zur Verfügung halten werde. Insofern haben sich keine maßgeblichen Änderungen seit dem Haftfortdauerbeschluss des Senats vom 11. August 2021 ergeben. Auf den Haftbefehl vom 11. April 2022 und die Stellungnahme des Generalbundesanwalts vom 2. Mai 2022 wird ergänzend Bezug genommen.
Der bestehende Fluchtanreiz wird insbesondere nicht dadurch wesentlich herabgesetzt, dass sich der Angeklagte inzwischen seit etwa einem Jahr und vier Monaten in Untersuchungshaft befindet. Angesichts der Verurteilung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren droht, eingedenk der noch ausstehenden Rechtskraft und einer etwaigen Aussetzung eines Strafrestes zur Bewährung nach § 57 StGB, ein erheblicher Strafvollzug.
Auch mit Blick auf die in der Beschwerdeschrift und der weiteren Stellungnahme vom 14. April 2022 genannten Gesichtspunkte bestehen an der Annahme (fortdauernder) Fluchtgefahr keine Zweifel. Weder die seitens des Angeklagten abgegebene Versicherung, die Bundesrepublik Deutschland im Falle einer Außervollzugsetzung des Haftbefehls nicht zu verlassen, noch der durch eine mögliche Flucht im Falle der hypothetischen Gestellung einer Sicherheitsleistung durch Familienangehörige des Angeklagten diesen gegenüber etwa eintretende Vertrauensbruch sind geeignet, eine abweichende Beurteilung zu rechtfertigen.
Insgesamt kann der Zweck der Untersuchungshaft, wie bereits in den vorangegangenen Senatsbeschlüssen dargelegt, nicht durch weniger einschneidende Maßnahmen als deren Vollzug erreicht werden (§ 116 StPO).
3. Der fortdauernde Vollzug der Untersuchungshaft steht nach Abwägung zwischen dem Freiheitsgrundrecht des Angeklagten einerseits sowie dem Strafverfolgungsinteresse der Allgemeinheit andererseits nicht außer Verhältnis zur Bedeutung der Sache und der im Fall einer Verurteilung zu erwartenden Strafe (§ 120 Abs. 1 Satz 1 StPO).
Zwar setzt die Verhältnismäßigkeit der Untersuchungshaft unabhängig von der Straferwartung Grenzen. Mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft vergrößert sich regelmäßig das Gewicht des Freiheitsanspruchs gegenüber dem Interesse an einer wirksamen Strafverfolgung. Daraus folgt, dass mit der Dauer der Untersuchungshaft die Anforderungen an die Zügigkeit der Arbeit in einer Haftsache und an den die Haftfortdauer rechtfertigenden Grund zunehmen (vgl. BGH, Beschluss vom 26. Mai 2020 - StB 15/20, juris Rn. 20 mwN). Diesen Erfordernissen ist genügt. Das Oberlandesgericht hat insbesondere die am 18. Oktober 2021 begonnene und 20 Sitzungstage umfassende Hauptverhandlung zügig - mit einer durchschnittlichen Verhandlungsdichte von einem Tag pro Woche - zu Ende geführt. Die Urteilsabsetzungsfrist des § 275 Abs. 1 Satz 2 StPO ist noch nicht abgelaufen.
HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 719
Bearbeiter: Christian Becker