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HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 1088

Bearbeiter: Fabian Afshar/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, AK 30/22, Beschluss v. 20.09.2022, HRRS 2022 Nr. 1088


BGH AK 30/22 - Beschluss vom 20. September 2022 (OLG Düsseldorf)

Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate (dringender Tatverdacht; Fluchtgefahr; besondere Schwierigkeit und der Umfang der Ermittlungen).

§ 112 StPO; § 121 StPO

Entscheidungstenor

Die Untersuchungshaft hat fortzudauern.

Eine etwa erforderliche weitere Haftprüfung durch den Bundesgerichtshof findet in drei Monaten statt.

Bis zu diesem Zeitpunkt wird die Haftprüfung dem Oberlandesgericht Düsseldorf übertragen.

Gründe

I.

Die Angeschuldigte wurde aufgrund Haftbefehls des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs vom 29. November 2021 (2 BGs 572/21) am 11. März 2022 festgenommen. Seit dem Folgetag befindet sie sich ununterbrochen in Untersuchungshaft. Gegenstand des Haftbefehls ist der Vorwurf, die Angeschuldigte habe sich im Irak und in Syrien im Zeitraum zwischen Februar 2014 und Ende September 2020 als Mitglied an einer Vereinigung im Ausland beteiligt, deren Zwecke und Tätigkeit darauf gerichtet gewesen seien, Mord (§ 211 StGB), Totschlag (§ 212 StGB), Völkermord (§ 6 VStGB), Verbrechen gegen die Menschlichkeit (§ 7 VStGB) und Kriegsverbrechen (§§ 8, 9, 10, 11 oder § 12 VStGB) zu begehen, strafbar gemäß § 129a Abs. 1 Nr. 1, § 129b Abs. 1 Satz 1 und 2 StGB.

Unter dem 5. August 2022 hat der Generalbundesanwalt wegen dieser und einer weiteren Tat Anklage beim Oberlandesgericht Düsseldorf gegen die Angeschuldigte erhoben. Er wirft ihr nunmehr zusätzlich vor, sich im Zusammenhang mit einem nichtinternationalen bewaffneten Konflikt, ohne dass dies durch die Erfordernisse des bewaffneten Konflikts geboten gewesen sei, in erheblichem Umfang völkerrechtswidrig Sachen der gegnerischen Partei, die der Gewalt der eigenen Partei unterlegen hätten, angeeignet und hierdurch zugleich eine zweite, tatmehrheitliche mitgliedschaftliche Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung im Ausland begangen zu haben, strafbar nach § 129a Abs. 1 Nr. 1, § 129b Abs. 1 Satz 1 und 2, § 52 StGB, § 9 Abs. 1 VStGB.

II.

Die Voraussetzungen für die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus liegen vor.

1. Gegenstand der Haftprüfung nach §§ 121, 122 StPO ist der vollzogene Haftbefehl des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs. Zu dessen Anpassung oder Erweiterung ist gemäß § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO nur das Oberlandesgericht Düsseldorf befugt. Für die Haftfrage kommt es auf den in der Anklage zusätzlich erhobenen Vorwurf, die Angeschuldigte habe während ihres Aufenthalts im Herrschaftsgebiet der Organisation „Islamischer Staat“ (IS) ein von der Vereinigung erobertes dreistöckiges Haus mit hochwertiger Einrichtung und Whirlpool bewohnt, allerdings nicht an. Denn der haftbefehlsgegenständliche Tatvorwurf trägt die Anordnung der Haftfortdauer.

2. Die Angeschuldigte ist der ihr im Haftbefehl angelasteten Tat dringend verdächtig.

a) Im Sinne eines dringenden Tatverdachts ist von folgendem Sachverhalt auszugehen:

aa) Die Vereinigung „Islamischer Staat“ (IS) ist eine Organisation mit militant-fundamentalistischer islamischer Ausrichtung, die es sich ursprünglich zum Ziel gesetzt hatte, einen das Gebiet des heutigen Irak und die historische Region „ash-Sham“ - die heutigen Staaten Syrien, Libanon und Jordanien sowie Palästina - umfassenden und auf ihrer Ideologie gründenden „Gottesstaat“ unter Geltung der Sharia zu errichten und dazu das Regime des syrischen Präsidenten Assad und die schiitisch dominierte Regierung im Irak zu stürzen. Zivile Opfer nahm und nimmt sie bei ihrem fortgesetzten Kampf in Kauf, weil sie jeden, der sich ihren Ansprüchen entgegenstellt, als „Feind des Islam“ begreift; die Tötung solcher „Feinde“ oder ihre Einschüchterung durch Gewaltakte sieht der IS als legitimes Mittel des Kampfes an.

Die Führung der Vereinigung, die sich mit der Ausrufung des „Kalifats“ am 29. Juni 2014 aus „Islamischer Staat im Irak und in Großsyrien“ (ISIG) in „Islamischer Staat“ (IS) umbenannte, wodurch sie von der territorialen Selbstbeschränkung Abstand nahm, hatte von 2010 bis zu seinem Tod Ende Oktober 2019 Abu Bakr al-Baghdadi inne. Bei der Ausrufung des Kalifats erklärte der Sprecher des IS al-Baghdadi zum „Kalifen“, dem die Muslime weltweit Gehorsam zu leisten hätten. Kurz nach dem Tod al-Baghdadis berief die Organisation Abu Ibrahim al-Haschimi al-Kuraschi zu dessen Nachfolger.

Dem Anführer des IS unterstehen ein Stellvertreter sowie „Minister“ als Verantwortliche für einzelne Bereiche, so ein „Kriegsminister“ und ein „Propagandaminister“. Zur Führungsebene gehören außerdem beratende „Shura-Räte“. Veröffentlichungen werden von eigenen Medienstellen produziert und verbreitet. Das auch von den Kampfeinheiten verwendete Symbol der Vereinigung besteht aus dem „Prophetensiegel“ (einem weißen Oval mit der Inschrift „Allah - Rasul - Muhammad“) auf schwarzem Grund, überschrieben mit dem islamischen Glaubensbekenntnis. Die zeitweilig über mehrere Tausend Kämpfer sind dem „Kriegsminister“ unterstellt und in lokale Kampfeinheiten mit jeweils einem Kommandeur gegliedert.

Die Vereinigung teilte von ihr besetzte Gebiete in Gouvernements ein und richtete einen Geheimdienstapparat ein; diese Maßnahmen zielten auf die Schaffung totalitärer staatlicher Strukturen. Angehörige der irakischen und syrischen Armee, aber auch von in Gegnerschaft zum IS stehenden Oppositionsgruppen, ausländische Journalisten und Mitarbeiter von Nichtregierungsorganisationen sowie Zivilisten, die den Herrschaftsbereich des IS in Frage stellten, sahen sich der Verhaftung, Folter und der Hinrichtung ausgesetzt. Filmaufnahmen von besonders grausamen Tötungen wurden mehrfach vom IS zu Zwecken der Einschüchterung veröffentlicht. Darüber hinaus begeht er immer wieder Massaker an Teilen der Zivilbevölkerung und außerhalb seines Machtbereichs Terroranschläge. So übernahm er für Anschläge in Europa, etwa in Paris, Brüssel und Berlin, die Verantwortung.

Im Jahr 2014 gelang es dem IS, große Teile der Staatsterritorien von Syrien und dem Irak zu besetzen. Er kontrollierte die aneinander angrenzenden Gebiete Ostsyriens und des Nordwestiraks. Ab dem Jahr 2015 geriet die Vereinigung militärisch zunehmend unter Druck und musste schrittweise massive territoriale Verluste hinnehmen. Im August 2017 wurde sie aus ihrer letzten nordirakischen Hochburg in Tal Afar verdrängt. Im März 2019 galt der IS - nach der Einnahme des von seinen Kämpfern gehaltenen ostsyrischen Baghouz - sowohl im Irak als auch in Syrien als militärisch besiegt, ohne dass aber die Vereinigung als solche zerschlagen wäre.

bb) Die Angeschuldigte radikalisierte sich in Deutschland im Sinne der IS-Ideologie und identifizierte sich mit dessen Handlungsweisen und Zielen. Sie heiratete nach islamischem Ritus einen Mann, der ebenfalls dem salafistischen Islam anhing, und reiste mit ihm im Juli 2013 über Ägypten nach Syrien in das Herrschaftsgebiet der Vereinigung aus. Dort schlossen sich beide spätestens im Februar 2014 dem IS an, der Ehemann als Kämpfer, die Angeschuldigte als seine ihm den Haushalt führende Frau. Fortan fügte sie sich den Regeln des IS und förderte dessen Ziele. Sie erfüllte die Aufgaben, die einer Frau nach der Ideologie der Vereinigung zukommen. Dafür wurde sie von der Organisation alimentiert.

Nachdem der Ehemann 2015 im Kampf ums Leben gekommen war, heiratete sie einen weiteren IS-Kämpfer. Dieser verstarb 2016 bei einem Drohnenangriff. Daraufhin vermählte sie sich mit einem dritten IS-Kämpfer. Sie führte auch diesen Männern jeweils den Haushalt und stärkte dadurch deren Kampfkraft.

Im Januar oder Februar 2019 geriet die Angeschuldigte in die Hände von kurdischen Kräften und wurde in das von diesen geführte Lager al-Hawl (Al Hol) verbracht. Dort betrieb sie das IS-Projekt „Justice for Sisters“, in dessen Namen sie über Messenger-Dienste für Spenden an die Insassinnen warb.

Im Dezember 2019 schleuste ein höherrangiger IS-Funktionär sie aus dem Camp heraus. Auch diesen Mann heiratete sie nach islamischem Ritus. Fortan sammelte die Angeschuldigte von ihrem neuen Wohnsitz in I. aus erfolgreich Spenden für die Unterstützung der in den kurdischen Lagern festgesetzten IS-Frauen und deren „Befreiung“. Zu diesem Zweck nahm sie Gelder aus Deutschland entgegen und sorgte für den Transfer zu den „Glaubensschwestern“ in die Camps.

Im September 2020 wurde die Angeschuldigte auf einer Fahrt von I. zum Lager al-Hawl festgenommen und in türkischen Gewahrsam verbracht. Gemeinsam mit ihrer im Februar 2021 geborenen Tochter schob man sie am 11. März 2022 von dort aus nach Deutschland ab.

b) Der dringende Tatverdacht ergibt sich aus Folgendem:

aa) Hinsichtlich der außereuropäischen Vereinigung „Islamischer Staat“ beruht er auf islamwissenschaftlichen Gutachten sowie auf verschiedenen Behördenerklärungen der Geheimdienste und polizeilichen Auswerteberichten. Hierzu liegen vier Sonderbände vor, darunter vom Bundeskriminalamt zusammengetragene Erkenntnisse zur Rolle und Betätigung der Frauen von IS-Kämpfern sowie der ihnen von der Vereinigung zugedachten Funktion im Jihad.

bb) Bei der Haftbefehlseröffnung vor dem Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs hat die Angeschuldigte ein Teilgeständnis abgelegt. Ihre Ausreise und Zugehörigkeit zum IS im Zeitraum von 2014 bis 2019 hat sie eingeräumt und die insoweit erhobenen Tatvorwürfe als im Wesentlichen zutreffend bezeichnet. Mit dem Aufenthalt in al-Hawl sei bei ihr jedoch eine Wesensveränderung eingetreten. Im Lager habe sie sich vom IS distanziert und sei als Abtrünnige bezeichnet worden. Die von ihr über das Internet eingesammelten Spenden habe sie nur für die eigene Ausschleusung genutzt, nicht für Mitgefangene. Ihr letzter Ehemann habe mit dem IS nichts zu tun gehabt. Später habe sie einmalig ihrer ehemaligen Schwiegermutter, die noch im Camp gewesen sei, 400 € zukommen lassen.

cc) Im Übrigen ergibt sich der dringende Tatverdacht hinsichtlich der radikal islamistischen Überzeugungen der Angeschuldigten, ihrer Zugehörigkeit zum und Einbindung in den IS bis zu ihrer Festnahme im September 2020, ihrer Spendensammlung für die IS-Frauen in den Lagern im Rahmen des Projekts „Justice for Sisters“ - auch nach Verlassen des Camps von I. aus - und der höherrangigen Stellung ihres letzten Ehemanns innerhalb des IS in Syrien aus einer Vielzahl von Beweismitteln. Dazu gehören die Auswertung der von der Angeschuldigten betriebenen Onlineplattformen, etwa des Instagram-Accounts“ ", gesicherte Verläufe ihrer WhatsApp-Chats mit Bekannten („alle meine Freunde sind hier“ [im Camp]) und mit einer nicht offen ermittelnden Polizeibeamtin, Zeugenangaben, OSINT-Recherchen und die Analyse von Geldbewegungen auf einem Paypal-Account. Wegen der Einzelheiten wird auf den Haftbefehl, die Anklageschrift (S. 34 bis 43) und die dort jeweils angeführten Nachweise aus der Sachakte Bezug genommen.

c) In rechtlicher Hinsicht ist der unter Gliederungspunkt II. 2. a) geschilderte Sachverhalt im Haftbefehl zutreffend dahin gewürdigt, dass die Angeschuldigte einer mitgliedschaftlichen Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung im Ausland dringend verdächtig ist (§ 129a Abs. 1 Nr. 1, § 129b Abs. 1 Satz 1 StGB). Dies gilt sowohl unter Zugrundelegung des bis zum 21. Juli 2017 nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs maßgeblichen Vereinigungsbegriffs als auch auf der Grundlage der Legaldefinition des seit dem Folgetag gültigen § 129 Abs. 2 i.V.m. § 129a Abs. 1 StGB. Nach beiden Varianten setzt die mitgliedschaftliche Beteiligung an einer Vereinigung zum einen eine gewisse einvernehmliche Eingliederung des Täters in die Organisation (die Mitgliedschaft), zum anderen eine aktive Tätigkeit zur Förderung ihrer Ziele (die Beteiligungshandlungen) voraus. Beide Merkmale sind durch das der Angeschuldigten vorgeworfene Verhalten erfüllt (zu den insoweit nach st. Rspr. anzulegenden Maßstäben s. BGH, Beschluss vom 21. April 2022 - AK 14/22, juris Rn. 28 ff. mwN).

aa) Die Angeschuldigte wurde einvernehmlich in die Organisation des IS aufgenommen. Das Ziel der Ausreise mit ihrem damaligen Mann war dieser Personenverband. Sie begab sich aus eigenem Antrieb in das Herrschaftsgebiet der Vereinigung, um an dem religiös-fundamentalistischen, auf den Regeln der Sharia beruhenden Gemeinwesen teilzuhaben. Im Folgenden hielt sie sich jahrelang freiwillig beim IS auf, wobei sie dessen Regeln befolgte und sich mit der Ideologie, Handlungsweise und den Zielen der Organisation identifizierte. Die Angeschuldigte ordnete sich somit der Vereinigung unter. Dass dies mit deren Willen geschah, folgt bereits daraus, dass der IS ihren Einsatz für die Organisation entlohnte und sie nach dem Tod ihres ersten Ehemanns weiter versorgte.

bb) Die der Angeschuldigten vorgeworfenen Aktivitäten sind auch als aktive Beteiligungshandlungen am IS zu beurteilen. Ihr Verhalten erschöpfte sich von vorneherein nicht in einem bloßen Leben im „Kalifat“. Vielmehr ehelichte sie in kurzer Zeit nacheinander vier IS-Mitglieder, davon drei IS-Kämpfer, denen sie den Haushalt führte. Allein dadurch brachte sie zum Ausdruck, dass es ihr in ihrem Verhalten maßgeblich um die Förderung der Vereinigung ging (vgl. BGH, Beschluss vom 23. Juni 2020 - StB 20/20, Rn. 13 [unveröffentlicht]). Der entschiedene Wille der Angeschuldigten zur Stärkung des IS rechtfertigt es, die Betätigungen im Haushalt, die für sich gesehen noch keine Beteiligungsakte darstellen müssen (s. BGH, Beschlüsse vom 22. März 2018 - StB 32/17, NStZ-RR 2018, 206, 207; vom 21. April 2022 - AK 18/22, juris Rn. 5 ff.; ferner SSW-StGB/ Lohse, 5. Aufl., § 129 Rn. 38), als auf Dauer angelegtes vereinigungstypisches Verhalten zu bewerten. Sie stellen sich in Anbetracht der Einbindung der Angeschuldigten in den IS und ihres Ziels, im Rahmen der ihr von der Vereinigung zugedachten Rolle die Kampfbereitschaft der jeweiligen Ehemänner zu gewährleisten, nicht lediglich als bloße alltägliche Verrichtungen ohne Organisationsbezug - als Erfüllung „häuslicher Pflichten“ - dar (vgl. zum ganzen BGH, Beschluss vom 21. April 2022 - AK 14/22, juris Rn. 35 mwN).

Später engagierte sich die Angeschuldigte für die Organisation, indem sie erfolgreich unter widrigen Umständen Spenden für ihre „Glaubensschwestern“ in den Lagern einsammelte und hierfür jihadistische Inhalte ins Internet stellte. Dies war nicht nur für die einzelnen Frauen, sondern als Propaganda-Maßnahme für die gesamte Vereinigung von Nutzen.

cc) Die nach § 129b Abs. 1 Satz 2 und 3 StGB erforderliche Ermächtigung zur strafrechtlichen Verfolgung liegt hinsichtlich des IS vor.

dd) Deutsches Strafrecht ist anwendbar. Für die mitgliedschaftliche Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung im Ausland ergibt sich dies entweder unmittelbar aus § 129b Abs. 1 Satz 2 Variante 2 und 4 StGB (vgl. BGH, Beschlüsse vom 31. Juli 2009 - StB 34/09, BGHR StGB § 129b Anwendbarkeit 1; vom 6. Oktober 2016 - AK 52/16, juris Rn. 35 f.) oder aus § 7 Abs. 2 Nr. 1 StGB, weil die Angeschuldigte Deutsche ist und jedenfalls die Tat auch in Syrien - als Anschluss an eine terroristische Organisation gemäß Art. 1 und 3 des syrischen Anti-Terror-Gesetzes Nr. 19 vom 28. Juni 2012 - mit Strafe bedroht ist.

3. Es bestehen die Haftgründe der Fluchtgefahr und der Schwerkriminalität.

a) Nach Würdigung aller Umstände ist es wahrscheinlicher, dass sich die Angeschuldigte, auf freien Fuß gesetzt, dem Strafverfahren entziehen, als dass sie sich ihm zur Verfügung halten werde (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO).

aa) Die Angeschuldigte hat angesichts ihrer besonders langen Mitgliedschaft im IS und ihrer vielfältigen Betätigung für die Organisation - zumal in Anbetracht des nunmehr zusätzlich erhobenen Vorwurfs der völkerrechtswidrigen Aneignung von Sachen des Kriegsgegners (§ 9 Abs. 1 VStGB) - im Fall ihrer Verurteilung mit einer empfindlichen Haftstrafe zu rechnen. Von der Straferwartung geht ein erheblicher Fluchtanreiz aus. Denn nach vorläufiger Einschätzung wird der Aufenthalt der Angeschuldigten im kurdischen Flüchtlingslager und im türkischen Gewahrsam nicht nach § 51 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 Satz 2 StGB auf die Freiheitsstrafe anzurechnen sein (vgl. BGH, Beschluss vom 21. April 2022 - AK 14/22, juris Rn. 44; ferner BGH, Urteil vom 1. Juli 2021 - 3 StR 473/20, NStZ-RR 2021, 387).

bb) Dem Fluchtanreiz stehen keine hinreichenden fluchthindernden Umstände entgegen. Hierfür ist zum einen entscheidend, dass die Angeschuldigte bei ihrer Ausreise nach Deutschland alles „Weltliche“, ohne zu zögern, hinter sich ließ, auch die ihr ausweislich der Ermittlungen ehemals sehr zugewandte Mutter, die ihre religiösen Vorstellungen nicht teilt. Feste, belastbare Bindungen bestehen deshalb in und zu Deutschland nicht mehr. Zum anderen hat sich die Angeschuldigte bisher nicht nachvollziehbar vom IS und dessen Glaubensregeln gelöst. Selbst im türkischen Gewahrsam hielt sie sich nur vollverschleiert im Hof auf. Außerdem stand sie jedenfalls dort noch in Kontakt zum Vater ihrer kleinen Tochter, bei dem es sich um den ihr zuletzt angetrauten höherrangigen IS-Funktionär handeln dürfte. Das ergibt sich aus zahlreichen Videosequenzen aus der türkischen Haft, in denen ihre Tochter in englischer Sprache zu etwas aufgefordert wird („Show Papa…"). Für ein Untertauchen im In- und Ausland könnte die Angeschuldigte mit hoher Wahrscheinlichkeit auf ein Netzwerk Gleichgesinnter zurückgreifen (zum erforderlichen Verdachtsgrad hinsichtlich der für die Fluchtgefahr maßgeblichen Tatsachen s. BGH, Beschluss vom 5. Oktober 2018 - StB 43/18 u.a., juris Rn. 37 mwN).

b) Die zu würdigenden Umstände begründen erst recht die Gefahr, dass die Ahndung der Tat ohne die weitere Inhaftierung der Angeschuldigten vereitelt werden könnte, so dass die Fortdauer der Untersuchungshaft bei der gebotenen restriktiven Auslegung des § 112 Abs. 3 StPO (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 65. Aufl., § 112 Rn. 37 mwN) ebenso auf den dort geregelten (subsidiären) Haftgrund gestützt werden kann.

4. Eine - bei verfassungskonformer Auslegung auch im Rahmen des § 112 Abs. 3 StPO mögliche - Außervollzugsetzung des Haftbefehls (§ 116 StPO analog) ist nicht erfolgversprechend. Unter den gegebenen Umständen kann der Zweck der Untersuchungshaft nicht durch weniger einschneidende Maßnahmen als ihren Vollzug erreicht werden.

5. Die Voraussetzungen des § 121 Abs. 1 StPO für die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus liegen vor. Der besondere Umfang der Ermittlungen sowie deren besondere Schwierigkeit haben ein Urteil noch nicht zugelassen und rechtfertigen den weiteren Vollzug der Untersuchungshaft. Der Aktenbestand umfasst mittlerweile 13 Stehordner Hauptbände und 85 Stehordner Beiakten. Das Ermittlungsverfahren ist mit der in Haftsachen gebotenen Zügigkeit geführt worden. Die Anklage ist bereits Anfang August 2022 erhoben und der Angeschuldigten und ihren Verteidigern zugestellt worden. Der Staatsschutzsenat hat angekündigt, in der 37. Kalenderwoche über die Eröffnung zu entscheiden und für den Fall der Eröffnung Anfang November 2022 mit der Hauptverhandlung zu beginnen.

6. Der weitere Vollzug der Untersuchungshaft steht derzeit nicht außer Verhältnis zur Bedeutung der Sache und der im Fall einer Verurteilung zu erwartenden Strafe (§ 120 Abs. 1 Satz 1 StPO).

HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 1088

Bearbeiter: Fabian Afshar/Karsten Gaede