HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 135
Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 305/22, Urteil v. 23.11.2022, HRRS 2023 Nr. 135
1. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Darmstadt vom 3. November 2021 aufgehoben
a) in den Fällen II. 1-20 der Urteilsgründe
b) im Strafausspruch in den Fällen II. 21 und 22 der Urteilsgründe
c) im Ausspruch über die Gesamtstrafe.
2. Die weitergehende Revision wird verworfen.
3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen „unerlaubter Abgabe von Betäubungsmitteln an eine Person unter 18 Jahren in 20 Fällen sowie wegen versuchten Bestimmens einer Person unter 18 Jahren zum unerlaubten Handeltreiben mit Betäubungsmitteln sowie wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge“ zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt und deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt. Die auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützte Revision der Staatsanwaltschaft hat überwiegend Erfolg.
Das Landgericht hat folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:
1. Im Zeitraum Februar/März 2019 verkaufte der Angeklagte in elf Fällen auf einem Spielplatz jeweils 2 Gramm Marihuana für 20 Euro an den 17-jährigen Ko. (Fälle II. 1-11 der Urteilsgründe).
Im Zeitraum Mai/Juni 2019 verkaufte der Angeklagte am Garteneingang zu seiner Wohnung in fünf Fällen jeweils 1 Gramm Marihuana für 10 Euro an den 14-jährigen A. (Fälle II. 12-16 der Urteilsgründe).
Im gleichen Zeitraum verkaufte der Angeklagte am Garteneingang zu seiner Wohnung in einem Fall 0,5 Gramm Marihuana für 5 Euro und in einem weiteren Fall 1 Gramm Marihuana für 10 Euro an den 15-jährigen Ka. (Fälle II. 17 und 18 der Urteilsgründe).
Im Sommer 2019 verkaufte der Angeklagte in zwei Fällen jeweils Marihuana und Haschisch für einen Betrag zwischen 10 und 30 Euro, mithin 1 bis 3 Gramm an den 13-jährigen D. (Fälle II. 19 und 20 der Urteilsgründe).
Im gleichen Zeitraum versuchte der Angeklagte - erfolglos - den 13-jährigen D. dazu zu bestimmen, für ihn als Läufer Marihuana an Dritte zu verkaufen (Fall II. 21 der Urteilsgründe).
Bei einer Durchsuchung am 23. September 2019 wurden in den Wohnräumen des Angeklagten insgesamt 40,45 Gramm Haschisch mit einem THC-Gehalt von 14,24 Gramm, 5,92 Gramm Marihuana sowie 0,8 Gramm Hanfsamen sichergestellt. In einer Sporttasche in einem verschlossenen Kellerraum, welche geringe Mengen Marihuana und Verpackungsmaterial enthielt, wurde ein feststehendes Messer mit Holzgriff und einer Klingenlänge von 30 cm mit Betäubungsmittelanhaftungen gefunden (Fall II. 22 der Urteilsgründe).
2. Das Landgericht hat den Angeklagten in den Fällen II. 1-20 der Urteilsgründe wegen Abgabe von Betäubungsmitteln an eine Person unter 18 Jahren unter Annahme minder schwerer Fälle zu Einzelstrafen zwischen vier und sieben Monaten verurteilt.
Im Fall II. 21 der Urteilsgründe hat es den Angeklagten wiederum unter Annahme eines minder schweren Falles und weiter gemildert nach § 23 Abs. 2, § 49 Abs. 1 StGB wegen versuchten Bestimmens eines Minderjährigen zum Handeltreiben mit Betäubungsmitteln zu der Einsatzstrafe von einem Jahr verurteilt. Schließlich hat es im Fall II. 22 der Urteilsgründe gegen den Angeklagten wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge unter Annahme eines minder schweren Falles eine Freiheitsstrafe von sechs Monaten verhängt. Ein bewaffnetes Handeltreiben liege u.a. deshalb nicht vor, weil das Messer nur dem Portionieren der Betäubungsmittel gedient habe.
1. Das Urteil ist nicht in vollem Umfang angefochten.
a) Zwar hat die Staatsanwaltschaft in ihrer Revisionseinlegungsschrift die allgemeine Sachrüge erhoben und einen umfassenden Aufhebungsantrag gestellt. Widersprechen sich jedoch Revisionsantrag und Inhalt der Revisionsbegründungsschrift, ist unter Berücksichtigung von Nr. 156 Abs. 2 RiStBV das Angriffsziel durch Auslegung zu ermitteln (vgl. BGH, Urteil vom 10. Mai 2017 - 2 StR 427/16 mwN).
b) Danach will die Staatsanwaltschaft nur den Schuldspruch im Fall II. 22 und die Aussprüche über die Einzelstrafen sowie die Gesamtstrafe angreifen, nicht aber die Schuldsprüche in den Fällen II. 1-21 und das Absehen von einer Unterbringungsanordnung gemäß § 64 StGB sowie von einer Einziehungsentscheidung.
c) Dass die Staatsanwaltschaft nach Ablauf der Revisionsbegründungsfrist „klarstellend“ mitgeteilt hat, sie wolle auch die Schuldsprüche in den Fällen II. 1-20 wegen eines Erörterungsmangels hinsichtlich § 30 Abs. 1 Nr. 2 BtMG angreifen, ist unerheblich und vermag die vormalige Beschränkung nicht zu beseitigen (BGH, Urteil vom 22. Juni 2022 - 2 StR 511/21 Rn. 25).
d) Die vorgenommene Beschränkung der Revision ist jedoch nur wirksam, soweit der Schuldspruch im Fall II. 21, die Nichtanordnung des § 64 StGB und die unterbliebene Einziehungsentscheidung vom Rechtsmittelangriff ausgenommen sind. Hinsichtlich der Schuldsprüche in den Fällen II. 1-20 ist die Beschränkung unwirksam. Eine Beschränkung kommt nur dann in Betracht, wenn sich das Teilrechtsmittel auf Beschwerdepunkte bezieht, die nach dem inneren Zusammenhang des Urteils losgelöst von dessen nicht angegriffenen Teilen rechtlich und tatsächlich selbständig beurteilt werden können, so dass die entstehende Gesamtentscheidung frei von inneren Widersprüchen bleibt (vgl. BGH, Urteil vom 11. Juni 2014 - 2 StR 90/14 Rn. 10).
aa) Nach diesem Maßstab ist die Rechtsmittelbeschränkung auf den Strafausspruch unwirksam, weil Schuld- und Strafausspruch hier untrennbar miteinander verknüpft sind, soweit die fehlende Annahme von Gewerbsmäßigkeit in den Fällen II. 1-20 beanstandet wird. Gewerbsmäßiges Handeln ist nämlich nicht nur innerhalb des Strafrahmens des ausgeurteilten § 29a Abs. 2 BtMG von Belang, sondern begründet die Qualifikation des § 30 Abs. 1 Nr. 2 BtMG und tangiert damit auch den Schuldspruch.
bb) Hingegen ist die Nichtanordnung der Unterbringung nach § 64 StGB wirksam vom Rechtsmittelangriff ausgenommen. Es ist nicht ersichtlich, dass die Nichtanordnung der Unterbringung die Strafzumessungsentscheidung der Kammer in irgendeiner Weise beeinflusst hat. Allein der Umstand, dass bei der Strafzumessungsentscheidung und bei der Entscheidung über die Anordnung von Maßregeln doppelrelevante Umstände zu berücksichtigen sind, begründet noch keinen untrennbaren inneren Zusammenhang.
2. Die Schuldsprüche in den Fällen II. 1-20 der Urteilsgründe halten rechtlicher Überprüfung nicht stand. In Anbetracht der Vielzahl der festgestellten Betäubungsmittelverkäufe innerhalb eines kurzen Tatzeitraums und der wirtschaftlichen Verhältnisse des damals arbeitslosen Angeklagten sowie seines eigenen kostenintensiven Alkohol- und Cannabiskonsums hätte die Strafkammer erwägen müssen, ob der Angeklagte die Taten in der Absicht beging, sich eine Einkommensquelle von einiger Dauer und einigen Umfangs zu verschaffen. Indem das Landgericht gewerbsmäßiges Handeln und damit den Qualifikationstatbestand des § 30a Abs. 1 Nr. 2 BtMG nicht erörtert hat, hat es gegen seine umfassende Kognitionspflicht aus § 264 StPO verstoßen.
3. Hingegen hält der Schuldspruch im Fall II. 22 der Urteilsgründe revisionsrechtlicher Überprüfung stand. Entgegen der Ansicht der Revision kommt eine Verurteilung wegen bewaffneten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln gemäß § 30a Abs. 2 Nr. 2 BtMG nach den Feststellungen nicht in Betracht. Danach diente das sich in dem potentiellen Käufern nicht zugänglichen Keller befindliche Messer gemäß dem maßgeblichen Willen des Angeklagten nur zur Portionierung von Betäubungsmitteln, nicht hingegen zur Verletzung von Personen. Bei dem Messer handelte es sich auch nicht um eine gekorene Waffe (§ 1 Abs. 2 Nr. 2b WaffG) oder um eine solche im technischen Sinne (§ 1 Abs. 2 Nr. 2a WaffG), bei der die subjektive Bestimmung zur Verletzung von Personen naheliegt (vgl. dazu BGH, Urteil vom 29. Juli 2021 - 3 StR 445/20, NStZ 2022, 303, 304 mwN).
4. Keinen Bestand hat hingegen der Strafausspruch im Fall II. 22 der Urteilsgründe. Nach den Feststellungen bestand der Abnehmerkreis des Angeklagten aus mehreren Jugendlichen und einem Kind, weshalb sich die Schlussfolgerung aufdrängte, dass auch die am 29. September 2019 bei der Durchsuchung sichergestellten Betäubungsmittel dem gewinnbringenden Weiterverkauf an jenen Abnehmerkreis diente. Dieser Umstand wäre gegebenenfalls bei der Strafrahmenwahl und der konkreten Strafzumessung mit bestimmenden Gewicht zu berücksichtigen gewesen. Damit hätte sich die Strafkammer erkennbar auseinandersetzen müssen (vgl. Senat, Beschluss vom 9. September 2020 - 2 StR 281/20 Rn. 5).
5. Auch die im Fall II. 21 der Urteilsgründe verhängten Strafe unterliegt der Aufhebung. Die Revision beanstandet zu Recht, dass die Strafkammer der Strafrahmenwahl und der konkreten Bemessung der Einzelstrafe einen zu geringen Schuldumfang zugrunde gelegt hat, indem sie „im Zweifel zu Gunsten des Angeklagten“ unterstellt hat, dieser habe den 13-jährigen D. lediglich dazu bestimmen wollen, „eine relativ geringe Menge von ca. 1 Gramm Marihuana für ihn zu verkaufen.“ Dies ist zum einen lebensfremd und steht zudem in Widerspruch zu den Feststellungen, wonach der Angeklagte D. dazu zu bestimmen versuchte, „für ihn Marihuana an Dritte zu verkaufen und wollte, dass D. für ihn laufe und Drogen an andere verkaufe“. Danach sollte D. nicht nur in einem Einzelfall, sondern in einer Vielzahl von Fällen für ihn als Läufer tätig werden und weitaus größere Betäubungsmittelmengen als insgesamt 1 Gramm für ihn absetzen.
6. Der Wegfall bzw. die Aufhebung sämtlicher Einzelstrafen entzieht dem Ausspruch über die Gesamtstrafe die Grundlage. Der neue Tatrichter wird zu erwägen haben, inwieweit dem Urteil des Amtsgerichts Montabaur vom 8. Mai 2019 - sollte die dort verhängte Geldstrafe noch nicht vollstreckt sein - Zäsurwirkung zukommt.
Der Aufhebung von Feststellungen bedurfte es nicht, ergänzende Feststellungen sind möglich.
HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 135
Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede