HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 66
Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 17/22, Beschluss v. 28.04.2022, HRRS 2023 Nr. 66
Auf die Revision der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Aachen vom 29. September 2021 in den Fällen II. 1., II. 3., II. 4. und II. 5. der Urteilsgründe und im Maßregelausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das Landgericht hat die Angeklagte freigesprochen und ihre Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Dagegen wendet sich die Beschwerdeführerin mit ihrer auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützten Revision. Das Rechtsmittel hat Erfolg.
1. Nach den Feststellungen des Landgerichts hat die - einschlägig vorbestrafte - Angeklagte zwischen dem 19. März und dem 1. Dezember 2020 mehrere Körperverletzungshandlungen begangen.
a) Am 19. März 2020 war die Angeklagte wegen „raptusartiger Fremdaggressivität“ in einem Krankenhaus untergebracht. Obwohl ihrer Bitte, das Telefon in dem Stationszimmer nutzen zu dürfen, nicht entsprochen wurde, nahm sie den Hörer in die Hand und fing an zu wählen. Eine Krankenschwester drückte die Telefongabel herunter und unterband den Anrufversuch. Die Angeklagte fühlte sich dadurch provoziert und schlug mit dem oberen Teil des Hörers gegen die Lippe der Krankenschwester, die ein Hämatom und Schmerzen davontrug (Fall II. 1. der Urteilsgründe).
b) Am 10. Juni 2020 kaufte die Angeklagte an einem Kiosk u.a. für ihren Kokainkonsum zwei Glaspfeifen und ein Pfeifensieb. Die Angeklagte, die allenfalls einen ganz geringen Bruchteil des Preises zahlte, lief mit der Ware davon. Die Verkäuferin verfolgte die Angeklagte und forderte sie auf, die Ware zurückzugeben. Die Angeklagte, „die in Ruhe gelassen werden wollte“, drehte sich um und schlug der Verkäuferin ins Auge (Fall II. 3. der Urteilsgründe).
c) Nachdem die herbeigerufenen Polizeibeamten die Angeklagte durchsucht und ihr mitgeteilt hatten, sie sei festgenommen und werde in den Polizeigewahrsam verbracht, stieg sie freiwillig und ungefesselt in den Funkstreifenwagen ein. Während der Fahrt fragte sie, wohin sie mitgenommen werde; nachdem ihr die Polizeibeamtin erneut erklärt hatte, sie sei festgenommen und werde in den Polizeigewahrsam verbracht, schlug ihr die Angeklagte mit beiden Händen ins Gesicht und trat um sich. Die Polizeibeamtin erlitt u.a. eine Kratzwunde. Bei dem Versuch, die Angeklagte sodann aus dem stehenden Funkstreifenwagen auf die Fahrbahn zu bringen und an den Händen zu fesseln, schlug und trat die Angeklagte um sich und kratzte einen weiteren Polizeibeamten (Fall II. 4. der Urteilsgründe).
d) Am 1. Dezember 2020 wurde die Angeklagte aufgrund eines Haftbefehls von Polizeibeamten festgenommen und dem Polizeigewahrsamsdienst übergeben. Eine Konversation war mit der ungefesselten und vor sich hin murmelnden Angeklagten nicht möglich. „Ohne Grund“ fühlte sie sich von einer Polizeibeamtin provoziert und schlug ihr mit der flachen Hand ins Gesicht (Fall II. 5. der Urteilsgründe).
e) Nach Überzeugung des sachverständig beratenen Landgerichts war die Einsichtsfähigkeit der Angeklagten in allen Fällen aufgrund einer „paranoiden Schizophrenie im Rahmen eines wahnhaften Erlebens“ ausgeschlossen. Die Suchterkrankung der Angeklagten sei hingegen nicht handlungsleitend gewesen und habe sich lediglich erschwerend auf ihre paranoide Schizophrenie ausgewirkt.
2. Die Anordnung der Unterbringung der Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB hält rechtlicher Prüfung nicht stand, weil es an einer hinreichenden Grundlage für die zuverlässige Beurteilung der Gefährlichkeit der Angeklagten fehlt.
a) Eine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB kommt nur in Betracht, wenn eine Wahrscheinlichkeit höheren Grades besteht, dass der Täter infolge seines Zustands künftig Straftaten von erheblicher Bedeutung begeht. Die erforderliche Prognose ist auf der Grundlage einer umfassenden Würdigung der Persönlichkeit des Täters, seines Vorlebens und der von ihm begangenen Anlasstat(en) zu entwickeln (vgl. BGH, Beschluss vom 17. März 2021 - 4 StR 527/20, StV 2022, 296 mwN).
b) Diesen Anforderungen wird die Gefahrenprognose nicht in jeder Hinsicht gerecht, da sie auf Widersprüchen zur Schuldfähigkeitsbeurteilung beruht, die das Landgericht nicht aufgelöst hat.
Im Rahmen der Feststellungen zu den Anlasstaten ist das Landgericht davon ausgegangen, dass die Einsichtsfähigkeit der Angeklagten aufgrund einer paranoiden Schizophrenie im Rahmen eines wahnhaften Erlebens aufgehoben war. Zwar hat die Strafkammer - sachverständig beraten - ausgeführt, die Angeklagte erfülle die „Kernsymptome“ einer solchen psychotischen Störung, zu denen Ambivalenz, Antriebsstörung, Autismus und Asozialität zählen; bei der Angeklagten habe es in den einzelnen Fällen jeweils eine derart hohe „psychotische Fehlbewertung“ gegeben, dass sie nicht in der Lage gewesen sei, das Unrecht ihrer Taten einzusehen. Diese Bewertung einer „psychotischen Fehlbewertung“ wird indes aufgrund der getroffenen Feststellungen nicht belegt.
Bei der Prüfung der Gefährlichkeitsprognose hat das Landgericht darauf abgestellt, dass die Psychose der Angeklagten „klar und fortwährend“ vorhanden sei und sich dadurch äußere, dass sie „im Hauptverhandlungstermin motorisch unruhig gewesen sei, immer wieder ihren Oberkörper vor und zurückbewegt habe und eine Winterjacke im Spätsommer getragen habe“. Es könne jederzeit unter Situationsverkennungen zu raptusartigen Gewaltausbrüchen gegenüber beliebigen Personen kommen, wobei sich die Angeklagte „dieser Impulse nicht erwehren könne.“ Dass das insoweit angenommene Fehlen der Steuerungsfähigkeit möglicherweise handlungsleitend gewesen ist, hat das Landgericht in Bezug auf die Anlasstaten indes gerade nicht angenommen.
Diese bei der Beurteilung der Gefahrenprognose zu Tage tretenden Unklarheiten bei der Schuldfähigkeitsbeurteilung lassen sich anhand der Urteilsgründe nicht auflösen, weshalb nicht auszuschließen ist, dass jedenfalls die Beurteilung der Gefährlichkeit der Angeklagten hierauf beruht.
3. Der Umstand, dass allein die Angeklagte Revision eingelegt hat, steht der Aufhebung des aus rechtlichen Gründen erfolgten Freispruchs gemäß § 358 Abs. 2 Satz 2 StPO nicht entgegen (vgl. BGH, Beschlüsse vom 26. September 2012 - 4 StR 348/12, NStZ 2013, 424; vom 20. November 2012 - 1 StR 504/12, NJW 2013, 246, 247; vom 5. August 2014 - 3 StR 271/14, BGHR StPO § 358 Abs. 2 Satz 2 Freispruch 1 und vom 25. April 2017 - 5 StR 78/17), weil die Unterbringung nach § 63 StGB und der auf § 20 StGB gestützte Freispruch gleichermaßen von der Bewertung der Schuldfähigkeit abhängen und deshalb zwischen beiden Entscheidungen aus sachlich-rechtlichen Gründen ein untrennbarer Zusammenhang besteht. Von der Aufhebung nicht betroffen ist der Freispruch aus tatsächlichen Gründen im Fall II. 2. der Urteilsgründe.
4. Für die neue Verhandlung und Entscheidung weist der Senat darauf hin, dass für die Beurteilung der Gefährlichkeit gegebenenfalls § 63 Satz 2 StGB in den Blick zu nehmen sein wird.
HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 66
Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede