HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 637
Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner
Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 527/20, Beschluss v. 17.03.2021, HRRS 2021 Nr. 637
1. Auf die Revision des Beschuldigten wird das Urteil des Landgerichts Bielefeld vom 29. September 2020 mit den Feststellungen aufgehoben.
2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das Landgericht hat im Sicherungsverfahren die Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Hiergegen richtet sich die auf die allgemeine Sachrüge gestützte Revision des Beschuldigten. Das Rechtsmittel hat Erfolg.
Nach den Feststellungen leidet der Beschuldigte an einer chronifizierten paranoid-halluzinatorischen Schizophrenie und an einer multiplen Substanzabhängigkeit.
Der Beschuldigte warf in seiner Wohneinrichtung dem Arzt vom Dienst vor, dass dieser ihn als „Kinderschänder“ bezeichnet habe. Der Arzt nickte während des Zuhörens, um seine Aufmerksamkeit zu signalisieren, was der Beschuldigte aufgrund seines wahnhaften Zustands als Beantwortung seines Vorwurfs auffasste und deshalb wütend das Dienstzimmer verließ. Als der Arzt daraufhin dem Beschuldigten in dessen Zimmer Medikamente anbot, schlug ihm der Beschuldigte unvermittelt mit der Faust ins Gesicht und versetzte ihm sodann einen Schlag auf den Rücken. Der Geschädigte trug eine geschwollene und aufgeplatzte Lippe davon, was der Beschuldigte zumindest billigend in Kauf nahm.
Nach den Feststellungen befand sich der Beschuldigte zum Zeitpunkt der Schläge in einer akut psychotischen Phase, die dazu führte, dass seine Steuerungsfähigkeit erheblich eingeschränkt war.
1. Die Anordnung der Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB hält rechtlicher Prüfung nicht stand, weil es an einer hinreichenden Grundlage für die zuverlässige Beurteilung der Gefährlichkeit des Beschuldigten fehlt.
a) Eine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB kommt nur in Betracht, wenn eine Wahrscheinlichkeit höheren Grades besteht, dass der Täter infolge seines Zustands künftig Straftaten von erheblicher Bedeutung begeht. Die erforderliche Prognose ist auf der Grundlage einer umfassenden Würdigung der Persönlichkeit des Täters, seines Vorlebens und der von ihm begangenen Anlasstat(en) zu entwickeln (vgl. BGH, Beschluss vom 16. Januar 2013 - 4 StR 520/12; Beschluss vom 3. Juni 2015 - 4 StR 167/15; Urteil vom 1. September 2020 - 1 StR 371/19; jeweils mwN).
b) Diesen Anforderungen wird die Gefahrenprognose nicht in jeder Hinsicht gerecht, da sie auf Widersprüchen zur Schuldfähigkeitsbeurteilung beruht, die das Landgericht nicht aufgelöst hat.
Während das Landgericht im Rahmen der Feststellungen zur Anlasstat davon ausgegangen ist, dass allein die Steuerungsfähigkeit des Beschuldigten aufgrund einer krankheitsbedingten Impulskontrollstörung erheblich eingeschränkt war (UA S. 11), hat es bei der Prüfung eines symptomatischen Zusammenhangs zwischen Anlasstat und der „chronifizierten paranoid-halluzinatorischen Schizophrenie“ darauf abgestellt, dass psychotische Symptome im Rahmen eines ausgeprägten Wahnsystems des Beschuldigten, in das das Tatopfer einbezogen gewesen sei, handlungsleitend gewesen seien (UA S. 12). Ersichtlich an letztere Bewertung anknüpfend hat es die Gefährlichkeitsprognose u. a. darauf gestützt, dass die Begehung künftiger erheblicher Körperverletzungsdelikte durch den Beschuldigten deshalb wahrscheinlich sei, weil der Eintritt schwerer Verletzungsfolgen „im Zustand fehlender Unrechtseinsichtsfähigkeit in Kombination mit wahnhaften Zuständen allein vom Zufall“ abhänge (UA S. 14). Das Fehlen der Unrechtseinsicht hat das Landgericht jedoch in Bezug auf die Anlasstat offensichtlich nicht angenommen, da die Tat gerade nicht in einem Zustand der „weitestgehenden Desorientierung“ begangen wurde (UA S. 11).
Diese bei der Beurteilung der Gefahrenprognose zu Tage tretenden Unklarheiten bei der Schuldfähigkeitsbeurteilung lassen sich anhand der Urteilsgründe nicht auflösen, weshalb nicht auszuschließen ist, dass jedenfalls die Beurteilung der Gefährlichkeit des Beschuldigten hierauf beruht.
c) Nicht mehr entscheidungserheblich ist deshalb, dass die Anknüpfungstatsachen für das vom Sachverständigen diagnostizierte „ausgeprägte“ (UA S. 12) bzw. „massiv bizarre“ Wahnsystem (UA S. 14), das Grundlage für die die Gefährlichkeitsprognose stützende Annahme fehlender Unrechtseinsicht ist, im Urteil nicht dargelegt sind.
2. Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat auf Folgendes hin:
a) Auch wenn Verhaltensweisen innerhalb einer Einrichtung gegenüber geschultem Personal nicht ohne Weiteres mit Handlungen in Freiheit gegenüber beliebigen Dritten oder dem Täter nahe stehenden Personen gleichzusetzen sind (vgl. BGH, Beschluss vom 22. Februar 2011 - 4 StR 635/10 mwN), kommt vorliegend in Betracht, der Körperverletzung zum Nachteil des Arztes wegen ihres besonderen Gepräges erhebliches Gewicht i.S.v. § 63 StGB beizumessen.
b) Sollte gemäß § 416 Abs. 2 StPO das Sicherungsverfahren in das Strafverfahren überzuleiten sein, wird auf § 358 Abs. 2 Satz 2 StPO hingewiesen (vgl. BGH, Beschluss vom 1. Juni 2017 - 2 StR 57/17).
HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 637
Externe Fundstellen: StV 2022, 296
Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner