hrr-strafrecht.de - Rechtsprechungsübersicht


HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 1114

Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 474/21, Beschluss v. 20.07.2022, HRRS 2022 Nr. 1114


BGH 2 StR 474/21 - Beschluss vom 20. Juli 2022 (LG Darmstadt)

Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge (nicht geringe Menge: Mindestwirkstoffmenge, Handelsmenge, Menge des Besitzes; Strafzumessung: Rauschgiftmenge, Art des Rauschgifts, Gefährlichkeit, Volksgesundheit); Strafzumessung (Einziehung: Nebenstrafe, Gegenstand von nicht unerheblichem Wert, bestimmender Gesichtspunkt für die Bemessung der daneben zu verhängenden Strafe); erweiterte Einziehung von Taterträgen bei Tätern und Teilnehmern (Forderungen gegenüber Abnehmern aus Drogengeschäften: kein Vermögenszuwachs, nicht werthaltig).

§ 29a BtMG; § 46 StGB; § 74 StGB; § 73a StGB

Leitsatz des Bearbeiters

Forderungen gegenüber Abnehmern aus Drogengeschäften stellen - da nicht werthaltig - keinen Vermögenszuwachs dar.

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Darmstadt vom 11. März 2021 aufgehoben

a) in den Fällen II. 3. bis 5. der Urteilsgründe mit den zugehörigen Feststellungen,

b) im Strafausspruch in den Fällen II. 1., 2., 6., 7., 9. bis 12. der Urteilsgründe und im Ausspruch über die Gesamtstrafe,

c) soweit der PKW des Angeklagten (VW Golf mit dem amtlichen Kennzeichen nebst Zulassungsbescheinigung Teil II) eingezogen worden ist, d) soweit gegen ihn wegen eines Betrags in Höhe von mehr als 85.620 Euro die Einziehung des Wertes von Taterträgen angeordnet worden ist, e) im Ausspruch über die erweiterte Einziehung von Taterträgen mit den zugehörigen Feststellungen.

2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

3. Die weitergehende Revision wird verworfen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in elf Fällen, davon in drei Fällen in Tateinheit mit Besitz von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge und in einem Fall in Tateinheit mit Beihilfe zum Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge sowie wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von acht Jahren und sechs Monaten verurteilt. Daneben hat es die „Einziehung von Taterlangten“ in Höhe von 148.502 Euro, die erweiterte Einziehung von Taterträgen in Höhe von insgesamt 266.648 Euro sowie die Einziehung eines PKW VW Golf mit dem amtlichen Kennzeichen nebst Zulassungsbescheinigung Teil II und mehrerer Mobiltelefone angeordnet. Im Übrigen hat das Landgericht den Angeklagten freigesprochen. Gegen seine Verurteilung wendet sich der Angeklagte mit seiner Revision, mit der er die Verletzung formellen und materiellen Rechts rügt. Das Rechtsmittel hat den aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Teilerfolg (§ 349 Abs. 4 StPO); im Übrigen ist es unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.

1. Die Verfahrensrügen haben aus den Gründen der Antragsschrift des Generalbundesanwalts keinen Erfolg.

2. Die auf die Sachrüge gebotene umfassende materiellrechtliche Überprüfung des Urteils hat keinen durchgreifenden Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten hinsichtlich des Schuldspruchs in den Fällen II. 1., 2. und 6. bis 12. der Urteilsgründe aufgedeckt; in den Fällen II. 3. bis 5. der Urteilsgründe erweist sich der Schuldspruch hingegen als rechtsfehlerhaft.

a) Nach den Feststellungen erwarb der Angeklagte Anfang Juni 2018 200 Gramm Kokain mit einem Wirkstoffgehalt von mindestens 5 Gramm Kokainhydrochlorid und veräußerte - gestreckt - jedenfalls 170 Gramm bis Dezember 2019 an seine Abnehmer. 30 Gramm des Kokains konsumierte er selbst (Fall II. 3. der Urteilsgründe). Im Januar 2019 erwarb der Angeklagte ca. 500 Gramm Kokain, das nach dem Strecken einen Wirkstoffgehalt von 85,1% Kokainhydrochlorid aufwies, und das er in der Folgezeit ganz überwiegend an Abnehmer veräußerte; eine „geringfügige Menge“ konsumierte der Angeklagte selbst (Fall II. 4. der Urteilsgründe). Mitte April/Anfang Mai 2019 erwarb der Angeklagte eine Menge von einem Kilogramm Kokain, dass nach dem Strecken einen Wirkstoffgehalt von 78,3% aufwies. Das Kokain veräußerte er „abzüglich einer geringen Menge für den Eigenkonsum“ gewinnbringend weiter (Fall II. 5. der Urteilsgründe).

Das Landgericht hat diese drei Taten jeweils als Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit Besitz von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge gewertet.

b) Diese rechtliche Würdigung erweist sich als rechtsfehlerhaft.

aa) Die im Fall II. 3. der Urteilsgründe für die Gesamtmenge von 200 Gramm Kokain zugrunde gelegte - unrealistisch niedrige (vgl. auch BGH, Beschluss vom 16. Juli 2019 - 4 StR 1/19, juris, Rn. 4) - Mindestwirkstoffmenge von 5 Gramm Kokainhydrochlorid entspricht genau dem Grenzwert für die nicht geringe Menge von Kokainhydrochlorid (Senat, Urteil vom 1. Februar 1985 - 2 StR 685/84, BGHSt 33, 133 ff.). Da der Angeklagte von dieser Menge 30 Gramm Kokain selbst konsumierte, erreichen weder die verbleibende Handelsmenge von 170 Gramm noch die Menge des (Eigen-)Besitzes von 30 Gramm die für den Schuldspruch gemäß § 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG erforderliche nicht geringe Menge.

bb) In den Fällen II. 4. und 5. der Urteilsgründe kann der Senat anhand der Feststellungen nicht prüfen, ob der Schuldspruch wegen (tateinheitlichen) Besitzes von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu Recht erfolgt ist.

Zwar wird die Wirkstoffmenge hier genau bezeichnet; der vom Angeklagten jeweils konsumierte Eigenanteil wird jedoch nur als „geringfügige“ bzw. als „geringe Menge“ beschrieben. Die jeweilige Verurteilung wegen Besitzes von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge kann daher keinen Bestand haben und hat auch die Aufhebung des Schuldspruchs wegen des tateinheitlich - rechtsfehlerfrei - ausgeurteilten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in den Fällen II. 4. und 5. der Urteilsgründe zur Folge.

3. Der Strafausspruch erweist sich lediglich im Fall II. 8. der Urteilsgründe als frei von Rechtsfehlern; in den Fällen II. 1., 2., 6., 7. und 9. bis 12. der Urteilsgründe halten die Strafen rechtlicher Nachprüfung nicht stand; die Gesamtstrafe unterfällt ebenfalls der Aufhebung.

a) Im Fall II. 6. der Urteilsgründe hat das Landgericht bei der Zumessung der Einzelstrafe von drei Jahren unter anderem straferschwerend gewertet, dass der Angeklagte mit fünf Kilogramm Haschisch der Sorte „Kush“ gehandelt habe. Feststellungen zur Wirkstoffmenge des gehandelten Haschischs hat es nicht getroffen und damit einen für die Bestimmung des Schuldumfangs wesentlichen Umstand außer Betracht gelassen. Zwar kommt auch der Rauschgiftmenge als solcher, ebenso wie der Art des Rauschgifts und seiner Gefährlichkeit im Rahmen der Strafzumessung eine eigenständige Bedeutung zu. Dies ändert aber nichts daran, dass im Hinblick auf die durch das Betäubungsmittelgesetz geschützte Volksgesundheit die Wirkstoffmenge ein wesentlicher Umstand zur Beurteilung der Schwere der Tat und zur Bestimmung des Schuldumfangs ist (st. Rspr.; vgl. Senat, Beschluss vom 26. Mai 2020 - 2 StR 44/20, juris Rn. 6 mwN). Angesichts der gehandelten Menge von fünf Kilogramm Haschisch der Sorte „Kush“ kann der Senat allerdings ausschließen, dass sich der Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten auf den Schuldspruch ausgewirkt hat.

b) Die in den Fällen II. 1., 2., 7. und 9. bis 12. der Urteilsgründe verhängten Einzelstrafen unterliegen ebenfalls der Aufhebung. Der Senat vermag insbesondere die unterschiedliche Bemessung der Strafen in den Fällen II. 1., 2., 9. und 12. der Urteilsgründe mit Blick auf die jeweiligen Mengen der gehandelten Betäubungsmittel und vor dem Hintergrund der einheitlichen Strafzumessungserwägungen nicht nachzuvollziehen.

So hat das Landgericht im Fall II. 1. der Urteilsgründe, der den Handel mit gestreckten 60 Gramm Kokain mit einer Mindestwirkstoffmenge von 5 Gramm Kokainhydrochlorid zum Gegenstand hat, eine Freiheitsstrafe von vier Jahren verhängt, im Fall II. 2. der Urteilsgründe („Ripp-Deal“ mit zwei Kilogramm Kokain) hingegen - möglicherweise aufgrund einer Verwechselung mit Fall II. 1. der Urteilsgründe - lediglich eine Freiheitsstrafe in Höhe von einem Jahr. Die Bemessung der Einzelstrafen in den Fällen II. 6. der Urteilsgründe (Einzelstrafe von drei Jahren für den Handel mit fünf Kilogramm Haschisch) und Fall II. 9. der Urteilsgründe (Einzelstrafe von zwei Jahren für den Handel mit ebenfalls fünf Kilogramm Haschisch) folgen ebenfalls keinem in sich stimmigen System; im Fall II. 12. der Urteilsgründe hat die Strafkammer bei einer Handelsmenge von insgesamt 30 Kilogramm Haschisch lediglich eine Freiheitsstrafe von acht Monaten verhängt.

Der Senat hat auch die Einzelstrafen in den Fällen II. 7., 10. und 11. der Urteilsgründe aufgehoben, um dem neuen Tatrichter eine umfassende und ausgewogene neue Strafzumessung hinsichtlich aller Betäubungsmittelstraftaten zu ermöglichen. Der Aufhebung von Feststellungen bedarf es nicht, da lediglich Wertungsfehler im Raum stehen. Weitere - widerspruchsfreie - Feststellungen sind möglich und - im Fall II. 6. der Urteilsgründe hinsichtlich der Wirkstoffmenge - geboten.

c) Der Wegfall der in elf Fällen festgesetzten Einzelstrafen entzieht der Gesamtstrafe die Grundlage.

4. Die Anordnung der Einziehung des im Fall II. 9. der Urteilsgründe genutzten PKW VW Golf, amtliches Kennzeichen nebst Zulassungsbescheinigung Teil II, hat keinen Bestand, weil das Landgericht die Wechselwirkung zwischen Strafe und Einziehung nicht bedacht hat.

Die Einziehung des Fahrzeugs hat das Landgericht ? im Ansatz zutreffend ? auf § 74 Abs. 1 StGB gestützt. Eine Maßnahme nach dieser Vorschrift hat den Charakter einer Nebenstrafe und stellt damit eine Strafzumessungsentscheidung dar (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschluss vom 14. September 2021 - 4 StR 21/21, StV 2022, 24, 25 mwN). Wird dem Täter auf diese Weise ein ihm zustehender Gegenstand von nicht unerheblichem Wert entzogen, so ist dies ein bestimmender Gesichtspunkt für die Bemessung der daneben zu verhängenden Strafen und insoweit im Wege einer Gesamtbetrachtung der den Täter treffenden Rechtsfolgen angemessen zu berücksichtigen (vgl. BGH, aaO). Dem Urteil ist bereits der Wert des PKW nicht zu entnehmen. Der Senat kann nicht ausschließen, dass das Fahrzeug einen nicht unerheblichen Wert hatte und die Strafkammer bei Beachtung der dargelegten Grundsätze zu einer milderen Bestrafung gelangt wäre. In Folge des inneren Zusammenhangs zwischen Strafausspruch und Einziehung unterliegt insoweit auch die Einziehungsentscheidung der Aufhebung, ohne dass es hier der Aufhebung von Feststellungen bedarf.

5. Die Aufhebung der Fälle II. 3. bis 5. der Urteilsgründe entzieht der insoweit getroffenen Einziehungsentscheidung die Grundlage. Im Übrigen belegen die Feststellungen zu den Fällen II. 1., 2., 6., 7., 9. bis 12. der Urteilsgründe die Einziehung des Wertes von Taterträgen in Höhe von lediglich 85.620 Euro. Der Senat entscheidet insoweit in der Sache selbst (§ 354 Abs. 1 StPO analog).

6. Die Anordnung der erweiterten Einziehung nach § 73a StGB hat keinen Bestand.

a) Die Anordnung der erweiterten Einziehung steht mit der Anordnung der Einziehung des Wertes von Taterträgen hier in einem untrennbaren inhaltlichen Zusammenhang. Das Landgericht hat den Betrag in der Weise ermittelt, dass es von einem rechnerischen Gesamtbetrag von 378.000 Euro einen Betrag in Höhe von 111.552 Euro in Abzug gebracht hat, der - wie vom Generalbundesanwalt in seiner Antragsschrift näher dargelegt ist - fehlerhaft berechnet worden ist. Zudem sind dabei der Einziehung unterliegende Taterträge eingestellt worden, die nunmehr wegen der Aufhebung der Schuldsprüche in den Fällen II. 3. bis 5. der Urteilsgründe in Wegfall geraten sind. Das teilweise Entfallen bzw. die Änderung der Höhe des gemäß § 73 Abs. 1 StGB oder § 73c Satz 1 StGB der Einziehung unterliegenden Betrages bleibt daher nicht ohne Auswirkung auf den Betrag, hinsichtlich dessen eine erweiterte Einziehung in Betracht kommt (vgl. auch BGH, Beschluss vom 23. Mai 2019 - 4 StR 417/18, juris Rn. 16).

b) Es erweist sich zudem als rechtsfehlerhaft, dass das Landgericht im Rahmen der erweiterten Einziehung von Taterträgen den Wert von Betäubungsmitteln in Höhe von 100.000 Euro eingestellt hat, die der Angeklagte besessen und aufgrund anderer rechtswidriger Taten erlangt hat. Betäubungsmittel unterliegen als Beziehungsgegenstände nicht der Einziehung von Taterträgen nach §§ 73, 73a StGB. Entsprechendes gilt für die vom Landgericht in die Berechnung der erweiterten Einziehung von Taterträgen eingestellten „Außenstände“ gegenüber Abnehmern in Höhe von weiteren 100.000 Euro. Forderungen gegenüber Abnehmern aus Drogengeschäften stellen - da nicht werthaltig - keinen Vermögenszuwachs dar (vgl. BGH, Beschluss vom 2. Oktober 2012 - 3 StR 320/12, BeckRS 2012, 22146).

Der Senat hebt die Entscheidung über die erweiterte Einziehung insgesamt mit den Feststellungen auf, um dem neuen Tatrichter Gelegenheit zu neuer Prüfung und Berechnung der insoweit einzustellenden Vermögenspositionen zu geben.

HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 1114

Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede