HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 170
Bearbeiter: Karsten Gaede/Julia Heß
Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 380/21, Beschluss v. 23.11.2021, HRRS 2022 Nr. 170
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Kassel vom 17. Juni 2021 mit den Feststellungen aufgehoben, soweit die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angeordnet worden ist.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Schwurgericht zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
2. Die weitergehende Revision wird verworfen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt und seine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angeordnet. Die auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten erzielt den aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Erfolg. Im Übrigen ist sie unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).
1. Nach den Feststellungen des Landgerichts tranken der Angeklagte und der Geschädigte in dessen Wohnzimmer am 9. August 2020 erhebliche Mengen Alkohol und sahen fern. Als der Geschädigte mit seiner Ehefrau telefonierte, ging der Angeklagte in das Badezimmer, wo er sich längere Zeit aufhielt. Gegen 2.50 Uhr nahm er in der Küche ein breites, scharf geschliffenes Küchenbeil mit einer Gesamtlänge von 30 cm und einer Klingenlänge von 15 cm an sich, ging ins Wohnzimmer zurück und schlug anlass- und wortlos mit dem Beil in Richtung des Kopfes des Geschädigten, wobei er die Möglichkeit erkannte, dass dieser hierdurch zu Tode kommen könnte, was er zumindest billigend in Kauf nahm. Der Schlag verursachte lediglich Wunden an der linken Wange und am linken Ohrläppchen, da der Geschädigte den Schlag aus dem Augenwinkel bemerkte und den Kopf nach hinten zurückziehen konnte. Der Geschädigte wehrte sich sodann, wobei das Beil zu Boden fiel und unter das Bett rutschte, und verließ die Wohnung. Ein gegen 3.30 Uhr durchgeführter Atemalkoholtest ergab bei dem Angeklagten einen Wert von 2,22 Promille.
Die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten war im Tatzeitpunkt aufgrund der Alkoholintoxikation erheblich vermindert.
2. Die getroffenen Feststellungen tragen den Schuldspruch. Auch der Strafausspruch ist frei von Rechtsfehlern zum Nachteil des Angeklagten.
3. Dagegen hält die Anordnung der Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB) rechtlicher Prüfung nicht stand.
a) Die Annahme des Landgerichts, die abgeurteilte Tat habe Symptomwert für den Hang des Angeklagten zum übermäßigen Konsum von Alkohol, beruht auf einer unvollständigen Würdigung und ist damit nicht hinreichend belegt.
aa) Die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt setzt nach § 64 Satz 1 StGB voraus, dass die Anlasstat im Rausch begangen wurde oder zumindest mitursächlich auf den Hang zurückgeht. Erforderlich ist, dass die konkrete Tat in dem Hang ihre Wurzel findet, sie also Symptomwert für den Hang des Täters zum Missbrauch von Alkohol oder anderen berauschenden Mitteln hat, indem sich in ihr seine hangbedingte Gefährlichkeit äußert (vgl. BGH, Beschluss vom 12. März 2014 ? 4 StR 572/13, Rn. 4 mwN). Handelt es sich bei der Anlasstat um eine Konflikttat oder um eine Tat nach einer vorausgegangenen Provokation durch das Tatopfer, liegt ein symptomatischer Zusammenhang wenig nahe (vgl. BGH, Urteil vom 20. September 2011 ? 1 StR 120/11, NStZ-RR 2012, 72, 74 mwN). Da die Unterbringung nach § 64 StGB eine den Angeklagten beschwerende Maßregel darstellt, muss der Zusammenhang bei einer Anordnung sicher feststehen (vgl. BGH, Beschluss vom 15. Juli 2020 - 4 StR 89/20, Rn. 8 mwN). Es ist stets eine sorgfältige und umfassende Analyse der konkreten Bedingungen erforderlich (vgl. Senat, Beschluss vom 23. April 2019 - 2 StR 61/19, NStZ-RR 2019, 244 mwN).
bb) Die nach diesen Maßstäben gebotene umfassende Würdigung sämtlicher Umstände lässt das angefochtene Urteil vermissen.
Das Landgericht hat seine Feststellung, dass die Tat auf den Hang des Angeklagten zum übermäßigen Alkoholkonsum zurückgeht, nicht begründet. Soweit es sich im Rahmen der Beurteilung der Schuldfähigkeit den Ausführungen der Sachverständigen angeschlossen hat, wonach Alkohol aggressives Verhalten fördere, wird mit dieser allgemeinen Formulierung nicht der konkret zu würdigende symptomatische Zusammenhang zwischen Hang und Anlasstat belegt.
Zwar liegt ein symptomatischer Zusammenhang bei einer Tatbegehung im Rausch nahe (vgl. Senat, Beschluss vom 28. April 2020 - 2 StR 95/20, Rn. 6). Jedoch hätte das Landgericht erörtern müssen, ob der nicht vorbestrafte Angeklagte auch sonst unter dem Einfluss von Alkohol zu aggressivem Verhalten neigt. Ebenso wenig hat sich das Landgericht mit der Möglichkeit auseinandergesetzt, dass die Tat allein durch einen Konflikt zwischen dem Angeklagten und dem Geschädigten ausgelöst worden sein kann, zumal eine anlasslose Tötung auch bei Alkoholisierung des Täters hier nur schwer vorstellbar ist.
b) Das Landgericht hat daneben die gemäß § 64 Satz 2 StGB erforderliche Erfolgsaussicht bejaht, ohne in die notwendige Gesamtwürdigung alle für die Prüfung der Erfolgsaussicht wesentlichen Umstände einzustellen.
aa) Die Sprachunkundigkeit eines Ausländers kann zwar nicht ohne Weiteres allein ein Grund für einen Verzicht auf seine Unterbringung sein (vgl. nur BGH, Beschluss vom 17. August 2011 - 5 StR 255/11, StV 2012, 281, 282; Senat, Beschluss vom 12. März 2014 - 2 StR 436/13, StV 2014, 545; BGH, Urteil vom 6. Juli 2017 - 4 StR 124/17, BGHR StGB § 64 Satz 2 Erfolgsaussicht 4, jeweils unter Bezugnahme auf den Bericht und die Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses, BT-Drucks. 16/5137, S. 10). So genügt es regelmäßig für eine erfolgversprechende Maßregelanordnung, wenn der Betreffende zumindest über Grundkenntnisse der deutschen Sprache verfügt (BGH, Beschluss vom 20. Juni 2001 - 3 StR 209/01, NStZ-RR 2002, 7).
Hingegen muss nicht gegen jeden Sprachunkundigen eine Unterbringung nach § 64 StGB angeordnet werden, insbesondere dann nicht, wenn eine therapeutisch sinnvolle Kommunikation mit ihm absehbar nur schwer oder gar nicht möglich sein wird (BGH, Beschluss vom 28. Oktober 2008 - 5 StR 472/08, BGHR StGB § 64 Nichtanordnung 2; Beschluss vom 17. August 2011 - 5 StR 255/11, StV 2012, 281, 282; Senat, Beschluss vom 12. März 2014 - 2 StR 436/13, StV 2014, 545; BGH, Beschluss vom 29. Juni 2016 - 1 StR 254/16, BGHR StGB § 72 Sicherungszweck 9). Bei weitgehender Sprachunkundigkeit wird die Annahme fehlender Erfolgsaussicht nahe liegen (vgl. BGH, Beschluss vom 22. Januar 2013 - 3 StR 513/12, BGHR StGB § 64 Satz 2 Erfolgsaussicht 1). Im Übrigen beabsichtigte der Gesetzgeber mit der Umgestaltung von § 64 StGB zu einer Soll-Vorschrift auch die Schonung der Behandlungskapazitäten, die bis dahin durch eine nicht zu vernachlässigende Anzahl von in Anbetracht des Heilungszwecks weniger geeigneten Personen blockiert wurden (vgl. BGH, Urteil vom 18. Dezember 2007 - 1 StR 411/07, StV 2008, 138). Deshalb sollte nach dem Willen des Gesetzgebers ein Absehen von der Maßregelanordnung insbesondere bei ausreisepflichtigen Ausländern ermöglicht werden, bei denen infolge erheblicher sprachlicher Verständigungsprobleme eine erfolgversprechende Therapie kaum vorstellbar ist (BT-Drucks. aaO; vgl. auch BGH, Beschluss vom 17. Juli 2018 - 4 StR 173/18, Rn. 8 mwN).
bb) Diesen vorgenannten Maßstäben wird die angefochtene Entscheidung nicht gerecht.
Das Landgericht hat zwar gewürdigt, dass bei dem Angeklagten derzeit Krankheitseinsicht und Therapiemotivation bestehen und er noch keine „wesentlichen Vollzugserfahrungen gesammelt“ habe. Aufgrund der bestehenden Sprachprobleme verlängere sich die regulär auf zwei Jahre angelegte Behandlung um ein Jahr, da dem Angeklagten im Rahmen eines spezifischen Angebots für Spracherwerb und Integration („Sprint“) in der Klinik zunächst die für eine erfolgreiche Behandlung notwendigen Sprachkenntnisse vermittelt würden.
Diese Ausführungen genügen den Anforderungen an die gebotene Gesamtwürdigung zur hinreichend konkreten Erfolgsaussicht der Unterbringungsanordnung nicht. Obwohl die Feststellungen zu den persönlichen Verhältnissen des Angeklagten dazu drängten, hat das Landgericht die Gründe für seine Annahme, die Sprachbarriere könne während der Therapie abgebaut werden, nicht tatsachenfundiert anhand der Person des Angeklagten dargelegt. So hat es nicht in den Blick genommen, dass der Angeklagte lediglich drei Jahre in Indien die Schule besuchte, vom 15. bis zum 28. Lebensjahr dort als Tagelöhner arbeitete und seit seiner Einreise nach Deutschland im Jahr 2008 die deutsche Sprache nur schlecht erlernte. Im Übrigen hat es den Umstand, dass der Angeklagte als abgelehnter Asylbewerber ausreisepflichtig sein könnte, nicht in seine Abwägung eingestellt.
4. Da weitergehende Feststellungen zu den Voraussetzungen des § 64 StGB nicht ausgeschlossen sind, bedarf die Frage der Anordnung der Maßregel neuer Verhandlung und Entscheidung. Der Senat hebt die zugehörigen Feststellungen auf (§ 353 Abs. 2 StPO), um dem neuen Tatgericht insgesamt - unter Hinzuziehung eines Sachverständigen (§ 246a StPO) ? eine neue Überprüfung der Maßregelvoraussetzungen zu ermöglichen. Umfasst von der Aufhebung sind damit insbesondere die Feststellungen zum fehlenden Anlass der Tat.
HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 170
Externe Fundstellen: NJW 2022, 955; NStZ-RR 2022, 41; StV 2022, 298
Bearbeiter: Karsten Gaede/Julia Heß