HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 429
Bearbeiter: Karsten Gaede/Julia Heß
Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 323/21, Urteil v. 19.01.2022, HRRS 2022 Nr. 429
1. Die Revision des Nebenklägers gegen das Urteil des Landgerichts Meiningen vom 26. April 2021 wird verworfen.
2. Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels und die dem Angeklagten hierdurch entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Die hiergegen gerichtete Revision des Nebenklägers bleibt ohne Erfolg.
1. Nach den Feststellungen des Landgerichts lernte der mit einem IQ von 58 intelligenzgeminderte Angeklagte den Geschädigten N. bereits im Jahre 2016 kennen. Sie waren eine Zeit lang befreundet, verloren sich dann aber aus den Augen. Im Sommer 2020 trafen sie sich wieder und stellten fest, nicht weit voneinander zu wohnen. Der Geschädigte war seit einiger Zeit mit der Zeugin G. liiert, einer Sozialpädagogin, die für die Betreuung von Flüchtlingen zuständig war. In dieser Funktion hatte sie auch eine Zeit lang mit dem Angeklagten zu tun, der auf sie fixiert war, wobei offenblieb, ob er sie sich als Partnerin oder als eher mütterlichen Beistand wünschte. Jedenfalls stellte er ihr nach und beobachtete sie, was er auch dem Geschädigten mitteilte.
Am 26. Oktober 2020 begaben sich der Geschädigte N. und die Zeugin G. in die Wohnung des Geschädigten, um dort für dessen Zwischenprüfung zu lernen. Gegen 18.30 Uhr verließ der Nebenkläger die Wohnung, um bei einem nur wenige Minuten entfernten Restaurant etwas zu essen zu holen. Der Angeklagte beobachtete den Geschädigten, als dieser vor dem Restaurant auf das Essen wartete. Der Angeklagte entschloss sich, N. im Eingangsflur aufzulauern, anzugreifen und zu verletzen, weil er auf ihn wegen dessen Beziehung zur Zeugin G. eifersüchtig war. Möglicherweise wollte er sich auch noch den Schlüssel zur Wohnung des Geschädigten besorgen, um zur Zeugin G. zu gelangen.
Er ging zum Wohnhaus des Nebenklägers, betrat den Vorflur und stellte sich rechts neben die Eingangstür, so dass er von einer den Vorflur betretenden Person nicht gesehen werden konnte. Er war mit einem Küchenmesser mit einer ca. 10 cm langen Klinge bewaffnet. Gegen 18.45 Uhr kam der Geschädigte in den Vorflur und wollte mit seinem Schlüssel die anschließende Tür öffnen. In diesem Moment griff der Angeklagte N. von hinten an. Er rief „Fick Deine Schwester, keine Bewegung“, griff mit dem mit dem Messer bewaffneten Arm um den Nebenkläger herum und stach nicht sehr kräftig - jedenfalls aber in der Absicht, den Geschädigten im Hals- oder Oberkörperbereich zu treffen und dort zu verletzen - mit dem Messer in diese Region. Der Angeklagte wusste dabei, dass ein Messerstich dorthin, der angesichts der Umstände nicht genau zu dosieren war, für den Geschädigten lebensgefährlich war, auch wenn er ihn nicht töten wollte. Er wusste zudem, dass er hinterlistig handelte, weil das Opfer ihm den Rücken zudrehte und er es angriff, ohne dass dieses diesen Angriff vorhersehen und sich dagegen verteidigen konnte. Der vollkommen überraschte Geschädigte, der im Begriff war, sich umzudrehen, wurde unterhalb des Kehlkopfs im Bereich der Drosselgrube getroffen. Das Messer drang - wenn auch nicht sehr tief - in den Hals ein und perforierte minimal die Luftröhre. Wie tief der Stich war, konnte das Landgericht nicht feststellen.
Einen weiteren mit Verletzungsabsicht geführten Stich konnte der Geschädigte, der in das Messer griff und dadurch Verletzungen am Arm und am Unterarm davontrug, abwehren; infolge des Kampfs um das Messer brach die Klinge ab. Im weiteren Verlauf der mindestens fünf Minuten dauernden körperlichen Auseinandersetzung, deren genauer Verlauf nicht geklärt werden konnte, erlitt auch der Angeklagte Schnittverletzungen, die nur dadurch erklärbar sind, dass der Geschädigte ihn mit der abgebrochenen Klinge des Messers angegriffen hatte. Am Ende der Auseinandersetzung stolperte der Nebenkläger und ging zu Boden. In diesem Augenblick betraten von Passanten herbeigerufene Polizeibeamte den Vorflur, die Auseinandersetzung fand ihr Ende.
Beide Beteiligten wurden ins Krankenhaus eingeliefert. Der Geschädigte erlitt neben weiteren Schnittverletzungen am Unterarm und mehreren Hautläsionen an Hand und Kopf einen 3 cm langen, vertikalen Hautschnitt mit unbekannter Tiefe im Bereich der Drosselgrube mit minimaler Perforation der Luftröhre. Er wurde vorsorglich in ein künstliches Koma versetzt. Eine operative Versorgung war schließlich nicht nötig, da die Perforation sich von selbst wieder schloss. Eine konkrete Lebensgefahr bestand nicht. Der Messerstich war aber abstrakt geeignet, das Leben des Geschädigten zu gefährden. Beim Angeklagten wurden Stichverletzungen an Schulter, Arm und unterhalb der Drosselgrube festgestellt, die sämtlich genäht werden mussten.
2. Das Landgericht hat den Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung verurteilt; eine Strafbarkeit wegen versuchten Mordes hat es nicht angenommen, da der Angeklagte nicht mit zumindest bedingtem Tötungsvorsatz gehandelt habe.
Die Revision des Nebenklägers bleibt ohne Erfolg; die Würdigung des Landgerichts, der Angeklagte habe nicht mit (bedingtem) Tötungsvorsatz gehandelt, weist keine durchgreifenden Rechtsfehler auf.
1. Bedingten Tötungsvorsatz hat, wer den Eintritt des Todes als mögliche, nicht ganz fernliegende Folge seines Handelns erkennt (Wissenselement) und dies billigt oder sich um des erstrebten Ziels willen zumindest mit dem Eintritt des Todes abfindet (Willenselement), mag ihm der Erfolgseintritt auch gleichgültig oder an sich unerwünscht sein (st. Rspr.; vgl. Senat, Urteil vom 24. April 2019 ? 2 StR 377/18, juris Rn. 7 ff.; BGH, Urteile vom 27. Juli 2017 ? 3 StR 172/17, NStZ 2018, 37, 38; vom 11. Oktober 2016 ? 1 StR 248/16, NStZ 2017, 25; vom 14. August 2014 ? 4 StR 163/14, NStZ 2015, 266, 267 jeweils mwN). Ob der Täter nach diesen rechtlichen Maßstäben bedingt vorsätzlich gehandelt hat, ist in Bezug auf beide Elemente im Rahmen der Beweiswürdigung umfassend zu prüfen und durch tatsächliche Feststellungen zu belegen (vgl. Senat, Beschluss vom 30. Juli 2019 - 2 StR 122/19, NStZ 2020, 288, 289). Zwar liegt es bei gefährlichen Gewalthandlungen, wie einem Messerstich gegen den Oberkörper des Tatopfers, regelmäßig nahe, dass der Täter mit der Möglichkeit, das Opfer könne dabei zu Tode kommen, rechnet und einen solchen Erfolg in Kauf nimmt. Auch in einem solchen Fall ist das Tatgericht jedoch nicht von einer umfassenden Prüfung beider Elemente des bedingten Tötungsvorsatzes und ihrer Darlegung entbunden. Insbesondere bei der Würdigung des voluntativen Vorsatzelements ist es regelmäßig erforderlich, dass sich das Tatgericht auch mit der Persönlichkeit des Täters auseinandersetzt und seine psychische Verfassung bei der Tatbegehung sowie seine Motivation in Betracht zieht (st. Rspr.; vgl. etwa Senat, Beschluss vom 15. Dezember 2020 - 2 StR 140/20, StV 2021, 420).
2. Diesem Maßstab wird die landgerichtliche Würdigung im Ergebnis noch gerecht. Die äußerst knappen Ausführungen enthalten die nach der Rechtsprechung maßgeblichen Gesichtspunkte und erweisen sich auch nicht als widersprüchlich.
Zu Recht hat das Landgericht den Messerstich als eine äußerst gefährliche Gewalthandlung an den Anfang seiner Überlegungen gestellt, daraus aber nicht ohne Weiteres die Annahme bedingten Tötungsvorsatzes abgeleitet, sondern eine nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs erforderliche Gesamtabwägung vorgenommen, die zur Ablehnung des voluntativen Vorsatzelements geführt hat. Ausgehend von dem nicht mit voller Wucht geführten Stich, der nicht tief in die Weichteile eindrang und die Luftröhre nur minimal perforierte, hat es die Äußerung des Angeklagten während der Tat, die keinen Rückschluss auf das Vorliegen eines Tötungsvorsatzes zulasse, sowie die zu vermutenden Motive, die nicht (zwangsläufig) auf einen Tötungsvorsatz schließen ließen, in den Blick genommen. Dies erweist sich als eine tragfähige Würdigung, die sich entgegen der Ansicht des Generalbundesanwalts - auch ohne dass das Landgericht die Intelligenzminderung des Angeklagten in seinen Erwägungen aufgegriffen hat - auch nicht mit weiteren Umständen auseinandersetzen musste und im Übrigen auch nicht im Widerspruch zu den Feststellungen steht.
a) Dass der Angeklagte den Nebenkläger von hinten angegriffen, den Messerstich aber gezielt im vorderen Körperbereich platziert hat, bedurfte keiner besonderen Erörterung. Es mag dahinstehen, ob bei einem in reiner Verletzungsabsicht von hinten geführten Angriff, wie die Revision meint, ein Stich in den rückwärtigen Bereich tatsächlich näher gelegen hätte, weil er mit einem geringeren Risiko einer lebensgefährlichen Verletzung verbunden gewesen wäre. Jedenfalls besagt der Umstand, dass der Angriff mit einem weiter reduzierten Risiko einer lebensgefährlichen Verletzung hätte ausgeführt werden können, noch nichts darüber, ob der tatsächlich nur mit geringer Wucht geführte Messerstich von hinten mit Verletzungs- oder Tötungsvorsatz ausgeführt worden ist. Soweit die Strafkammer auch nicht in den Blick genommen hat, dass der Angeklagte ein weiteres Mal mit dem Messer zustechen wollte, ist auch dies kein Gesichtspunkt, mit dem das Landgericht sich ausdrücklich hätte auseinandersetzen müssen. Die bloße Fortsetzung des Angriffs ist kein wesentliches Indiz für die Annahme oder Ablehnung des Tötungsvorsatzes, insbesondere auch deshalb nicht, weil die Strafkammer konkrete Feststellungen zum weiteren Vorgehen des Angeklagten, insbesondere zum weiteren Messereinsatz, nicht hat treffen können.
b) Es stellt auch keinen durchgreifenden Widerspruch dar, dass das Landgericht einerseits davon ausgegangen ist, es sei nicht zweifelsfrei festzustellen, ob der Angeklagte den Hals anvisiert habe, andererseits festgestellt hat, der Angeklagte habe in der Absicht gehandelt, den Geschädigten im Hals- oder Oberkörperbereich zu treffen, wobei ihm bewusst gewesen sei, dass ein Messerstich dorthin für den Geschädigten lebensgefährlich sei. Dass der Angeklagte mit Blick auf die Dynamik des Tatgeschehens aus Sicht der Strafkammer nicht zweifelsfrei den Stich im „Halsbereich“ setzen wollte, steht durchaus im Einklang mit der Erwägung, er habe in Kenntnis der Lebensgefährlichkeit eines solchen Stichs den Geschädigten im „Hals- oder Oberkörperbereich“ treffen und verletzen wollen. Es ist des Weiteren auch nicht widersprüchlich, dass die Strafkammer zum einen davon ausgegangen ist, der Stich sei nicht mit voller Wucht geführt worden, zum anderen angeführt hat, der Messerstich dorthin sei angesichts der Umstände nicht „genau zu dosieren“ gewesen. Dass eine exakte Bestimmung des Maßes an Wucht durch den Stich nicht möglich gewesen ist, steht der Einschätzung des Landgerichts an anderer Stelle nicht entgegen, dass dieser Stich zwar nicht „genau zu dosieren“ gewesen sei, aber eben nicht mit „voller Wucht“ geführt wurde.
HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 429
Bearbeiter: Karsten Gaede/Julia Heß