HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 1270
Bearbeiter: Karsten Gaede/Julia Heß
Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 174/21, Urteil v. 29.09.2021, HRRS 2021 Nr. 1270
1. Auf die Revisionen der Staatsanwaltschaft und des Angeklagten E. wird das Urteil des Landgerichts Köln vom 8. Februar 2021, soweit es ihn betrifft, im Ausspruch über die Höhe der Jugendstrafe mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.
2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an das Amtsgericht - Jugendschöffengericht - Köln zurückverwiesen.
3. Die weitergehende Revision des Angeklagten wird verworfen.
Das Landgericht hat den Angeklagten E. wegen vorsätzlichen versuchten Herbeiführens einer Sprengstoffexplosion in Tateinheit mit versuchtem Diebstahl zu einer Jugendstrafe von zwei Jahren verurteilt und deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt. Dagegen wendet sich der Angeklagte mit seiner auf die Rüge der Verletzung sachlichen Rechts gestützten Revision; das zunächst mit einem umfassenden Aufhebungsantrag begründete Rechtsmittel hat er mit Schriftsatz seines Verteidigers vom 14. September 2021 im Wege der Teilrücknahme auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkt. Die zu Ungunsten des Angeklagten eingelegte, vom Generalbundesanwalt vertretene Revision der Staatsanwaltschaft beanstandet mit der Sachrüge die Strafzumessung. Die Revisionen haben in dem aus dem Tenor ersichtlich Umfang Erfolg; die weitergehende Revision des Angeklagten ist unbegründet.
Nach den Feststellungen des Landgerichts willigten die finanziell überschuldeten Angeklagten E. und A. sowie der Nichtrevident H. wenige Tage vor der Tat in ein von einer unbekannten Person unterbreitetes Angebot ein, jeweils gegen Entlohnung einen Geldausgabeautomaten in einer Bank in D. aufzusprengen und den Hintermännern das darin vorgehaltene Bargeld zu verschaffen.
Mit einem von den Hintermännern zur Verfügung gestellten hochmotorisierten und präparierten Kraftfahrzeug sowie den notwendigen Tatutensilien begaben sich die drei Angeklagten am 25. Mai 2020 gegen 01.25 Uhr zur Bank. Der Angeklagte E. und der Nichtrevident H., die jeweils u.a. mit einem weißen Maleranzug, schwarzen Handschuhen und schwarzer Sturmhaube bekleidet waren, hebelten mit einem kleinen Kuhfuß das Bedienteil des Geldausgabeautomaten auf. Nachdem sie das vordere Bedienteil nach oben geklappt hatten und das Innere des Automaten frei lag, leiteten sie durch diese Öffnung ein Gemisch aus brennbarem Gas und Sauerstoff ein. Der Angeklagte und der Nichtrevident verließen den Vorraum der Bank, um dieses Gemisch sodann zur Explosion zu bringen. Unmittelbar nachdem sie die Bank verlassen hatten, löste jedoch im Geldautomaten ein den Angeklagten nicht bekanntes Sicherungssystem aus, das den gesamten Vorraum der Bank in weißen Rauch hüllte. Die Angeklagten erkannten, dass sie wegen vollständig fehlender Sicht die weitere geplante Tat nicht mehr fortsetzen konnten und verließen mit den Tatutensilien den Tatort. Kurze Zeit später wurden die observierten Angeklagten festgenommen.
Revision des Angeklagten E.
1. Das Rechtsmittel ist nach Teilrücknahme wirksam auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkt.
2. Die Revision deckt hinsichtlich der Verhängung von Jugendstrafe wegen schädlicher Neigung keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten auf; insoweit ist sie unbegründet.
3. Die Erwägungen des Landgerichts zur Höhe der verhängten Jugendstrafe begegnen jedoch durchgreifenden rechtlichen Bedenken.
a) Nach § 18 Abs. 2 JGG ist die Höhe der Jugendstrafe in erster Linie an erzieherischen Gesichtspunkten auszurichten. Die Urteilsgründe müssen deshalb erkennen lassen, inwieweit dem Erziehungsgedanken die ihm zukommende Beachtung geschenkt und bei der Bemessung der Jugendstrafe das Gewicht des Tatunrechts gegen die Folge der Strafe für die weitere Entwicklung des (Jugendlichen oder) Heranwachsenden abgewogen worden ist. Hieran fehlt es, wenn die Begründung wesentlich oder gar ausschließlich mit solchen Zumessungserwägungen vorgenommen wird, die auch bei Erwachsenen in Betracht kommen (vgl. Senat, Beschlüsse vom 18. September 2019 - 2 StR 156/19, NStZ-RR 2020, 42, 43 und vom 11. November 2020 - 2 StR 321/20, juris Rn. 4, jeweils mwN).
b) Hieran gemessen halten die Erwägungen der Jugendkammer rechtlicher Überprüfung nicht stand. Das Landgericht hat vorrangig im Erwachsenenstrafrecht maßgebende Strafzumessungsgesichtspunkte wie das Geständnis des Angeklagten, seine bisherige Straffreiheit in Deutschland, die erlittene Untersuchungshaft sowie die objektiven Tatumstände berücksichtigt. Der Erziehungsgedanke findet dagegen lediglich insoweit Erwähnung, als die Jugendkammer nicht näher substantiiert ausführt, die erkannte Jugendstrafe von zwei Jahren sei „erforderlich, aber auch […] ausreichend […], um dem Angeklagten das Unrecht seiner Tat vor Augen zu führen und erzieherisch nachhaltig auf ihn einzuwirken“. Diese abschließende, lediglich formelhafte Erwähnung der erzieherischen Erforderlichkeit der verhängten Jugendstrafe genügt den Erfordernissen des § 18 Abs. 2 JGG nicht (vgl. Senat, Beschlüsse vom 18. September 2019 - 2 StR 156/19 und vom 11. November 2020 - 2 StR 321/20, jeweils aaO).
Revision der Staatsanwaltschaft
1. Die Revision der Staatsanwaltschaft ist wirksam auf den Strafausspruch beschränkt.
a) Die Revisionsführerin hält allerdings das Urteil lediglich deshalb für fehlerhaft, weil die Jugendkammer die Strafaussetzung zur Bewährung unter Außerachtlassung niederländischer Vorstrafen und dort vollstreckter Untersuchungshaft, mithin unter rechtsfehlerhafter Anwendung von § 21 Abs. 1 und Abs. 2 JGG begründet habe.
Angesichts des Umstandes, dass an die Revisionsbegründung der Staatsanwaltschaft strengere Anforderungen zu stellen sind (vgl. Löwe/Rosenberg/Franke, StPO, 26. Aufl., § 344 Rn. 9 mwN), ist das nach ständiger Rechtsprechung (vgl. BGH, Urteile vom 2. Februar 2017 - 4 StR 481/16, NStZ-RR 2017, 105, 106 und vom 26. Januar 2021 - 1 StR 289/20, juris Rn. 89 ff., jeweils mwN) durch Auslegung zu ermittelnde Angriffsziel des Rechtsmittels, trotz des gegenüber der Begründung weitergehenden Antrags, das angefochtene Urteil im Rechtsfolgenausspruch aufzuheben, nicht „klar ersichtlich“ (vgl. Nr. 156 Abs. 2 Halbsatz 2 RiStBV) auf den gesamten Rechtsfolgenausspruch gerichtet. Die ausdrückliche Beanstandung der Staatsanwaltschaft, die Ausführungen zur Strafzumessung würden an sachlich-rechtlichen Mängeln leiden, nimmt ersichtlich allein die Aussetzung der Jugendstrafe zur Bewährung als rechtsfehlerhaft in den Blick.
b) Die Beschränkung der Revision auf die Entscheidung über die Aussetzung der Jugendstrafe zur Bewährung ist hier indes unwirksam.
Die angegriffene Bewährungsentscheidung steht mit dem Strafausspruch in einem untrennbaren Zusammenhang, da sich die Einwendungen der Revision zur Nichtberücksichtigung niederländischer Vorstrafen in gleicher Weise auf die Strafzumessung beziehen. Die Jugendkammer hat insoweit parallele Feststellungen getroffen. Im Rahmen der Strafzumessung hat sie zu Gunsten des Angeklagten berücksichtigt, dieser sei in Deutschland strafrechtlich bislang nicht in Erscheinung getreten und bezüglich der gegen ihn vollstreckten Untersuchungshaft Erstverbüßer. Die Bewährungsentscheidung wurde ebenfalls damit begründet, dass der Angeklagte „in Deutschland erstmals strafrechtlich in Erscheinung getreten ist und er sich hier erstmals (…) in Untersuchungshaft befunden hat“. Beiden Entscheidungen liegen damit im Wesentlichen inhaltsgleiche Erwägungen zugrunde, weshalb ohne die Gefahr von Widersprüchen eine selbständige Prüfung allein des ausdrücklich angefochtenen Teils nicht möglich wäre (vgl. auch BGH, Beschluss vom 15. Mai 2001 - 4 StR 306/00, BGHSt 47, 32, 34 f. mwN).
c) Ein weitergehender - untrennbarer - Zusammenhang mit der Frage der Verhängung der Jugendstrafe gemäß § 17 Abs. 2 JGG (vgl. auch Senat, Beschluss vom 12. März 2008 - 2 StR 85/08, BGHR JGG § 21 Abs. 2 Verneinung, fehlerhafte 1) besteht hier nicht.
2. Das zu Ungunsten des Angeklagten eingelegte Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft hat Erfolg.
a) Wie bereits unter II. 3. ausgeführt begegnet die Bemessung der Jugendstrafe durchgreifenden rechtlichen Bedenken, weil die Ausführungen im Urteil besorgen lassen, dass sich das Landgericht bei der Bemessung der Jugendstrafe insgesamt nicht vorrangig am Erziehungsgedanken orientiert hat.
Das Urteil weist zum Vorteil des Angeklagten zudem einen Erörterungsmangel auf, da die Jugendkammer die niederländischen Vorverurteilungen des Angeklagten wegen Eigentumsdelikten nicht zur Feststellung des Umfangs des Erziehungsbedarfs berücksichtigt hat. Dabei müssen in einem Mitgliedsstaat der Europäischen Union ergangene verwertbare (vgl. BGH, Beschluss vom 27. Januar 2021 ? 6 StR 399/20, NStZ 2021, 319 f.) Verurteilungen grundsätzlich sogar mit gleichwertigen tatsächlichen bzw. verfahrens- und materiell-rechtlichen Wirkungen versehen werden, wie denjenigen, die das innerstaatliche Recht den im Inland ergangenen Verurteilungen zuerkennt (vgl. Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Nr. 5 der Erwägungsgründe des Rahmenbeschlusses 2008/675/JI des Rates der Europäischen Union vom 24. Juli 2008 zur Berücksichtigung der in anderen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union ergangenen Verurteilungen in einem neuen Strafverfahren, ABlEU L 220, 32, 34; BGH, Beschluss vom 19. Oktober 2011 ? 4 StR 425/11, NStZ-RR 2012, 305; BT-Drucks. 16/13673, S. 4 f.; LK-StGB/ Schneider, 13. Aufl., § 46 Rn. 155). Die Vorverurteilungen können im Zusammenhang mit der Persönlichkeit und der Persönlichkeitsentwicklung des Angeklagten stehen, die in diesen Taten zum Ausdruck kommt. Durch die ausschließliche Berücksichtigung der Straffreiheit des Angeklagten in Deutschland hat sich die Jugendkammer den Blick auf einen möglicherweise erheblich umfangreicheren Erziehungsbedarf des Angeklagten verstellt.
b) Dieser Rechtsfehler führt zur Aufhebung des Ausspruchs über die Höhe der Jugendstrafe und entzieht damit zugleich der Entscheidung über die Aussetzung zur Bewährung die Grundlage. Diese weist ihrerseits den bezeichneten Erörterungsmangel auf, da die Jugendkammer die in den Niederlanden gegen den Angeklagten vollstreckte Untersuchungs- und Strafhaft sowie die Vorverurteilungen wegen Eigentumsdelikten entgegen § 21 Abs. 1 Satz 2 JGG nicht in ihre Prognoseentscheidung einbezogen hat (vgl. auch BGH, Urteil vom 7. Februar 1995 ? 1 StR 802/94, BGHR StGB § 56 Abs. 1 Sozialprognose 29; MüKo-StGB/Groß/Kett-Straub, 4. Aufl., § 56 Rn. 17).
Die Zurückverweisung an das Amtsgericht - Jugendschöffengericht - Köln beruht auf § 354 Abs. 3 StPO i.V.m. § 33 Abs. 1 und 2, § 40 Abs. 1 Satz 1, § 107 JGG. Dessen Zuständigkeit reicht zur Erledigung der Sache aus (vgl. auch BGH, Beschluss vom 12. Juni 2012 - 3 StR 166/12, insoweit nicht abgedruckt in NStZ 2013, 104), nachdem sich das Verfahren nur noch gegen den Heranwachsenden richtet (vgl. auch § 41 Abs. 1 Nr. 3 JGG).
HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 1270
Externe Fundstellen: NStZ 2022, 553
Bearbeiter: Karsten Gaede/Julia Heß