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HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 912

Bearbeiter: Christian Becker

Zitiervorschlag: BGH, AK 14/20, Beschluss v. 30.06.2020, HRRS 2020 Nr. 912


BGH AK 14/20 - Beschluss vom 30. Juni 2020 (OLG Celle)

Dringender Tatverdacht wegen mitgliedschaftlicher Beteiligung an einer terroristischen Organisation im Ausland; Fortdauer der Untersuchungshaft.

§ 129a StGB; § 129b StGB; § 112 StPO; § 121 StPO

Entscheidungstenor

Die Untersuchungshaft hat fortzudauern.

Eine etwa erforderliche weitere Haftprüfung durch den Bundesgerichtshof findet in drei Monaten statt.

Bis zu diesem Zeitpunkt wird die Haftprüfung dem Oberlandesgericht Celle übertragen.

Gründe

I.

Die Angeklagte ist am 3. Dezember 2019 vorläufig festgenommen worden und befindet sich seit dem 4. Dezember 2019 - zunächst aufgrund Haftbefehls des Oberlandesgerichts Celle vom 27. November 2019 (4 OGs 41/19) - ununterbrochen in Untersuchungshaft.

Gegenstand des ursprünglichen Haftbefehls war der Vorwurf, die Angeklagte habe sich seit dem 8. Dezember 2014 als Mitglied an der ausländischen terroristischen Vereinigung „Islamischer Staat“ (IS) beteiligt, deren Zwecke und deren Tätigkeit darauf gerichtet seien, Mord (§ 211 StGB) oder Totschlag (§ 212 StGB) oder Kriegsverbrechen (§§ 8, 9, 10, 11 oder 12 VStGB) zu begehen. Das Oberlandesgericht Celle hat am 22. Mai 2020 einen erweiterten Haftbefehl vom 19. Mai 2020 verkündet und dessen Invollzugsetzung beschlossen (5 StS 1/20). Zufolge dieses Haftbefehls ist die Angeklagte zwischen Mitte/Ende Dezember 2014 und Mitte/Herbst 2015 der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung im Ausland in drei Fällen, davon in zwei Fällen in Tateinheit mit Ausübung der tatsächlichen Gewalt über eine Kriegswaffe, nach § 129a Abs. 1 Nr. 1 (i.d.F. v. 22. Dezember 2003), § 129b Abs. 1 Satz 1 und 2 (i.d.F. v. 22. August 2002), §§ 52, 53 StGB, § 22a Abs. 1 Nr. 6 Buchst. a) KrWaffKG i.V.m. Teil B Nr. 29 Buchst. c und Nr. 46 der Anlage zu § 1 Abs. 1 KrWaffKG dringend verdächtig.

Der Generalstaatsanwalt in Celle hat mit Anklageschrift vom 3. April 2020 wegen der dem erweiterten Haftbefehl zugrundeliegenden Tatvorwürfe Anklage zum Oberlandesgericht Celle erhoben.

Der 5. Strafsenat des Oberlandesgerichts Celle hat mit Beschluss vom 19. Mai 2020 die Anklage unverändert zur Hauptverhandlung zugelassen und das Hauptverfahren eröffnet. Mit weiterem Beschluss vom gleichen Tage hat er die Fortdauer der Untersuchungshaft für erforderlich gehalten und die Akten dem Senat zur besonderen Haftprüfung vorgelegt. Der Beginn der Hauptverhandlung ist für den 3. Juli 2020 vorgesehen.

II.

Die Voraussetzungen für die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus liegen vor.

1. Die Angeklagte ist der ihr in dem Haftbefehl des Oberlandesgerichts vom 19. Mai 2020 zur Last gelegten Taten dringend verdächtig.

a) Nach dem bisherigen Ermittlungsstand ist insoweit im Sinne eines dringenden Tatverdachts von folgendem Sachverhalt auszugehen:

aa) Der IS ist eine Organisation mit militant-fundamentalistischer islamischer Ausrichtung, die es sich ursprünglich zum Ziel gesetzt hatte, einen das Gebiet des heutigen Irak und die historische Region „ash Sham“ - die heutigen Staaten Syrien, Libanon und Jordanien sowie Palästina - umfassenden und auf ihrer Ideologie gründenden „Gottesstaat“ unter Geltung der Sharia zu errichten und dazu die schiitisch dominierte Regierung im Irak und das Regime des syrischen Präsidenten Assad zu stürzen. Zivile Opfer nahm und nimmt sie bei ihrem fortgesetzten Kampf in Kauf, weil sie jeden, der sich ihren Ansprüchen entgegenstellt, als „Feind des Islam“ begreift; die Tötung solcher „Feinde“ oder ihre Einschüchterung durch Gewaltakte sieht der IS als legitimes Mittel des Kampfes an.

Die Führung der Vereinigung, die sich mit dem Ausrufen des „Kalifats“ im Juni 2014 von ISIG in IS umbenannte - wodurch sie von der territorialen Selbstbeschränkung Abstand nahm - hatte seit 2010 der „Emir“ Abu Bakr al Baghdadi inne. Al Baghdadi war von seinem Sprecher zum „Kalifen“ erklärt worden, dem die Muslime weltweit Gehorsam zu leisten hätten. Dem „Kalifen“ unterstehen ein Stellvertreter sowie „Minister“ als Verantwortliche für einzelne Bereiche, so ein „Kriegsminister“ und ein „Propagandaminister“. Zur Führungsebene gehören außerdem beratende „Shura Räte“. Veröffentlichungen werden in der Medienabteilung „Al Furqan“ produziert und über die Medienstelle „al l’tisam“ verbreitet, die dazu einen eigenen Twitter-Kanal und ein Internetforum nutzt. Das auch von Kampfeinheiten verwendete Symbol der Vereinigung besteht aus dem „Prophetensiegel“ (einem weißen Oval mit der Inschrift: „Allah - Rasul - Muhammad“) auf schwarzem Grund, überschrieben mit dem islamischen Glaubensbekenntnis. Die mehreren Tausend Kämpfer sind dem „Kriegsminister“ unterstellt und in lokale Kampfeinheiten mit jeweils einem Kommandeur gegliedert.

Die von ihr besetzten Gebiete teilte die Vereinigung in Gouvernements ein und richtete einen Geheimdienstapparat ein; diese Maßnahmen zielten auf das Schaffen totalitärer staatlicher Strukturen. Angehörige der syrischen Armee, aber auch von in Gegnerschaft zum IS stehenden Oppositionsgruppen, ausländische Journalisten und Mitarbeiter von Nichtregierungsorganisationen sowie Zivilisten, die den Herrschaftsbereich des IS in Frage stellen, sahen sich Verhaftung, Folter und Hinrichtung ausgesetzt. Filmaufnahmen von besonders grausamen Tötungen wurden mehrfach vom ISIG bzw. IS zu Zwecken der Einschüchterung veröffentlicht. Darüber hinaus begeht die Vereinigung immer wieder Massaker an Teilen der Zivilbevölkerung und außerhalb ihres Machtbereichs Terroranschläge. So hat sie für Anschläge in Europa, etwa in Frankreich, Belgien und Deutschland, die Verantwortung übernommen.

bb) Die Angeklagte ist muslimischen Glaubens und war spätestens seit April 2014 Anhängerin des salafistischen Islam. Um ihre Überzeugung zum Ausdruck zu bringen, veröffentlichte sie im April 2014 auf ihrem Facebook-Account“ " unter anderem Bilder von Osama bin Laden. Entsprechend ihrer islamistischen Gesinnung entschloss sich die Angeklagte zu einem nicht näher feststellbaren Zeitpunkt in der zweiten Hälfte des Jahres 2014, nach Rakka zu reisen, um sich dort der Organisation anzuschließen. Nachdem A. O., mit dem sie zum damaligen Zeitpunkt als dessen „Zweitfrau“ nach islamischem Ritus verheiratet war, sich jedenfalls zu diesem Zeitpunkt noch nicht dem IS hatte anschließen wollen, ließ sich die Angeklagte einseitig und gegen den Willen des O. von diesem durch einen Islamgelehrten scheiden. Um den 8./9. Dezember 2014 begab sich die Angeklagte in Umsetzung ihres Entschlusses und mit Unterstützung des Netzwerkes um die gesondert verfolgten“ W. ", C. und S. zusammen mit dem ihr zwischenzeitlich nach islamischem Ritus neu angetrauten Ehemann A. über die Türkei nach Rakka. Dort angekommen schlossen sich beide dem IS als Mitglieder an bzw. wurden von diesem aufgenommen. Die Angeklagte begab sich am Tage nach ihrer Ankunft für knapp zwei Monate in ein vom IS geführtes Frauenhaus. In diesem erhielt die Angeklagte Unterkunft und Verpflegung. Regelmäßig erschien ein Betreuer der Frauen und fragte nach, ob diese etwas benötigten. Die Angeklagte nutzte dort ihr Handy und hatte Zugang zum Internet. Zudem wurde die Angeklagte in dieser Zeit operiert und in einem Krankenhaus des IS gepflegt.

A. begab sich unmittelbar nach der Ankunft in Rakka auf eine, wie es die Angeklagte formulierte, „Universität“ und lernte bei „Gelehrten“. Tatsächlich wurde A. dort nicht nur religiös geschult, sondern erhielt auch eine umfassende militärische Ausbildung in Waffenkunde sowie im Umgang mit Sprengstoff. Sein Ausbildungsprogramm sah vor, dass er nach einigen Wochen der Schulung für eine Phase von (wiederholt) zwei Wochen an Kämpfen teilnehmen sollte. Aufgrund der Tatsache, dass A. mehrere Sprachen sprach, u.a. russisch, englisch, albanisch und türkisch, sollte er indes nicht dauerhaft in Kämpfen eingesetzt, sondern in den Führungskader des IS aufgenommen werden. All dies war der Angeklagten bekannt.

Nachdem A. seine Ausbildung beendet hatte, zog die Angeklagte mit ihm in eine gemeinsame Wohnung. Diese wurde ihnen vom IS zur Verfügung gestellt. Die Angeklagte führte den gemeinsamen Haushalt. Darüber hinaus erhielten beide eine monatliche Zahlung vom IS in unbekannter Höhe, die einerseits aus dem Lohn für A. bestand und darüber hinaus einen Zuschlag für die Angeklagte enthielt. Die Angeklagte forderte A. ausdrücklich dazu auf, er solle kämpfen gehen. Tatsächlich nahm er im Juni/Juli 2015 als Kämpfer des IS an kriegerischen Auseinandersetzungen um die Stadt Kobane teil.

Die Angeklagte war, spätestens nach ihrer Ankunft in Rakka, eventuell aber bereits vor ihrer Ausreise dorthin in Deutschland, Mitglied des sogenannten „Schwesternnetzwerks“, dessen Aufgabe es war, Frauen im Sinne der Ziele des IS zu indoktrinieren und auf ihre künftige Rolle als Braut eines „Jihadi“ vorzubereiten. In dieser Eigenschaft organisierte die Angeklagte sodann von Syrien aus die Ausreise von Frauen nach Syrien und vermittelte in einem Fall auch eine islamische Eheschließung, nämlich die einer Bekannten mit dem Namen“ ". Darüber hinaus gab sie Informationen über die Situation in das Herrschaftsgebiet des IS eingereister Frauen an Mitglieder des Frauennetzwerks weiter, welchem neben der Frau von“ W.“ die Frauen mehrerer führender Islamisten in Deutschland angehörten.

Gegenüber Kommunikationspartnern in Deutschland lobte die Angeklagte die Situation im Gebiet des IS und warb für eine Ausreise in das Gebiet der terroristischen Organisation.

Während ihres Aufenthaltes im Gebiet des IS und als dessen Mitglied übte die Angeklagte in zwei Fällen im Zeitraum zwischen Ende Januar 2015 bis zum 28. April 2015 in Rakka, wie ihr bekannt war, ohne die erforderliche Genehmigung die tatsächliche Gewalt über ein Sturmgewehr „Kalaschnikow“ AK-47 sowie ein Sturmgewehr „Kalaschnikow“ AKM und eine Handgranate aus, wobei sie das Sturmgewehr „Kalaschnikow“ AK-47 bei mindestens einer Gelegenheit auch öffentlich in einem Park in Rakka mit sich führte. Zu dieser Gelegenheit hob sie den rechten Zeigefinger als Geste einer Salafistin zum Zwecke der Symbolisierung ihres Glaubens an Gott. Ihr kam es dabei auch darauf an, als Mitglied des IS dessen Herrschaftsanspruch nach außen wahrnehmbar zu symbolisieren und zu festigen. Zu der anderen Gelegenheit übte sie die tatsächliche Gewalt über die vorgenannten Kriegswaffen - „Kalaschnikow“ AKM und eine Handgranate - aus, die in einem geschlossenen Raum unter einer Fahne des IS ausgestellt waren. Die Angeklagte übersandte der Schwester des A., D. Ar., am 28. April 2015 entsprechende Lichtbilder; deren Übertragung erfolgte durch die Angeklagte zu dem Zweck, ihre Mitgliedschaft zum IS und dessen Herrschaftsanspruch zu symbolisieren bzw. zu demonstrieren.

Mit einer Vielzahl von Textnachrichten versuchte die Angeklagte zudem, D. Ar. zur Ausreise in das Herrschaftsgebiet des IS zu bewegen. Unter einem der am 28. April 2015 an sie übersandten vorbeschriebenen Lichtbilder schrieb die Angeklagte beispielsweise: „Ich warte hier auf dich Habibtii“.

Später übersiedelte die Angeklagte mit ihren beiden im Januar 2016 sowie im Februar 2017 geborenen Kindern nach Idlib, wo sie im Jahr 2018 einen bislang nicht identifizierten Marokkaner heiratete und am 9. April 2019 Zwillinge gebar. Kurze Zeit später begab sie sich in die Türkei, wo sie sich seit September 2019 in einem Abschiebezentrum in Istanbul aufhielt. Von dort aus wurde sie am 3. Dezember 2019 nach Deutschland abgeschoben.

b) Der dringende Tatverdacht beruht im Hinblick auf die terroristische Vereinigung IS auf den diesbezüglichen Gutachten des Sachverständigen Dr. St. sowie entsprechenden Auswerteberichten des Bundeskriminalamts.

Dass sich die Angeklagte zunächst freiwillig und im Wissen um die Existenz des IS in dessen Herrschaftsbereich begab, folgt aus ihren eigenen Einlassungen.

In Bezug auf die der Angeklagten zur Last gelegten Tathandlungen ergibt sich der dringende Tatverdacht im Wesentlichen aus den Angaben der Zeugen A. und E. O., I., E. und D. Ch. sowie Di. und D. Ar., ebenso wie aus den in Bezug genommenen Kommunikationsvorgängen und Lichtbildern. Jedenfalls zum jetzigen Zeitpunkt folgt die Betätigung der Angeklagten im Zusammenhang mit dem „Schwesternnetzwerk“ vor allem aus den Inhalten des Chatverkehrs mit D. Ar. Soweit im Übrigen seitens der Angeklagten die Aussagebereitschaft und Glaubwürdigkeit des Zeugen A. O. in Zweifel gezogen wird, muss deren abschließende Überprüfung und Bewertung der Hauptverhandlung vorbehalten bleiben.

Wegen der Einzelheiten der den dringenden Tatverdacht begründenden Umstände wird auf die eingehenden Ausführungen in dem Haftbefehl vom 19. Mai 2020 und die Anklageschrift vom 3. April 2020 nebst Beweismittelliste Bezug genommen.

c) Danach hat sich die Angeklagte mit hoher Wahrscheinlichkeit in drei Fällen als Mitglied an einer terroristischen Vereinigung im Ausland beteiligt, davon in zwei Fällen in Tateinheit mit der Ausübung der tatsächlichen Gewalt über eine Kriegswaffe (§ 129a Abs. 1 Nr. 1 (i.d.F. v. 22. Dezember 2003), § 129b Abs. 1 Satz 1 und 2 (i.d.F. v. 22. August 2002), §§ 52, 53 StGB, § 22a Abs. 1 Nr. 6 Buchst. a) KrWaffKG i.V.m. Teil B Nr. 29 Buchst. c und Nr. 46 der Anlage zu § 1 Abs. 1 KrWaffKG).

Die mitgliedschaftliche Beteiligung setzt eine gewisse formale Eingliederung des Täters in die Organisation voraus. Sie kommt nur in Betracht, wenn der Täter die Vereinigung von innen und nicht lediglich von außen her fördert. Insoweit bedarf es zwar keiner förmlichen Beitrittserklärung oder einer förmlichen Mitgliedschaft. Notwendig ist aber, dass der Täter eine Stellung innerhalb der Vereinigung einnimmt, die ihn als zum Kreis der Mitglieder gehörend kennzeichnet und von den Nichtmitgliedern unterscheidbar macht. Dafür reicht allein die Tätigkeit für die Vereinigung, mag sie auch besonders intensiv sein, nicht aus; denn ein Außenstehender wird nicht allein durch die Förderung der Vereinigung zu deren Mitglied. Die Mitgliedschaft setzt ihrer Natur nach eine Beziehung voraus, die einer Vereinigung nicht aufgedrängt werden kann, sondern ihre Zustimmung erfordert. Ein auf lediglich einseitigem Willensentschluss beruhendes Unterordnen und Tätigwerden genügt nicht, selbst wenn der Betreffende bestrebt ist, die Vereinigung und ihre kriminellen Ziele zu fördern. Die Annahme einer mitgliedschaftlichen Beteiligung scheidet daher aus, wenn die Unterstützungshandlungen nicht von einem einvernehmlichen Willen zu einer fortdauernden Teilnahme am Verbandsleben getragen sind (siehe etwa BGH, Urteil vom 14. August 2009 - 3 StR 552/08, BGHSt 54, 69 Rn. 128 mwN; Beschlüsse vom 13. September 2011 - StB 12/11, NStZ-RR 2011, 372 f.; vom 13. Juni 2019 - AK 27/19, juris Rn. 20).

Daran gemessen ist aufgrund der bislang vorliegenden Erkenntnisse entgegen dem Vorbringen in dem Schriftsatz vom 5. Juni 2020, mit dem die Angeklagte die Aufhebung oder Außervollzugsetzung des Haftbefehls erstrebt, davon auszugehen, dass sich die Angeklagte in den IS eingliederte. Auf eine solche Eingliederung in die Organisation lässt mit Blick auf die vorgenannte Unterbringung in dem Frauenhaus bereits der Umstand schließen, dass dort nach den eigenen Angaben der Angeklagten Handy- und Internetnutzung möglich waren. Weiterhin wird der gezogene Schluss erheblich dadurch gestützt, dass die Angeklagte selbst zu mehreren Gelegenheiten Zugriff auf verschiedene Waffen hatte und sich im Rahmen des „Schwesternnetzwerks“ für die Belange der Organisation engagierte, insbesondere hinsichtlich der Eheschließung der“ " und der potentiellen Einreise der Schwester des A. in das Gebiet der Organisation. Außerdem heiratete sie aufgrund ihres eigenen Entschlusses noch in Deutschland nach islamischem Ritus einen zukünftigen IS- Kämpfer, mit dem sie in das von der Organisation kontrollierte Gebiet einreiste und anschließend in einer Unterkunft lebte, die ihnen von der Vereinigung zur Verfügung gestellt wurde. Überdies wurde die Angeklagte ebenso wie ihr Ehemann vom IS alimentiert. Durch die Zahlungen trug der IS selbst Sorge für den Lebensunterhalt der Angeklagten, ebenso bereits zuvor dadurch, dass er ihr nach der Einreise eine Unterkunft in einem von der Organisation verwalteten Frauenhaus und stationäre medizinische Versorgung zur Verfügung stellte.

In Anbetracht dieser Gesamtumstände stellen sich auch die Tätigkeiten der Angeklagten im Zusammenleben mit ihrem Ehemann, insbesondere das Führen des Haushalts während der Zeiträume, in denen dieser als Kämpfer ortsabwesend war, nicht lediglich als bloße alltägliche Verrichtungen ohne Organisationsbezug dar (vgl. BGH, Beschluss vom 15. Mai 2019 - AK 22/19, NJW 2019, 2552 Rn. 24 ff.).

Deutsches Strafrecht ist anwendbar. Dies folgt entweder unmittelbar aus § 129b Abs. 1 Satz 2 Variante 2 StGB (vgl. BGH, Beschluss vom 31. Juli 2009 - StB 34/09, BGHR StGB § 129b Anwendbarkeit 1) oder aus § 7 Abs. 2 Nr. 1 StGB, weil die Angeklagte Deutsche ist und das Gebiet, in dem sie sich als Mitglied des IS beteiligte, effektiv keiner staatlichen Strafgewalt unterlag. Im Übrigen ist der Anschluss an eine terroristische Organisation gemäß Art. 1 und 3 des syrischen Anti-Terror-Gesetzes Nr. 19 vom 28. Juni 2012, das die zuvor geltenden Vorschriften über die Strafbarkeit einer Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung nach Art. 304 bis 306 des syrischen Strafgesetzbuchs ersetzt hat, auch in Syrien mit Strafe bedroht. Gleiches gilt hinsichtlich der Verstöße gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz im Hinblick auf §§ 39, 41 des syrischen Präsidialerlasses Nr. 51 vom 24. September 2001.

Die nach § 129b Abs. 1 Satz 2 und 3 StGB erforderliche Ermächtigung zur strafrechtlichen Verfolgung von Mitgliedern des IS liegt vor.

2. Es bestehen die Haftgründe der Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO) und der Schwerkriminalität (§ 112 Abs. 3 StPO).

Die Angeklagte hat im Fall ihrer Verurteilung mit einer empfindlichen Freiheitsstrafe zu rechnen. Dem davon ausgehenden erheblichen Fluchtanreiz stehen auch unter Berücksichtigung der mehrmonatigen Inhaftierung der Angeklagten in der Türkei keine hinreichenden fluchthemmenden Umstände entgegen. Die Angeklagte verfügt zwar über soziale Kontakte in Deutschland. Diese sind aber nicht geeignet, sie von einer Flucht abzuhalten. Ihre familiäre Bindung - auch zu ihren vier Kindern - ist fragil. Im Rahmen der Telekommunikationsüberwachung haben sich Hinweise darauf ergeben, dass die Angeklagte erwägt, nicht in Deutschland zu verbleiben. Sie verfügt über vielfältige Kontakte, die sie in die Lage versetzen, geeignete Orte zu finden, um sich der Strafverfolgung zu entziehen. Vor diesem Hintergrund liegt es nahe, dass sich die Angeklagte, sollte sie in Freiheit gelangen, nicht dem Strafverfahren stellen wird.

Die genannten Umstände begründen die Gefahr, dass die Ahndung der Tat ohne weitere Inhaftierung der Angeklagten vereitelt werden könnte, so dass die Fortdauer der Untersuchungshaft auch bei der gebotenen restriktiven Auslegung der Vorschrift (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63. Aufl., § 112 Rn. 37 mwN) auf den Haftgrund des § 112 Abs. 3 StPO zu stützen ist.

Weniger einschneidende Maßnahmen im Sinne des § 116 StPO sind aus den genannten Gründen nicht erfolgversprechend.

3. Die Voraussetzungen für die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus (§ 121 Abs. 1 StPO) sind gegeben. Die besondere Schwierigkeit und der Umfang der Ermittlungen haben ein Urteil noch nicht zugelassen.

Der Generalstaatsanwalt in Celle hat bereits vier Monate nach der Festnahme der Angeklagten Anklage zum Oberlandesgericht Celle erhoben. Während dieses Zeitraums ist neben der Durchführung der erforderlichen Ermittlungen - es wurden umfangreiche Chat-Protokolle aus dem von der Generalstaatsanwaltschaft Berlin (173 Js 4/15) gegen den mutmaßlich verstorbenen früheren Ehemann der Angeklagten, A., geführten Verfahren ausgewertet und weitere Zeugen vernommen - ein mittlerweile vorgelegtes Gutachten zur Frage der strafrechtlichen Verantwortlichkeit der Angeklagten in Auftrag gegeben worden, in dessen Rahmen die Angeklagte bereits am 26. März 2020 von einem forensisch-psychiatrischen Sachverständigen exploriert worden ist. Der Vorsitzende des mit der Sache befassten Strafsenats beim Oberlandesgericht hat die Zustellung der Anklageschrift unter dem 9. April 2020 veranlasst und zunächst eine dem Umfang der Sache angemessene Erklärungsfrist von drei Wochen gesetzt. Auf Ersuchen der Pflichtverteidigerin ist diese Frist bis zum 18. Mai 2020 verlängert worden; eine Stellungnahme ist gleichwohl erst am 22. Mai 2020 abgegeben worden, nachdem die Eröffnung des Hauptverfahrens durch das Oberlandesgericht bereits am 19. Mai 2020 beschlossen worden war. Ausweislich der dortigen Terminverfügung sind bislang 22 Hauptverhandlungstermine, beginnend mit dem 3. Juli 2020, bestimmt.

4. Schließlich steht die Untersuchungshaft nach Abwägung zwischen dem Freiheitsgrundrecht der Angeklagten einerseits sowie dem Strafverfolgungsinteresse der Allgemeinheit andererseits nicht zu der Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe außer Verhältnis (§ 120 Abs. 1 Satz 1 StPO).

HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 912

Externe Fundstellen: StV 2021, 574

Bearbeiter: Christian Becker