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HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 954

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 54/20, Beschluss v. 26.05.2020, HRRS 2020 Nr. 954


BGH 2 StR 54/20 - Beschluss vom 26. Mai 2020 (LG Hanau)

Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (Grundsatz der Verhältnismäßigkeit; Gefährlichkeitsprognose).

§ 62 StGB; § 63 StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Die grundsätzlich unbefristete Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB ist eine außerordentlich belastende Maßnahme, die einen besonders gravierenden Eingriff in die Rechte des Betroffenen darstellt. Sie darf daher nur dann angeordnet werden, wenn eine Wahrscheinlichkeit höheren Grades besteht, der Täter werde infolge seines fortdauernden Zustands in Zukunft erhebliche rechtswidrige Taten begehen, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich erheblich geschädigt oder erheblich gefährdet werden oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird, und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist. Die notwendige Prognose ist auf der Grundlage einer umfassenden Würdigung der Persönlichkeit des Täters, seines Vorlebens und der von ihm begangenen Anlasstaten zu entwickeln; sie muss sich auch darauf erstrecken, welche rechtswidrigen Taten von dem Beschuldigten drohen, wie ausgeprägt das Maß der Gefährdung ist (Häufigkeit, Rückfallfrequenz) und welches Gewicht den bedrohten Rechtsgütern zukommt. Bei den zu erwartenden Taten muss es sich um solche handeln, die geeignet erscheinen, den Rechtsfrieden schwer zu stören sowie das Gefühl der Rechtssicherheit erheblich zu beeinträchtigen, und die damit zumindest dem Bereich der mittleren Kriminalität zuzuordnen sind.

2. An die Darlegung der künftigen Gefährlichkeit sind umso höhere Anforderungen zu stellen, je mehr es sich bei dem zu beurteilenden Sachverhalt unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes (§ 62 StGB) um einen Grenzfall handelt.

3. Neben der sorgfältigen Prüfung dieser Anordnungsvoraussetzungen ist das Tatgericht auch verpflichtet, die wesentlichen Gesichtspunkte in den Urteilsgründen so umfassend darzustellen, dass das Revisionsgericht in die Lage versetzt wird, die Entscheidung nachzuvollziehen.

4. Mit einer im Allgemeinen erhöhten Kriminalitätsbelastung schizophren Erkrankter kann die Gefahrenprognose nicht begründet werden. Maßgeblich sind stattdessen die konkrete Krankheits- und Kriminalitätsentwicklung sowie die auf die Person des Beschuldigten und seine konkrete Lebenssituation bezogenen Risikofaktoren, die eine individuelle krankheitsbedingte Disposition zur Begehung von Delikten jenseits der Anlasstaten belegen können.

Entscheidungstenor

1. Dem Beschuldigten wird auf seinen Antrag und seine Kosten nach Versäumung der Frist zur Begründung der Revision gegen das Urteil des Landgerichts Hanau vom 12. November 2019 Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt; damit ist der Beschluss des Landgerichts Hanau vom 14. Januar 2020 gegenstandslos.

2. Auf die Revision des Beschuldigten wird das vorbezeichnete Urteil mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat die Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Hiergegen richtet sich seine auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützte Revision. Ferner begehrt er Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Revisionsbegründungsfrist. Der Wiedereinsetzungsantrag und die Revision des Beschuldigten haben Erfolg.

1. Dem Wiedereinsetzungsantrag des Beschuldigten ist aus den Gründen der Antragsschrift des Generalbundesanwalts vom 10. März 2020 zu entsprechen. Damit ist der gemäß § 346 Abs. 1 StPO ergangene Verwerfungsbeschluss des Landgerichts Hanau vom 14. Januar 2020 gegenstandslos (vgl. BGH, Beschlüsse vom 24. Januar 2017 - 3 StR 447/16, NStZ-RR 2017, 148, und vom 11. Januar 2016 - 1 StR 435/15, wistra 2016, 163, 164).

2. a) Nach den Feststellungen des Landgerichts war der Beschuldigte wahnbedingt am 16. April 2018 zu der Überzeugung gelangt, sein Nachbar habe ihm Geld entwendet und in seine Getränkeflasche uriniert. Er stürmte deswegen auf seinen Nachbarn zu und beschimpfte ihn. Da der Nachbar nicht auf diese - unwahre - Behauptung reagierte, schlug der Beschuldigte ihn mindestens einmal mit der Faust ins Gesicht, schubste ihn gegen die Hauswand und zerrte an dessen T-Shirt und Halskette, sodass diese zerrissen.

Am 23. März 2019 geriet der Beschuldigte mit seiner Mutter in Streit, weil sie wegen seines Cannabis-Anbaus die Polizei gerufen hatte. „Krankheitsbedingt konnte er seine Wut nicht mehr kontrollieren, weshalb seine Steuerungsfähigkeit aufgehoben war“. Er schubste seine Mutter und schlug sie mit der flachen Hand ins Gesicht. Einen Tag später stritt der Beschuldigte erneut mit seiner Mutter, weil er den Nachbarn wiederholt - unberechtigt - vorgeworfen hatte, ihn bestohlen zu haben. Der „hochpsychotische“ Beschuldigte nahm seiner Mutter das Mobiltelefon weg, mit dem sie die Polizei verständigen wollte, und schlug ihr mit der flachen Hand ins Gesicht.

b) Die sachverständig beratene Strafkammer hat angenommen, dass die Steuerungsfähigkeit des Beschuldigten aufgrund einer paranoiden Schizophrenie jeweils bei der Tatbegehung aufgehoben gewesen sei.

3. Die Anordnung der Maßregel nach § 63 StGB hält rechtlicher Überprüfung nicht stand. Während die Annahme fehlender Steuerungsfähigkeit infolge psychotischen Wahnerlebens noch keinen durchgreifenden Bedenken begegnet, gilt dies für die Gefährlichkeitsprognose des Landgerichts nicht.

a) Die grundsätzlich unbefristete Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB ist eine außerordentlich belastende Maßnahme, die einen besonders gravierenden Eingriff in die Rechte des Betroffenen darstellt. Sie darf daher nur dann angeordnet werden, wenn eine Wahrscheinlichkeit höheren Grades besteht, der Täter werde infolge seines fortdauernden Zustands in Zukunft erhebliche rechtswidrige Taten begehen, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich erheblich geschädigt oder erheblich gefährdet werden oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird, und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist. Die notwendige Prognose ist auf der Grundlage einer umfassenden Würdigung der Persönlichkeit des Täters, seines Vorlebens und der von ihm begangenen Anlasstaten zu entwickeln; sie muss sich auch darauf erstrecken, welche rechtswidrigen Taten von dem Beschuldigten drohen, wie ausgeprägt das Maß der Gefährdung ist (Häufigkeit, Rückfallfrequenz) und welches Gewicht den bedrohten Rechtsgütern zukommt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 5. Juli 2013 - 2 BvR 2957/12, juris Rn. 27; BGH, Beschlüsse vom 27. Juni 2019 - 1 StR 112/19, BGHR StGB § 63 Gefährlichkeit 39, und vom 7. Juli 2016 - 4 StR 79/16, NStZ-RR 2016, 306). Bei den zu erwartenden Taten muss es sich um solche handeln, die geeignet erscheinen, den Rechtsfrieden schwer zu stören sowie das Gefühl der Rechtssicherheit erheblich zu beeinträchtigen, und die damit zumindest dem Bereich der mittleren Kriminalität zuzuordnen sind (st. Rspr.; BGH, Beschluss vom 27. Juni 2019 - 1 StR 112/19, BGHR StGB § 63 Gefährlichkeit 39 mwN).

An die Darlegung der künftigen Gefährlichkeit sind umso höhere Anforderungen zu stellen, je mehr es sich bei dem zu beurteilenden Sachverhalt unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes (§ 62 StGB) um einen Grenzfall handelt (BGH, Beschlüsse vom 27. Juni 2019 - 1 StR 112/19, BGHR StGB § 63 Gefährlichkeit 39; vom 4. Juli 2012 - 4 StR 224/12, NStZ-RR 2012, 337, 338; Senat, Beschluss vom 8. November 2006 - 2 StR 465/06, NStZ-RR 2007, 73, 74).

Neben der sorgfältigen Prüfung dieser Anordnungsvoraussetzungen ist das Tatgericht auch verpflichtet, die wesentlichen Gesichtspunkte in den Urteilsgründen so umfassend darzustellen, dass das Revisionsgericht in die Lage versetzt wird, die Entscheidung nachzuvollziehen (st. Rspr.; vgl. Senat, Beschluss vom 5. Februar 2020 - 2 StR 436/19, juris Rn. 5; BGH, Beschlüsse vom 21. Februar 2017 - 3 StR 535/16, StV 2017, 575, 576; vom 12. Oktober 2016 - 4 StR 78/16, NStZ-RR 2017, 74, 75, und vom 15. Januar 2015 - 4 StR 419/14, NStZ 2015, 394, 395).

b) Diesen Anforderungen wird das angefochtene Urteil nicht gerecht. Das Landgericht hat nicht rechtsfehlerfrei begründet, dass von dem Beschuldigten in Zukunft mit einer Wahrscheinlichkeit höheren Grades erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten sind und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist.

aa) Die Strafkammer hat schon nicht erkennbar bedacht, dass es einer Gesamtwürdigung des Täters und der Symptomtaten bedarf und dabei etwaige Vortaten von besonderer Bedeutung sind. So ist es als gewichtiges Indiz gegen die Wahrscheinlichkeit künftiger Straftaten anzusehen, dass ein Täter trotz bestehenden Defekts über Jahre hinweg keine erheblichen Straftaten begangen hat (vgl. etwa BGH, Beschluss vom 7. Juni 2016 - 4 StR 79/16, NStZ-RR 2016, 306, 307; SSW-StGB/Kaspar, 4. Aufl., § 63 Rn. 21; MüKo-StGB/van Gemmeren, 3. Aufl., § 63 Rn. 62).

Nach den getroffenen Feststellungen ist der Beschuldigte, bei dem die paranoide Schizophrenie „mit Wahnvorstellungen und einer erheblichen Negativsymptomatik“ schon seit mehreren Jahren andauert, zwischen März 2017 und Juni 2018 wegen Verstoßes gegen das Waffengesetz und wegen Anbaus und Besitzes von Betäubungsmitteln strafrechtlich in Erscheinung getreten. Die insgesamt drei Verfahren endeten mit Geldstrafen. Dass die Straftaten in einem inneren Zusammenhang mit der festgestellten Erkrankung gestanden haben, hat die Strafkammer nicht festgestellt.

bb) Die Einschätzung des Sachverständigen, der sich die Strafkammer angeschlossen hat, der Beschuldigte könnte über die als Vergehen der Körperverletzung gewerteten - nicht besonders schwerwiegenden (vgl. auch BGH, Beschluss vom 11. Juli 2019 - 1 StR 253/19, juris Rn. 6) - Anlasstaten hinaus künftig ganz erhebliche rechtswidrige Taten begehen, „die noch deutlich schlimmer als in den hier zu beurteilenden Taten ausfallen könnten“, ist lediglich behauptet, argumentativ jedoch nicht belegt.

Mit einer im Allgemeinen erhöhten Kriminalitätsbelastung schizophren Erkrankter kann die Gefahrenprognose nicht begründet werden (BGH, Urteil vom 11. August 2011 - 4 StR 267/11, juris Rn. 15; vgl. dazu auch Senat, Beschluss vom 17. Februar 2016 - 2 StR 545/15, StV 2016, 720, 722). Maßgeblich sind stattdessen die konkrete Krankheits- und Kriminalitätsentwicklung (Senat, Beschluss vom 5. Februar 2020 - 2 StR 436/19, juris Rn. 9 mwN) sowie die auf die Person des Beschuldigten und seine konkrete Lebenssituation bezogenen Risikofaktoren, die eine individuelle krankheitsbedingte Disposition zur Begehung von Delikten jenseits der Anlasstaten belegen können (BGH, Urteil vom 11. August 2011 - 4 StR 267/11, juris Rn. 15; zu situativen Risikofaktoren auch Senat, Beschluss vom 17. Februar 2016 - 2 StR 545/15, StV 2016, 720, 722).

Körperliche Übergriffe gegen die Mutter oder Dritte vor und auch nach den Anlasstaten sind nicht festgestellt. Zwar wird im Urteil erwähnt, dass es zwischen dem Beschuldigten und seinem Cousin am 15. Mai 2019 zu einem Kampf gekommen und der Cousin im Gesicht verletzt worden sei; zu Anlass und Ausmaß und zum psychopathologischen Zustand des Beschuldigten hat die Strafkammer jedoch nichts festgestellt. Auch der Umstand, dass der Beschuldigte innerhalb der in dieser Sache angeordneten einstweiligen Unterbringung (§ 126a StPO) keinerlei fremdaggressives Verhalten gezeigt hat, hat die Strafkammer nicht in ihre Prognoseentscheidung eingestellt.

Die Sache bedarf daher neuer Verhandlung und Entscheidung.

HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 954

Externe Fundstellen: NStZ-RR 2020, 274; StV 2021, 247

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner