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HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 1209

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 229/20, Beschluss v. 28.07.2020, HRRS 2020 Nr. 1209


BGH 2 StR 229/20 - Beschluss vom 28. Juli 2020 (LG Erfurt)

Diebstahl (Wegnahme: Gewahrsam eines Verletzten an seinen neben ihm liegenden Sachen); verminderte Schuldfähigkeit (Anforderungen an die Beweiswürdigung hinsichtlich einer alkoholbedingt erheblichen Beeinträchtigung des Hemmungsvermögens: Bewertung von Trinkmengenangaben, Blutalkoholgehalt, Gesamtwürdigung der feststellbaren Alkoholaufnahme einerseits und psychodiagnostischer Kriterien, Berücksichtigung eines intakten Erinnerungsvermögens).

§ 20 StGB; § 21 StGB; § 242 Abs. 1 StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Diebstahl begeht gemäß § 242 Abs. 1 StGB, wer eine fremde bewegliche Sache in der Absicht wegnimmt, sich oder einem Dritten dieselbe rechtswidrig zuzueignen. Unter Wegnahme wird der Bruch fremden und die Begründung neuen Gewahrsams durch den Täter verstanden. Der Gewahrsam ist ein tatsächliches Herrschaftsverhältnis einer Person über eine Sache, das von deren Herrschaftswillen getragen ist. Dafür ist die Sachherrschaft wesentlich, der unter Ausschluss fremder Einwirkungsmöglichkeiten kein Hindernis entgegenstehen darf. Der einmal begründete Gewahrsam bleibt als tatsächliches Verhältnis, das dem Inhaber die Sachherrschaft ermöglicht, solange bestehen, bis dessen tatsächliche Einwirkungsmöglichkeit verloren geht. Selbst der Gewahrsam eines Verletzten an seinen neben ihm liegenden Sachen ist nicht schon deshalb zu verneinen, weil er nicht mehr fähig ist, etwas zu deren Schutz zu unternehmen.

2. Stehen mangels einer Blutprobe nur die in ihrer Richtigkeit festgestellten oder nicht widerlegbaren Trinkmengenangaben zur Verfügung, so ist die Blutalkoholkonzentration zur Tatzeit auf der Grundlage der sogenannten Widmark-Formel mit dem für den Täter günstigsten Abbauwert (0,1 ‰ pro Stunde seit Trinkbeginn), einem Resorptionsdefizit (10 %) und dem Reduktionsfaktor (0,7) zu berechnen.

3. Auch wenn davon auszugehen ist, dass es keinen gesicherten Erfahrungssatz darüber gibt, dass ohne Rücksicht auf psychodiagnostische Beurteilungskriterien allein wegen einer bestimmten Blutalkoholkonzentration zur Tatzeit in aller Regel vom Vorliegen einer alkoholbedingt erheblich verminderten Steuerungsfähigkeit ausgegangen werden muss, ist der im Einzelfall festzustellende Wert ein Beweisanzeichen für eine erhebliche alkoholische Beeinflussung. Dies gilt unbeschadet der Tatsache, dass die Wirkungen einer Alkoholaufnahme individuell verschieden sind. Der Blutalkoholgehalt zeigt jedenfalls die wirksam aufgenommene Alkoholmenge an. Je höher dieser Wert ist, umso näher liegt die Annahme einer erheblichen Einschränkung der Steuerungsfähigkeit.

4. Bei einer besonders starken Alkoholaufnahme kann eine erheblich verminderte Steuerungsfähigkeit nur ausgeschlossen werden, wenn gewichtige Anzeichen dafür sprechen, dass das Hemmungsvermögen des Täters zur Tatzeit erhalten geblieben war.

5. Erforderlich ist eine Gesamtwürdigung der feststellbaren Alkoholaufnahme einerseits und der psychodiagnostischen Kriterien andererseits. Bei der notwendigen Gesamtwürdigung spielen im Einzelfall insbesondere folgende Umstände eine Rolle: die Alkoholgewöhnung des Täters, der feststellbare Blutalkoholgehalt zur Tatzeit und Trinkmenge sowie Trinkgeschwindigkeit, die körperliche und seelische Verfassung des Täters zur Zeit der Tat, das Tatmotiv, das mehr oder weniger gesteuert wirkende Leistungsverhalten vor, während und nach der Tat, das Vorliegen von markanten Ausfallerscheinungen, Störungen von Denken und Wahrnehmung, Veränderungen im Affekt, das Vorhandensein oder Fehlen einer Erinnerung an das Geschehen, die mehr oder weniger genaue Tatplanung und ein zielgerichtetes Verhalten bei der Tatbegehung, ein umsichtiges Nachtatverhalten sowie konstellative Faktoren, wie Übermüdung, Erkrankung, Drogen- oder Medikamenteneinnahme, eine affektive Erregung oder eine Persönlichkeitsstörung.

6. Generell ist der indizielle Beweiswert eines intakten Erinnerungsvermögens für die Beurteilung des Hemmungsvermögens zudem problematisch. Dies bedarf jedenfalls einer näheren Überprüfung unter Einbeziehung in die Gesamtschau aller Umstände des Einzelfalls.

Entscheidungstenor

Auf die Revision des Angeklagten S. wird das Urteil des Landgerichts Erfurt vom 17. Dezember 2019, auch soweit es den Angeklagten Se. betrifft, mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat die Angeklagten S. und Se. jeweils wegen gefährlicher Körperverletzung in Tateinheit mit Diebstahl verurteilt, den Angeklagten S. zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und drei Monaten, den Angeklagten Se. unter Einbeziehung von Einzelstrafen aus früheren Verurteilungen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten. Außerdem hat es Einziehungsentscheidungen getroffen. Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision des Angeklagten S. mit der Sachrüge. Das Rechtsmittel hat Erfolg. Es führt zur Aufhebung des Urteils, die auf den Angeklagten Se. zu erstrecken ist.

I.

Das Landgericht hat folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:

1. Der Angeklagte S. wohnte im Jahr 2016 für einige Zeit bei der früheren Freundin des Zeugen M. ; das führte zu verbalen Auseinandersetzungen. Am 16. Februar 2017 war der Angeklagte S. bei dem Angeklagten Se. zu Besuch und führte seinen Rottweiler-Rüden mit. Anwesend war auch der Zeuge Sc. ; später kam die Zeugin O. hinzu. Der Angeklagte S. vernahm, dass sich der Zeuge M. wegen der Streitigkeiten an seinen körperbehinderten Vater wenden wollte, was ihn erboste. Zur Aggressionsentladung schlug er den Angeklagten Se. Dann forderte er die Zeugin O. auf, ein Treffen zwischen ihr und M. zu vereinbaren; dadurch sollte dieser in eine Falle gelockt werden, in der ihm eine „Abreibung“ erteilt werden sollte. Treffpunkt sollte der Innenhof des M. stifts in A. sein. Die Zeugen O. und Sc. trafen zuerst dort ein und begegneten dem Zeugen M. Gegen 18 Uhr kamen die Angeklagten S. und Se. hinzu. Sie führten ein Streitgespräch mit dem Zeugen M., wobei dieser einige Schritte zurückwich und stürzte; am Boden liegend wurde er von den Angeklagten S. und Se. getreten und geschlagen. Dann hetzte der Angeklagte S. seinen Hund auf den Geschädigten, der mehrfach gebissen wurde. Der Angeklagte Se. entfernte sich, um sich von dem Angriff mit dem Hund zu distanzieren. Der Angeklagte S. forderte den Geschädigten noch auf, sich „nackt zu machen“. Dann war ein „Martinshorn“ zu hören und der Zeuge Sc. zog den Angeklagten S. von dem Geschädigten fort.

Im Rahmen des Tatgeschehens verlor M. zwei Armbänder sowie seine Uhr. „Vor Verlassen des Tatortes nahm der Angeklagte Se. das dicke Gliederarmband und der Angeklagte S. die Armbanduhr und das Pandora-Armband an sich“. „Der Geschädigte konnte sich trotz seiner Verletzungen in den nahegelegenen dm-Drogeriemarkt begeben und dort um Hilfe bitten“.

2. Das Landgericht hat die Tat des Angeklagten S. als gefährliche Körperverletzung gemäß § 224 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 4 StGB, diejenige des Angeklagten Se. als gefährliche Körperverletzung nach § 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB gewertet. Ferner hat es beide wegen tateinheitlich begangenen Diebstahls verurteilt, aber besonders schweren Raub ausgeschlossen, weil ein finaler Zusammenhang zwischen der Anwendung von Gewalt und der Wegnahme der Sachen des Geschädigten nicht festzustellen sei.

II.

Die Revision ist begründet, weil die Strafkammer die Verurteilung wegen Diebstahls nicht ausreichend belegt und vom Tatbestand der Unterschlagung abgegrenzt hat. Deshalb kann auch die für sich genommen rechtlich nicht zu beanstandende Verurteilung wegen tateinheitlich begangener gefährlicher Körperverletzung keinen Bestand haben.

1. Diebstahl begeht gemäß § 242 Abs. 1 StGB, wer eine fremde bewegliche Sache in der Absicht wegnimmt, sich oder einem Dritten dieselbe rechtswidrig zuzueignen. Unter Wegnahme wird der Bruch fremden und die Begründung neuen Gewahrsams durch den Täter verstanden. Der Gewahrsam ist ein tatsächliches Herrschaftsverhältnis einer Person über eine Sache, das von deren Herrschaftswillen getragen ist. Dafür ist die Sachherrschaft wesentlich, der unter Ausschluss fremder Einwirkungsmöglichkeiten kein Hindernis entgegenstehen darf (vgl. Senat, Urteil vom 28. Oktober 1955 - 2 StR 171/55, BGHSt 8, 273, 274 f.). Der einmal begründete Gewahrsam bleibt als tatsächliches Verhältnis, das dem Inhaber die Sachherrschaft ermöglicht, solange bestehen, bis dessen tatsächliche Einwirkungsmöglichkeit verloren geht (vgl. BGH, Urteil vom 21. Mai 1953 - 4 StR 787/52, BGHSt 4, 210, 211). Selbst der Gewahrsam eines Verletzten an seinen neben ihm liegenden Sachen ist nicht schon deshalb zu verneinen, weil er nicht mehr fähig ist, etwas zu deren Schutz zu unternehmen (vgl. Senat, Urteil vom 20. März 1985 - 2 StR 44/85, NJW 1985, 1911). Jedoch endet der Gewahrsam mit einem Verlieren der Sache (vgl. Schönke/Schröder/Bosch, StGB, 30. Aufl., § 242 Rn. 28; SK-StGB/Hoyer, 9. Aufl., § 242 Rn. 36; NK-StGB/Kindhäuser, StGB, 5. Aufl., § 242 Rn. 40; SSW-StGB/Kudlich, 4. Aufl., § 242 Rn. 22; Matt/Renzikowski/Schmidt, StGB, 2. Aufl., § 242 Rn. 14; MüKo-StGB/Schmitz, 3. Aufl., § 242 Rn. 52; LK/Vogel, StGB, 12. Aufl., § 242 Rn. 66).

2. Daran gemessen hat das Landgericht den Gewahrsam des Geschädigten zurzeit der Zueignung der Armbänder und der Uhr durch die Angeklagten nicht ausreichend begründet. Die Urteilsgründe sind insoweit lückenhaft.

Nach der Einlassung des Angeklagten Se. lagen die Gegenstände am Boden, „nachdem der Geschädigte den Tatort verlassen hatte“; dann habe er ein Armband an sich genommen, während der Angeklagte S. das andere Armband und die Uhr eingesteckt habe. Danach kommt in Betracht, dass der Geschädigte den Gewahrsam an den Sachen vor der Zueignung durch die Angeklagten verloren hatte.

Dieser Ablauf steht allerdings in Widerspruch zu der Feststellung der Strafkammer, der Angeklagte Se. habe den Tatort zur Distanzierung von dem weiteren Geschehen bereits verlassen, als der Angeklagte S. seinen Hund auf den Geschädigten hetzte. Der Geschädigte hat demgegenüber bekundet, einer der Angeklagten habe ihm „das Pandora-Armband und die Uhr von seinem Handgelenk gelöst“; nach der Tat hätten ihm aber „definitiv drei Gegenstände gefehlt“. Die Strafkammer hat die Widersprüche zwischen diesen Aussagen nur dahin aufgelöst, dass dem Geschädigten nach ihrer Überzeugung „3 Schmuckstücke abhandengekommen sind und die Angeklagten diese eingesteckt haben“. Das reicht jedoch nicht aus, um Raub oder Diebstahl rechtsfehlerfrei von Unterschlagung abzugrenzen.

3. Eine Schuldspruchänderung durch den Senat in Unterschlagung kommt nicht in Betracht, weil nicht auszuschließen ist, dass der neue Tatrichter Feststellungen treffen kann, die eine Verurteilung der Angeklagten wegen Raubes oder Diebstahls ermöglichen.

4. Der sachlich-rechtliche Fehler, der zur Aufhebung der Verurteilung des Angeklagten S. führt, betrifft in gleicher Weise die Verurteilung des Angeklagten Se. ; daher ist die Aufhebung auf ihn zu erstrecken (§ 357 StPO).

III.

Für die neue Verhandlung und Entscheidung weist der Senat darauf hin, dass auch die bisherigen Ausführungen zur Frage der Beeinträchtigung der Angeklagten bei der Begehung der Tat durch Alkoholbeziehungsweise Drogenkonsum rechtlichen Bedenken begegnen.

1. Im angefochtenen Urteil hat die Strafkammer Folgendes ausgeführt:

„Nach den Bekundungen des Angeklagten S. hatte dieser am Tattag bis zur Tat über 7 - 8 Stunden 10 Bier á 0,5 l getrunken. Angesichts des Tatzeitraums, in dem ständig der Alkohol im Blut auch wieder abgebaut wird, sowie der Bekundungen des Angeklagten Se., der Angeklagte S. sei zwar angetrunken gewesen, habe aber weder gelallt noch getaumelt, sowie unter Berücksichtigung der gezielten Vorgehensweise bestehen keine Anhaltspunkte für eine strafrechtlich relevante Einschränkung der Schuldfähigkeit des Angeklagten S. .“ „Gleiches gilt im Ergebnis für den Angeklagten Se. Dieser gab zwar insoweit an, vor der Tat 2 - 3 Flaschen Schnaps und ½ Gramm Crystal konsumiert zu haben. Angesichts seiner detaillierten Erinnerung an das gesamte Rand- und Kerngeschehen und der planvollen Vorgehensweise sowie der Feststellungen aus dem verlesenen Urteil des Amtsgerichts Arnstadt vom 07.04.2017 zu der selbst durchgeführten Entgiftung im Januar 2017 hält die Kammer den behaupteten Konsum für nicht glaubhaft.“

2. Das genügt nicht den Anforderungen an die Beweiswürdigung hinsichtlich einer alkoholbedingt erheblichen Beeinträchtigung des Hemmungsvermögens der beiden Angeklagten bei ihren jeweiligen Tatbeiträgen.

a) Die Strafkammer hat die Trinkmengenangaben des Angeklagten S. nicht widerlegt oder als unglaubhaft eingeschätzt. Sie hat nur aus seinem Verhalten auf das Fehlen einer erheblichen Beeinträchtigung zur Tatzeit im Sinne des § 21 StGB geschlossen. Das greift zu kurz.

aa) Nach der Einlassung hatte der Angeklagte S. „von mittags bis zum Vorfall am Abend etwa 10 Bier á 0,5 l getrunken“. Da die Tat nach den Feststellungen „gegen 18:00 Uhr“ begangen wurde, stimmt bereits die vom Landgericht angenommene Trinkzeit von „7 - 8 Stunden“ nicht mit der Einlassung überein, ohne dass das Landgericht diese Abweichung erklärt hat.

bb) Das Landgericht hat es auch versäumt, eine Rückrechnung des Blutalkoholgehalts zur Tatzeit unter Beachtung des Zweifelssatzes vorzunehmen.

(1) Stehen mangels einer Blutprobe nur die in ihrer Richtigkeit festgestellten oder nicht widerlegbaren Trinkmengenangaben zur Verfügung, so ist die Blutalkoholkonzentration zur Tatzeit auf der Grundlage der sogenannten Widmark-Formel mit dem für den Täter günstigsten Abbauwert (0,1 ‰ pro Stunde seit Trinkbeginn), einem Resorptionsdefizit (10 %) und dem Reduktionsfaktor (0,7) zu berechnen (vgl. Krumm, NJW 2010, 1577, 1578).

(2) Auch wenn davon auszugehen ist, dass es keinen gesicherten Erfahrungssatz darüber gibt, dass ohne Rücksicht auf psychodiagnostische Beurteilungskriterien allein wegen einer bestimmten Blutalkoholkonzentration zur Tatzeit in aller Regel vom Vorliegen einer alkoholbedingt erheblich verminderten Steuerungsfähigkeit ausgegangen werden muss (vgl. BGH, Urteil vom 29. April 1997 - 1 StR 511/95, BGHSt 43, 66, 72 ff.; Beschluss vom 29. Mai 2012 - 1 StR 59/12, BGHSt 57, 247, 250), ist der im Einzelfall festzustellende Wert ein Beweisanzeichen für eine erhebliche alkoholische Beeinflussung. Dies gilt unbeschadet der Tatsache, dass die Wirkungen einer Alkoholaufnahme individuell verschieden sind. Der Blutalkoholgehalt zeigt jedenfalls die wirksam aufgenommene Alkoholmenge an. Je höher dieser Wert ist, umso näher liegt die Annahme einer erheblichen Einschränkung der Steuerungsfähigkeit.

(3) Die Urteilsgründe lassen deshalb zu Unrecht offen, welcher Blutalkoholgehalt bei dem Angeklagten zur Tatzeit vorgelegen hat. Bei einer besonders starken Alkoholaufnahme, die sich hier bei einer Rückrechnung wahrscheinlich feststellen ließe, kann eine erheblich verminderte Steuerungsfähigkeit nur ausgeschlossen werden, wenn gewichtige Anzeichen dafür sprechen, dass das Hemmungsvermögen des Täters zur Tatzeit erhalten geblieben war (vgl. Senat, Beschluss vom 2. Juli 2015 - 2 StR 146/15, NJW 2015, 3525, 3526; Urteil vom 14. Oktober 2015 - 2 StR 115/15, NStZ-RR 2016, 103, 104). Das hat die Strafkammer nicht beachtet.

cc) Erforderlich ist zudem eine Gesamtwürdigung der feststellbaren Alkoholaufnahme einerseits und der psychodiagnostischen Kriterien andererseits (vgl. Senat, Beschluss vom 30. April 2015 - 2 StR 444/14, NStZ 2015, 634; Beschluss vom 2. Juli 2015 - 2 StR 146/15, NJW 2015, 3525, 3526; Urteil vom 14. Oktober 2015 - 2 StR 115/15, NStZ-RR 2016, 103, 104); daran fehlt es hier.

(1) Bei der notwendigen Gesamtwürdigung spielen im Einzelfall insbesondere folgende Umstände eine Rolle: die Alkoholgewöhnung des Täters (vgl. Senat, Urteil vom 14. Oktober 2015 - 2 StR 115/15, NStZ-RR 2016, 105), der feststellbare Blutalkoholgehalt zur Tatzeit und Trinkmenge sowie Trinkgeschwindigkeit, die körperliche und seelische Verfassung des Täters zur Zeit der Tat, das Tatmotiv, das mehr oder weniger gesteuert wirkende Leistungsverhalten vor, während und nach der Tat (vgl. Senat, Beschluss vom 2. Juli 2015 - 2 StR 146/15, NJW 2015, 3525, 3526), das Vorliegen von markanten Ausfallerscheinungen (vgl. BGH, Beschluss vom 17. August 2011 - 5 StR 255/11, StV 2012, 281), Störungen von Denken und Wahrnehmung, Veränderungen im Affekt, das Vorhandensein oder Fehlen einer Erinnerung an das Geschehen (vgl. BGH, Beschluss vom 16. November 1995 - 4 StR 596/95, NStZ 1996, 227), die mehr oder weniger genaue Tatplanung und ein zielgerichtetes Verhalten bei der Tatbegehung, ein umsichtiges Nachtatverhalten (vgl. BGH, Beschluss vom 3. September 2004 - 1 StR 359/04, NStZ-RR 2004, 360) sowie konstellative Faktoren, wie Übermüdung, Erkrankung, Drogenoder Medikamenteneinnahme, eine affektive Erregung oder eine Persönlichkeitsstörung.

(2) Mit diesen Aspekten hat sich das Landgericht nicht auseinandergesetzt. Der von ihm hervorgehobene Einzelumstand kann die notwendige Gesamtschau nicht ersetzen. Zwar deutet die Einschaltung der Zeugin O., um den Geschädigten in eine Falle zu locken, auf eine gewisse Vorausplanung der Tat und Steuerung des Verhaltens hin. Das schließt aber eine erhebliche Beeinträchtigung des Hemmungsvermögens für sich genommen nicht aus.

b) Auch die Prüfung des Vorliegens einer erheblichen Beeinträchtigung der Steuerungsfähigkeit des Angeklagten Se. begegnet rechtlichen Bedenken.

aa) Die Trinkmengenangabe des Angeklagten Se., er habe vor der Tat zwei bis drei Flaschen Schnaps konsumiert, mag als übertrieben zu bewerten sein. Das Gericht ist nicht gezwungen, Trinkmengenangaben für die es keine konkreten Anhaltspunkte gibt, als unwiderlegt hinzunehmen. Dies schließt hier aber einen - zumindest geringeren - Konsum hochprozentigen Alkohols ebenso wenig aus wie den zusätzlichen Konsum von Crystal, den der Angeklagte Se. ebenfalls behauptet hat. Angesichts der festgestellten früheren Konsumgewohnheiten des Angeklagten Se. bezüglich Crystal und Alkohol erscheint die Einlassung auch nicht als im Ansatz unglaubhaft.

bb) Die detaillierte Erinnerung des Angeklagten Se. an das Geschehen ist zwar eines von mehreren bei der Gesamtwürdigung aller Umstände in Frage kommenden Kriterien, die für eine erhalten gebliebene Steuerungsfähigkeit sprechen können. Aber sie rechtfertigt für sich genommen nicht das Wertungsergebnis der Strafkammer, dass eine Beeinträchtigung des Hemmungsvermögens des Angeklagten Se. auszuschließen sei. Generell ist der indizielle Beweiswert eines intakten Erinnerungsvermögens für die Beurteilung des Hemmungsvermögens zudem problematisch (vgl. BGH, Beschluss vom 23. Januar 2019 - 1 StR 448/18, in juris Rn. 5; Fischer, StGB, 67. Aufl., § 20 Rn. 24a f.). Dies bedarf jedenfalls einer näheren Überprüfung unter Einbeziehung in die Gesamtschau aller Umstände des Einzelfalls.

cc) Von einer planvollen Vorgehensweise des Angeklagten Se. als Hinweis auf ein gesteuertes Verhalten kann nicht ohne weiteres gesprochen werden, weil die Tat von dem Angeklagten S. initiiert wurde und den Feststellungen nicht zu entnehmen ist, dass auch der Angeklagte Se., der zuvor selbst von S. angegriffen worden war, in die Planung einer Falle für den Geschädigten einbezogen war.

dd) Feststellungen aus dem Urteil des Amtsgerichts Arnstadt vom 7. April 2017 über eine Entgiftung des Angeklagten Se. im Januar 2017, die für das Landgericht mangels Rechtskraftwirkung fremder Urteilsfeststellungen auch nicht bindend sind (vgl. BGH, Beschluss vom 3. Juni 1997 - 1 StR 183/97, BGHSt 43, 106, 107), schließen einen Rückfall in den Alkoholkonsum am Tattag nicht ohne weiteres aus.

3. Der neue Tatrichter wird die notwendige Gesamtschau, gegebenenfalls unter Hinzuziehung eines medizinisch-psychiatrischen Sachverständigen, eingehender als bisher zur Prüfung der Voraussetzungen von § 21 StGB vorzunehmen haben. Er ist auch nicht gehindert, die Frage der Verhängung einer Maßregel gemäß § 64 StGB nochmals zu prüfen (§ 358 Abs. 2 Satz 3 StPO).

HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 1209

Externe Fundstellen: NStZ 2021, 42; NStZ 2021, 228

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner