HRRS-Nummer: HRRS 2015 Nr. 782
Bearbeiter: Karsten Gaede und Christoph Henckel
Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 444/14, Beschluss v. 30.04.2015, HRRS 2015 Nr. 782
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Aachen vom 23. Juni 2014 mit den Feststellungen aufgehoben,
a) im Einzelstrafausspruch zu Fall II. 2. der Urteilsgründe,
b) im Ausspruch über die Gesamtfreiheitsstrafe und
c) im Ausspruch über die Dauer des Vorwegvollzuges der Strafe vor Vollziehung der Maßregel. 2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine andere als Schwurgericht zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
3. Die weitergehende Revision wird verworfen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Totschlags (Fall II. 2. der Urteilsgründe) und wegen gefährlicher Körperverletzung (Fall II. 1. der Urteilsgründe) zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von neun Jahren und sechs Monaten verurteilt. Ferner hat es die Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt und den Vorwegvollzug von zwei Jahren und neun Monaten der „Freiheitsstrafe“ vor der Maßregel angeordnet. Die auf die Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hat in dem aus dem Beschlusstenor ersichtlichen Umfang Erfolg; im Übrigen ist das Rechtsmittel unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.
1. Die Verfahrensrügen haben aus den Gründen der Antragsschrift des Generalbundesanwalts vom 4. November 2014 keinen Erfolg.
2. Die Überprüfung des Urteils auf Grund der Revisionsrechtfertigung hat zum Schuldspruch und zum Strafausspruch im Fall II. 1. der Urteilsgründe keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben.
3. Der Strafausspruch im Fall II. 2. der Urteilsgründe hält hingegen rechtlicher Nachprüfung nicht stand, weil die Strafkammer eine erheblich verminderte Schuldfähigkeit des Angeklagten nicht rechtsfehlerfrei ausgeschlossen hat.
a) Das sachverständig beratene Landgericht hat festgestellt, dass der Angeklagte zum Tatzeitpunkt eine „maximale Blutalkoholkonzentration von etwa 3 ‰" (UA S. 13) bzw. eine errechnete „Blutalkoholkonzentration von 3,18 ‰" (UA S. 47) aufgewiesen habe. Die Voraussetzungen des § 21 StGB hätten indes nicht vorgelegen, weil beim alkoholgewöhnten Angeklagten keinerlei auf Alkoholgenuss zurückzuführende Ausfallerscheinungen festgestellt werden konnten. Der Angeklagte sei zu zielgerichtetem Vorgehen in der Lage gewesen und hätte auch nach der Tat den Tatort „ohne Aufsehen zu erregen“ verlassen können. Anhaltspunkte für Ausfallerscheinungen während der Tatausführung hätten sich nicht ergeben. Soweit ein Zeuge bekundet habe, der Angeklagte sei vor der Tat "‘richtig voll‘" und danach „noch immer betrunken, […] ‘nicht mehr zurechnungsfähig‘ und ‘wie ein Tier‘" (UA S. 48) gewesen, ist die Strafkammer dieser Einschätzung nicht gefolgt, zumal es dem Angeklagten gelungen sei, „ohne größere Probleme […] die Wohnungstüre aufzuschließen und den Schlüssel in ein Schloss zu stecken bzw. ihn abzuziehen. Auch das Anziehen der Schuhe in hockender Position und angelehnt an die Wand“ (UA S. 48) sei kein „Anhalt für eine hohe alkoholische Beeinflussung.“
b) Zwar gibt es keinen gesicherten Rechts- oder Erfahrungssatz, wonach ab einer bestimmten Höhe der Blutalkoholkonzentration ohne Rücksicht auf psychodiagnostische Beurteilungskriterien regelmäßig vom Vorliegen einer krankhaften seelischen Störung auszugehen ist. Bei einem Wert von über 2 ‰ ist eine erhebliche Herabsetzung der Hemmungsfähigkeit aber je nach den Umständen des Einzelfalles in Betracht zu ziehen, naheliegend oder gar in hohem Maße wahrscheinlich (BGH, Urteil vom 29. April 1997 - 1 StR 511/95, BGHSt 43, 66, 75 f.; Beschluss vom 7. Februar 2012 - 5 StR 545/11, NStZ-RR 2012, 137). Bei Tötungsdelikten ist ab einer Blutalkoholkonzentration von 2,2 ‰ eine erhebliche Verminderung der Steuerungsfähigkeit in Betracht zu ziehen (vgl. Senat, Beschluss vom 18. März 1998 - 2 StR 5/98, BGHR StGB § 21 Blutalkoholkonzentration 35; weitere Nachweise bei Streng in Münchener Kommentar, StGB, 2. Aufl., § 20 Rn. 68).
Für die Beantwortung der Frage, ob die Voraussetzungen des § 21 StGB gegeben sind, kommt es demnach - gesamtwürdigend - sowohl auf die Höhe der Blutalkoholkonzentration als auch auf die psychodiagnostischen Kriterien an (vgl. BGH, Urteil vom 29. April 1997 - 1 StR 511/95, BGHSt 43, 66, 75 f.). Dabei steht das Fehlen von Ausfallerscheinungen einer erheblichen Verminderung der Steuerungsfähigkeit nicht unbedingt entgegen; gerade bei - wie hier - alkoholgewöhnten Tätern können äußeres Leistungsverhalten und innere Steuerungsfähigkeit durchaus weit auseinander fallen (vgl. BGH, Beschluss vom 12. Juni 2007 - 4 StR 187/07, NStZ 2007, 696; Fischer, StGB, 62. Aufl., § 20 Rn. 23a, jeweils mwN). Im vorliegenden Fall kommt hinzu, dass die Feststellung, der Angeklagte habe nach der Rückkehr zur Wohnung keine Ausfallerscheinungen gezeigt, auf Angaben von Zeugen beruhen, die entweder ebenfalls dem Alkohol zugesprochen hatten oder unter dem Einfluss von Schmerzmitteln standen. Soweit sich die Urteilsgründe auf die Aussagen dieser Zeugen stützen, wären etwaige alkoholische bzw. medikamentöse Auswirkungen auf deren Wahrnehmung und Bewertung des Verhaltens des Angeklagten zu erörtern gewesen (vgl. BGH Beschluss vom 26. Mai 2009 - 5 StR 57/09, BGHR StGB § 21 Blutalkoholkonzentration 41).
Zudem lassen sich gewichtige psychodiagnostische Gegenindizien, die geeignet sein könnten, die Indizwirkung der Blutalkoholkonzentration für die Beurteilung der Schuldfähigkeit des Angeklagten zu relativieren, dem Urteil nicht ausreichend entnehmen. Die Wertung der Strafkammer, der Angeklagte habe sich situationsadäquat und zielgerichtet verhalten, steht vielmehr im Widerspruch zu den Feststellungen. Danach trägt bereits das Gesamtbild der Tatausführung deutliche Züge einer spontanen und unüberlegten Handlung.
Der Senat kann ausschließen, dass der Angeklagte bei Begehung der Tat im Fall II.2. der Urteilsgründe schuldunfähig gewesen wäre, muss jedoch den Strafausspruch in diesem Fall aufheben.
4. Die Aufhebung des Einzelstrafausspruchs zu Fall II. 2. der Urteilsgründe hat die Aufhebung der verhängten Gesamtfreiheitsstrafe und der Entscheidung über die Dauer des Vorwegvollzuges der Gesamtfreiheitsstrafe vor der Maßregel zur Folge.
Der Senat weist darauf hin, dass die Strafzumessungserwägung des Landgerichts, zu Lasten des Angeklagten zu werten sei, dass er „ohne Anlass zum wiederholten Male das Gespräch mit dem Geschädigten gesucht“ habe (UA S. 51), rechtlichen Bedenken begegnet. Tatmodalitäten dürfen einem Angeklagten nur dann ohne Abstriche strafschärfend zur Last gelegt werden, wenn sie in vollem Umfang vorwerfbar sind, nicht aber, wenn ihre Ursache in einer von ihm nicht oder nur eingeschränkt zu vertretenen geistig-seelischen Beeinträchtigung liegt (vgl. Fischer, StGB, 62. Aufl., § 46 Rn. 32 mwN).
HRRS-Nummer: HRRS 2015 Nr. 782
Externe Fundstellen: NStZ 2015, 634
Bearbeiter: Karsten Gaede und Christoph Henckel