HRRS-Nummer: HRRS 2019 Nr. 683
Bearbeiter: Christian Becker
Zitiervorschlag: BGH, StB 9/19, Beschluss v. 03.05.2019, HRRS 2019 Nr. 683
Die weitere Haftprüfung durch den Bundesgerichtshof ist nicht erforderlich.
Die Beschwerde des Angeklagten gegen den Haftbefehl des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 18. Dezember 2018 (5 - 2 StE 9/18) wird verworfen.
Der Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.
Der Angeklagte wurde auf Grund des Haftbefehls des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs vom 6. März 2018 (2 BGs 135/18) am 21. März 2018 festgenommen und befindet sich seither ununterbrochen in Untersuchungshaft.
Gegenstand jenes Haftbefehls war der Vorwurf, der Angeklagte habe in der Zeit zwischen November 2015 und 11. Oktober 2017 durch zehn jeweils selbständige Handlungen eine ausländische Vereinigung unterstützt, deren Zwecke oder deren Tätigkeit darauf gerichtet seien, Mord (§ 211 StGB), Totschlag (§ 212 StGB), Völkermord (§ 6 VStGB), Verbrechen gegen die Menschlichkeit (§ 7 VStGB) oder Kriegsverbrechen (§§ 8, 9, 10, 11 oder 12 VStGB) zu begehen, strafbar gemäß §§ 129a Abs. 1 Nr. 1, Abs. 5 Satz 1, § 129b Abs. 1 Sätze 1 und 2, § 53 StGB.
Nach Anklageerhebung durch den Generalbundesanwalt zum Oberlandesgericht Stuttgart unter dem 26. Oktober 2018 hat der Senat am 30. Oktober 2018 die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus angeordnet (AK 36/18).
Am 18. Dezember 2018 hat das Oberlandesgericht Stuttgart das Hauptverfahren eröffnet sowie den Haftbefehl durch Beschluss vom selben Tag an den Anklagevorwurf angepasst und neu erlassen (5 - 2 StE 9/18). Gegenstand dieses Haftbefehls ist nach wie vor der Vorwurf der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung im Ausland in zehn Fällen (Tatkomplex I); darüber hinaus wird dem Angeklagten nunmehr (Tatkomplex II) auch zur Last gelegt, in zwei Fällen um Mitglieder und in einem Fall um Unterstützer für eine Vereinigung geworben zu haben, deren Zwecke oder deren Tätigkeit darauf gerichtet seien, Mord (§ 211 StGB), Totschlag (§ 212 StGB), Völkermord (§ 6 VStGB), Verbrechen gegen die Menschlichkeit (§ 7 VStGB) oder Kriegsverbrechen (§§ 8, 9, 10, 11 oder 12 VStGB) zu begehen, davon in einem Fall (Fall II.3.) durch dieselbe Handlung eine Schrift (§ 11 Abs. 3 StGB) verbreitet zu haben, die grausame oder sonst unmenschliche Gewalttätigkeiten gegen Menschen in einer Art schildert, die eine Verherrlichung solcher Gewalttätigkeiten ausdrückt, strafbar gemäß §§ 129a Abs. 1 Nr. 1, Abs. 5 Satz 1, § 129b Abs. 1 Sätze 1 und 2, § 53 StGB, im Fall II.3. zudem gemäß § 131 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a), § 52 Abs. 1 StGB und in einem weiteren Fall eine der in § 126 Abs. 1 StGB genannten rechtswidrigen Taten, nachdem sie begangen oder in strafbarer Weise versucht worden sind, in einer Weise, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, durch Verbreiten von Schriften (§ 11 Abs. 3 StGB) gebilligt zu haben, strafbar gemäß § 140 Nr. 2 StGB.
Am 17. Januar 2019 hatte die Hauptverhandlung begonnen. Mit Beschluss vom 19. März 2019 ist sie jedoch nach § 228 Abs. 1 Satz 1 StPO ausgesetzt worden, weil sie nicht innerhalb der Frist des § 229 Abs. 1 StPO fortgesetzt werden konnte; gleichzeitig wurden neue Termine zur Hauptverhandlung ab dem 2. April 2019 bestimmt. Mit Verfügung vom 19. März 2019 hat der Vorsitzende des 5. Strafsenats des Oberlandesgerichts die Akten gemäß § 121 Abs. 3 Satz 3, § 122 StPO zur Haftprüfung vorgelegt. Am 25. März 2019 hat die Wahlverteidigerin des Angeklagten „gegen den Haftbefehl des Ermittlungsrichters des BGH in der Gestalt des letzten Haftfortdauerbeschlusses des OLG Stuttgart“ Beschwerde eingelegt, der das Oberlandesgericht mit Beschluss vom 26. März 2019 nicht abgeholfen hat. Am 2. April 2019 hat die Hauptverhandlung erneut begonnen.
Die Haftprüfung ist (derzeit) nicht erforderlich, nachdem aufgrund der erneut begonnenen Hauptverhandlung der Lauf der Haftprüfungsfrist wiederum ruht (vgl. § 121 Abs. 3 Satz 2 StPO). Dass die erste Hauptverhandlung ausgesetzt werden musste, ändert daran nichts; die Prüfungskompetenz des Haftprüfungsgerichts endet in jedem Fall mit Beginn der Hauptverhandlung (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl., § 121 Rn. 31 mwN). Das durch den Beginn der ersten Hauptverhandlung eingetretene Ruhen des Fristenlaufs ist durch die Aussetzung auch nicht rückwirkend entfallen (KKStPO/Schultheis, 8. Aufl., § 121 Rn. 29), vielmehr ruhte die Frist infolge der unverzüglichen Aktenvorlage durch das Oberlandesgericht weiterhin (§ 121 Abs. 3 Satz 3 StPO), bis der Beginn der neuen Hauptverhandlung eine Entscheidung des Senats als Haftprüfungsgericht entbehrlich gemacht hat.
Da wegen des Ruhens der Haftprüfungsfrist eine Entscheidung über die Haftfortdauer nicht angezeigt ist, kann eine solche nicht zur Gegenstandslosigkeit der eingelegten Haftbeschwerde führen (vgl. zur Gegenstandslosigkeit der Haftbeschwerde bei gleichzeitigem Anstehen des besonderen Haftprüfungsverfahrens BGH, Beschluss vom 22. Februar 2018 - StB 29/17, juris Rn. 11 mwN; KKStPO/Schultheis, 8. Aufl., § 122 Rn. 11). Die danach zu bescheidende Haftbeschwerde, die sich trotz der rechtsirrigen Bezeichnung durch die Wahlverteidigerin des Angeklagten der Sache nach gegen den Haftbefehl des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 18. Dezember 2018 richtet, hat jedoch keinen Erfolg, denn das statthafte (§ 304 Abs. 4 Satz 2 Nr. 1 StPO) und auch im Übrigen zulässige Rechtsmittel erweist sich als unbegründet.
Hierzu ist zunächst in den Blick zu nehmen, dass - nachdem zwischenzeitlich die Hauptverhandlung erneut begonnen hat - die dem erkennenden Gericht obliegende Beurteilung des dringenden Tatverdachts im Haftbeschwerdeverfahren ohnehin nur in eigeschränktem Umfang der Nachprüfung durch das Beschwerdegericht unterliegt (st. Rspr.; vgl. etwa BGH, Beschluss vom 21. April 2016 - StB 5/16, NStZ-RR 2016, 217 mwN). Da die neue Hauptverhandlung erst vor kurzem begonnen und das Oberlandesgericht in seinem Nichtabhilfebeschluss mitgeteilt hat, dass die erste Hauptverhandlung keine den Ausführungen im Haftbefehl vom 18. Dezember 2018 entgegenstehenden Erkenntnisse erbracht hatte, waren hier weitere Ausführungen des Oberlandesgerichts zu dem sich nach dem derzeitigen Stand der Hauptverhandlung ergebenden Tatverdacht über die sich nach dem Haftbefehl ergebenden Erkenntnisse hinaus nicht erforderlich.
Nach dem im Haftbefehl niedergelegten Ermittlungsstand gilt Folgendes:
1. Soweit es im Tatkomplex I den Vorwurf der Unterstützung der Vereinigung „Islamischer Staat“ (IS) in zehn Fällen betrifft, nimmt der Senat zum Sachverhalt, zu den den dringenden Tatverdacht begründenden Umständen - auch zu den Erkenntnissen zu der Vereinigung IS als solcher - und zur rechtlichen Bewertung Bezug auf die Gründe seiner Haftfortdauerentscheidung vom 30. Oktober 2018 (AK 36/18), die fortgelten und dem neuen Haftbefehl des Oberlandesgerichts ebenfalls zugrunde liegen.
2. Der Angeklagte ist auch der ihm im Haftbefehl vom 18. Dezember 2018 zum Tatkomplex II vorgeworfenen Taten dringend verdächtig.
a) Im Sinne eines dringenden Tatverdachts ist insoweit von folgendem Geschehen auszugehen:
Der Angeklagte betrieb die Medienstelle A., die über verschiedene Medien wie den Messengerdienst Telegram oder die sozialen Netzwerke YouTube und Facebook Propaganda des IS einem deutschen Adressatenkreis zur Verfügung stellte. In diesem Rahmen rief er durch die Veröffentlichung von ihm bearbeiteter und kommentierter IS-Propagandavideos die Abonnenten seiner Kanäle auf, sich in das vom IS kontrollierte Gebiet in Syrien und im Irak zu begeben und sich dort in die Organisation des IS einzugliedern. Weiter forderte er zu Spendengeldzahlungen auf, um bei den Abonnenten seiner Kanäle die Bereitschaft zu wecken, die Tätigkeit und die Bestrebungen des IS direkt oder über eines ihrer Mitglieder zu fördern. Im Einzelnen kam es zu folgenden Tathandlungen:
aa) Am 16. März 2017 veröffentlichte der Angeklagte auf seinem Telegram-Kanal A., der zu diesem Zeitpunkt 245 Abonnenten hatte, die Anfangssequenz eines arabischsprachigen Propagandavideos der Medienstelle der Provinz Ninawa des IS, welches er zuvor durch einen Vorspann ergänzt und in dem er den arabischen Text durch eine deutsche Übersetzung und das IS-Kennzeichen durch das Logo seiner Medienstelle ersetzt hatte. Gleichwohl blieb das Video als Produktion des IS erkennbar. In dem „Maukib al Nur“ (Prozession des Lichts) bezeichneten Video ruft ein IS-Selbstmordattentäter mit den Worten „Bei Allah, ich fordere euch Brüder auf, Istischhadi-Operationen durchzuführen“ zur Begehung von Selbstmordanschlägen auf. Bei der Veröffentlichung kommentierte der Angeklagte das Video mit den Worten „auf direktem Weg nach Jannah, in sha Allah“ (auf direktem Weg ins Paradies, so Gott will), um dadurch die Adressaten ebenfalls zur Begehung von Selbstmordattentaten für den IS zu motivieren (Fall II.1. der Anklage).
bb) Am 12. Januar 2018 veröffentlichte der Angeklagte auf seinem Telegram-Kanal einen Spendenaufruf, der - wie der Angeklagte durch die Veröffentlichung einer jihadistischen Kampfhymne mit dem eingeblendeten Logo der offiziellen IS-Medienstelle Ajnad klarstellte - zu Gunsten des IS wirken sollte. In der Folge erhielt der Angeklagte postalisch Bargeldzahlungen; über den aktuellen Stand der Spenden, die sich am 23. Januar 2018 auf 3.770 € beliefen, unterrichtete der Angeklagte in regelmäßigen Abständen auf seinem Kanal (Fall II.2. der Anklage).
cc) Am 6. Februar 2018 veröffentlichte der Angeklagte auf dem genannten Telegram-Kanal, der zu diesem Zeitpunkt 262 Abonnenten hatte, ein weiteres Video, welches er aus einem längeren offiziellen IS-Propagandafilm zusammengestellt und das er sich wiederum durch Einfügen eines Vorspanns und des Logos seiner Medienstelle zu eigen gemacht hatte, das aber aufgrund der gezeigten Bilder - Ausschnitte aus einer Rede eines ehemaligen IS-Sprechers und Gefechten zwischen Kämpfern des IS und der PKK - als IS-Video erkennbar blieb. In dem Video wird mittelbar dazu aufgerufen, sich dem IS als Mitglied anzuschließen, etwa, indem ein Mann gezeigt wird, der unter Tränen darum bittet, dass ihm die Verantwortlichen des IS erlauben mögen, sich am Jihad gegen die „Ungläubigen“ zu beteiligen. Darüber hinaus enthält das Video gewaltverherrlichende Darstellungen von der Enthauptung vermeintlicher Spione und Verbündeter der PKK und der US-Armee durch vermummte IS-Kämpfer vor Publikum, die ihren Opfern unter anderem mit Messern die Kehle durchschneiden (Fall II.3. der Anklage).
dd) Am 21. März 2018 veröffentlichte der Angeklagte auf einem anderen seiner Telegram-Kanäle das Bild eines syrischen Soldaten, der später vom IS enthauptet wurde. Dieses kommentierte der Angeklagte mit den Worten „Einer der verhafteten Nusairiyah-Söldner in Wilayah Dimashq. Das Messer erreichte schon seinen Hals und der Kopf verließ den rest seines Körpers“ (Fall II.4. der Anklage).
ee) Wegen weiterer Einzelheiten verweist der Senat auf den Haftbefehl vom 18. Dezember 2018.
b) Der dringende Tatverdacht ergibt sich hinsichtlich der Tathandlungen zum Tatkomplex II aus einer Gesamtschau der im Haftbefehl des Oberlandesgerichts vom 18. Dezember 2018 genannten Beweismittel, insbesondere aus der Auswertung der bei dem Angeklagten sichergestellten Daten aus den bei ihm aufgefundenen Mobiltelefonen, den gesicherten Telegram-Kanälen und Erkenntnissen aus der Telefonüberwachung. Auf die ausführlichen Darstellungen in dem Haftbefehl und im wesentlichen Ergebnis der Anklageschrift des Generalbundesanwalts nimmt der Senat zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug.
c) In rechtlicher Hinsicht folgt daraus, dass sich der Angeklagte im Tatkomplex II mit hoher Wahrscheinlichkeit in zwei Fällen (Fälle II.1. und 3. der Anklage) wegen Werbens um Mitglieder für eine ausländische terroristische Vereinigung (§ 129a Abs. 1 Nr. 1, Abs. 5 Satz 2 Alternative 1, § 129b Abs. 1 Sätze 1 und 2, § 53 StGB) strafbar gemacht hat, in einem Fall (Fall II.3. der Anklage) in Tateinheit mit Gewaltdarstellung (§ 131 Abs. 1 Nr. 1, § 52 StGB), in einem weiteren Fall (Fall II.2. der Anklage) wegen Werbens um Unterstützer einer ausländischen terroristischen Vereinigung (§ 129a Abs. 1 Nr. 1, Abs. 5 Satz 2 Alternative 2, § 129b Abs. 1 Sätze 1 und 2 StGB) und im Fall II.4. der Anklage wegen Billigung von Straftaten (§ 140 Nr. 2 StGB).
aa) In den Fällen II.1. und 3. der Anklage ergibt sich aus dem Inhalt der Videobotschaften in Zusammenhang mit den Kommentaren des Angeklagten jeweils nach dem Verständnis des Adressatenkreises eine Gedankenäußerung des Inhalts, dass sich die Betrachter einer konkreten terroristischen Vereinigung - dem IS - als Mitglied anschließen und entweder für diesen Selbstmordanschläge begehen oder auf dessen Seite im Jihad gegen die „Ungläubigen“ kämpfen sollten (vgl. zu den Anforderungen des Werbens um Unterstützer für eine konkrete Vereinigung BGH, Beschluss vom 19. Juli 2012 - 3 StR 218/12, BGHR StGB § 129a Abs. 5 Werben 3).
bb) Im Fall II.2. der Anklage ist der Angeklagte dringend verdächtig, um Unterstützer für den IS geworben zu haben, indem er die Abonnenten seines Kanals zu Spenden für den IS aufforderte, die später auch tatsächlich bei ihm eingingen.
cc) Im Fall II.4. der Anklage billigte der Angeklagte jedenfalls einen Mord und damit eine der in § 126 Abs. 1 Nr. 2 StGB genannten Taten. Dies geschah auch in einer Weise, die geeignet war, den öffentlichen Frieden zu gefährden, weil die Verherrlichung dieser Auslandstat insbesondere mit Blick auf den Adressatenkreis der Nachrichten des Angeklagten in seinen Telegram-Kanälen auch in Deutschland die Bereitschaft zur Begehung ähnlicher Taten zu fördern in der Lage war (vgl. dazu BGH, Beschluss vom 20. Dezember 2016 - 3 StR 435/16, NStZ 2017, 699, 700 mwN).
dd) Die Anwendbarkeit deutschen Strafrechts ergibt sich aus § 3, § 9 Abs. 1 Variante 1 StGB, weil der Angeklagte in Deutschland handelte. Deshalb ist auch der gemäß § 129b Abs. 1 Satz 2 StGB erforderliche Deutschlandbezug gegeben.
ee) Die nach § 129b Abs. 1 Satz 2, 3 StGB erforderliche Ermächtigung zur Verfolgung von Straftaten im Zusammenhang mit der terroristischen Vereinigung „Islamischer Staat“ liegt in der Fassung vom 13. Oktober 2015 vor.
3. Bei dem Angeklagten besteht aus den Gründen der Haftfortdauerentscheidung des Senats vom 30. Oktober 2018 (AK 36/18, juris Rn. 42), von denen abzuweichen kein Anlass besteht, unverändert der Haftgrund der Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO).
4. Eine Außervollzugsetzung des Haftbefehls (§ 116 StPO) ist unter diesen Umständen nicht erfolgversprechend.
5. Die Untersuchungshaft hat mit Blick auf das Spannungsverhältnis zwischen dem Freiheitsanspruch des Angeklagten und dem Interesse der Allgemeinheit an einer effektiven Strafverfolgung bei Berücksichtigung und Abwägung der gegebenen Besonderheiten des vorliegenden Verfahrens - auch angesichts der nunmehr über ein Jahr währenden Untersuchungshaft und der zu erwartenden Gesamtdauer des Verfahrens - fortzudauern. Ihr weiterer Vollzug steht angesichts der gegebenen Besonderheiten auch nicht außer Verhältnis zu der Bedeutung der Sache und der angesichts des dargelegten Gewichts der mutmaßlich begangenen Straftaten zu erwartenden Strafe (§ 120 Abs. 1 Satz 1 StPO).
a) Dies gilt auch mit Blick auf das in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG gewährleistete Recht des Einzelnen auf persönliche Freiheit. Danach ist der Entzug der Freiheit eines der Straftat lediglich Verdächtigen wegen der Unschuldsvermutung nur ausnahmsweise zulässig. Den vom Standpunkt der Strafverfolgung aus erforderlich und zweckmäßig erscheinenden Freiheitsbeschränkungen muss - unter maßgeblicher Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit - der Freiheitsanspruch des noch nicht rechtskräftig verurteilten Beschuldigten als Korrektiv gegenübergestellt werden. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verlangt in diesem Zusammenhang auch, dass die Dauer der Untersuchungshaft nicht außer Verhältnis zu der zu erwartenden Strafe steht, und setzt ihr auch unabhängig von der Straferwartung Grenzen. Mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft vergrößert sich regelmäßig das Gewicht des Freiheitsanspruchs gegenüber dem Interesse an einer wirksamen Strafverfolgung. Daraus folgt, dass die Anforderungen an die Zügigkeit der Arbeit in einer Haftsache mit der Dauer der Untersuchungshaft steigen, aber auch die Anforderungen an den die Haftfortdauer rechtfertigenden Grund zunehmen (BGH, Beschluss vom 21. April 2016 - StB 5/16, NStZ-RR 2016, 217 f. mwN).
Das damit angesprochene Beschleunigungsgebot in Haftsachen verlangt, dass die Strafverfolgungsbehörden und Strafgerichte alle möglichen und zumutbaren Maßnahmen ergreifen, um die notwendigen Ermittlungen mit der gebotenen Schnelligkeit abzuschließen und eine gerichtliche Entscheidung über die einem Beschuldigten vorgeworfenen Taten herbeizuführen. Zur Durchführung eines geordneten Strafverfahrens und einer Sicherstellung der etwaigen späteren Strafvollstreckung kann die Untersuchungshaft deshalb nicht mehr als notwendig anerkannt werden, wenn ihre Fortdauer durch vermeidbare Verfahrensverzögerungen verursacht ist. Es ist eine auf den Einzelfall bezogene Prüfung des Verfahrensablaufs erforderlich. Zu würdigen sind auch die voraussichtliche Gesamtdauer des Verfahrens und die für den Fall einer Verurteilung konkret im Raum stehende Straferwartung (st. Rspr.; vgl. etwa BVerfG, Beschluss vom 17. Januar 2013 - 2 BvR 2098/12 mwN, juris Rn. 39 ff.; BGH, Beschluss vom 21. April 2016 - StB 5/16, NStZ-RR 2016, 217).
b) Gemessen an diesen Anforderungen ist das Verfahren zunächst - wie das Oberlandesgericht in seinem Nichtabhilfebeschluss vom 26. März 2019 im Einzelnen ausgeführt hat - bis zur Aussetzung der ersten Hauptverhandlung am 19. März 2019 mit der in Haftsachen gebotenen besonderen Beschleunigung geführt worden, was auch der Beschwerdeführer nicht in Abrede stellt.
c) Entgegen der Auffassung der Wahlverteidigerin des Angeklagten ergibt sich eine zur Unverhältnismäßigkeit der weiteren Untersuchungshaft führende Verletzung des Beschleunigungsgrundsatzes auch nicht aus dem Umstand, dass die erste Hauptverhandlung mit Beschluss vom 19. März 2019 ausgesetzt wurde. Im Einzelnen:
aa) Dem Angeklagten wurde durch Beschluss des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs vom 21. März 2018 Rechtsanwalt M. als Pflichtverteidiger beigeordnet. Die Wahlverteidigerin des Angeklagten bestellte sich erst mit Schriftsatz vom 9. August 2018. Nach Anklageerhebung unter dem 26. Oktober 2018 und Durchführung von Terminsabsprachen für den Fall der Eröffnung des Hauptverfahrens sowohl mit dem Pflichtverteidiger als auch der Wahlverteidigerin durch den Vorsitzenden des Strafsenats des Oberlandesgerichts wurde die Anklage mit Beschluss vom 20. Dezember 2018 zugelassen und das Hauptverfahren eröffnet; beide Verteidiger wurden zur Hauptverhandlung geladen. Mit Schriftsatz vom 7. Januar 2019 beantragte die Wahlverteidigerin, dem Angeklagten als weitere Pflichtverteidigerin beigeordnet zu werden. Diesen Antrag wies der Vorsitzende des Strafsenats des Oberlandesgerichts nach ablehnender Stellungnahme des Generalbundesanwalts mit Vorsitzendenbeschluss vom 15. Januar 2019 zurück; die Beschwerde dagegen verwarf der Senat mit Beschluss vom 7. Februar 2019 (StB 3/19, juris), die Verfassungsbeschwerde nahm das Bundesverfassungsgericht mit Beschluss vom 20. Februar 2019 nicht zur Entscheidung an und stellte die Erledigung des Antrags auf Erlass einer einstweiligen Anordnung fest (2 BvR 280/19, juris).
Ab dem 17. Januar 2019 wurde die Hauptverhandlung zunächst bis zum 26. Februar 2019 an fünf Verhandlungstagen geführt, an denen der Pflichtverteidiger stets, die Wahlverteidigerin hingegen an einem Termin nicht und an einem weiteren nur zeitweise teilnahm. Vor dem nächsten Hauptverhandlungstermin vom 12. März 2019 teilte die Kanzlei des Pflichtverteidigers mit, dass dieser erkrankt sei. Die Wahlverteidigerin, die zu dem Termin angereist und im Gerichtsgebäude anwesend war, erklärte sich nur für den Fall ihrer Beiordnung als weitere Pflichtverteidigerin bereit, an der Hauptverhandlung teilzunehmen, die der Vorsitzende des Oberlandesgerichts jedoch nicht vornahm. Eine durch den Vorsitzenden ausgesprochene Genehmigung der Vertretung des Pflichtverteidigers lehnte sie als rechtlich nicht zulässig ab. Als der Pflichtverteidiger auch - wie von seiner Kanzlei zuvor mit Schreiben vom 13. März 2019 mitgeteilt - am nächsten Hauptverhandlungstermin, dem 14. März 2019, krankheitsbedingt nicht teilnehmen konnte, weigerte sich die wiederum aus W. angereiste und im Gerichtsgebäude anwesende Wahlverteidigerin erneut, ohne vorherige Bestellung zur Pflichtverteidigerin an der Hauptverhandlung teilzunehmen, so dass auch an diesem Tag nicht zur Sache verhandelt werden konnte. Nachdem der Vorsitzende des Strafsenats des Oberlandesgerichts bereits am 12. März 2019 vorsorglich für den Fall, dass der Pflichtverteidiger die ganze Woche bis zum 15. März 2019 erkrankt sein werde, einen zusätzlichen Termin auf den 18. März 2019 anberaumt hatte - am 19. März 2019 waren beide Verteidiger gerichtsbekannt verhindert - teilte die Wahlverteidigerin mit, auch am 18. März 2019 verhindert zu sein. Der Pflichtverteidiger ließ durch seine Kanzlei am Morgen des 18. März 2019 unter Vorlage eines neuen Attests mitteilen, dass er infolge seiner fortdauernden Erkrankung auch weiterhin nicht an der Hauptverhandlung teilnehmen könne. Auch an diesem Tag fand deshalb eine Verhandlung zur Sache nicht statt. Da der letzte Termin, an dem die Hauptverhandlung durchgeführt worden war, somit am 26. Februar 2019 stattgefunden hatte, setzte das Oberlandesgericht mit Beschluss vom 19. März 2019 die Hauptverhandlung aus. Mehrere weitere Anträge, die Wahlverteidigerin dem Angeklagten als weitere Pflichtverteidigerin beizuordnen, etwa vom 12. und vom 13. März 2019, lehnte der Vorsitzende jeweils ab.
bb) Angesichts dieses Verfahrensablaufs ist eine der Justiz zuzurechnende Verfahrensverzögerung, die hier zur Annahme der Unverhältnismäßigkeit der weiteren Untersuchungshaft führen könnte, nicht ersichtlich. Ein Verstoß gegen das Beschleunigungsverbot ergibt sich aus der Aussetzung der Hauptverhandlung nicht. Hierzu gilt:
Bei der Prüfung der Fortdauer der Untersuchungshaft und deren Verhältnismäßigkeit ist die (Mit-)Ursächlichkeit von Verteidigungsverhalten für die Verfahrensdauer sowohl nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG, Beschluss vom 23. Januar 2008 - 2 BvR 2652/07, StV 2008, 198 f.) als auch nach derjenigen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR, Urteil vom 6. November 2014 - Application no. 67522/09 Ereren gegen Deutschland, NJW 2015, 3773, 3775) und des Senats (vgl. Beschlüsse vom 8. Oktober 2012 - StB 9/12, JR 2013, 419, 421; vom 4. Februar 2016 - StB 1/16, juris Rn. 25; vom 22. September 2016 - StB 29/16, NStZ-RR 2017, 18, 19) zu berücksichtigen.
Der Umstand, dass die Hauptverhandlung ausgesetzt werden musste, was zu einer Verfahrensverzögerung von gut zehn Wochen geführt hat, ist - wie sich aus dem geschilderten Verfahrensgeschehen ergibt - ganz wesentlich auch auf das Prozessverhalten der Wahlverteidigerin des Angeklagten zurückzuführen, die trotz Anreise zum und Anwesenheit am Verhandlungsort der Hauptverhandlung fernblieb und damit - wie sich ihr aufdrängen musste - auch die Aussetzung der Hauptverhandlung in Kauf nahm, um entgegen der ihr bekannten Rechtsauffassung des insoweit allein zur Entscheidung befugten Vorsitzenden des Strafsenats des Oberlandesgerichts ihre Beiordnung als Pflichtverteidigerin zu erzwingen. In diesem Zusammenhang ist weiter in den Blick zu nehmen, dass sowohl die Beschwerde zum Senat als auch die Verfassungsbeschwerde gegen die Entscheidung des Vorsitzenden des Strafsenats des Oberlandesgerichts Stuttgart erfolglos geblieben waren, wobei der Senat zur Sache ausgeführt hatte, dass der Vorsitzendenbeschluss nach vorläufiger Einschätzung Ermessensfehler nicht erkennen lasse (BGH, Beschluss vom 7. Februar 2019 - StB 3/19, juris Rn. 8). Im Verfassungsbeschwerdeverfahren hatte die Wahlverteidigerin solche Ermessensfehler zudem nicht zu substantiieren vermocht (BVerfG, Beschluss vom 20. Februar 2019 - 2 BvR 280/19, juris Rn. 9).
Da es nach der genannten Rechtsprechung in diesem Zusammenhang nicht maßgeblich darauf ankommt, ob es sich um sachdienliches Verteidigungsverhalten handelt oder dessen Grenzen überschritten sind, braucht der Senat nicht abschließend zu entscheiden, ob das Prozessverhalten der Wahlverteidigerin einerseits mit ihrer Stellung als Organ der Rechtspflege, andererseits aber auch mit ihrer aus dem Mandatsverhältnis resultierenden Beistandspflicht gegenüber dem Angeklagten zu vereinbaren ist. Dagegen könnte insbesondere sprechen, dass sie um der Durchsetzung ihrer Überzeugung von der Notwendigkeit eines zweiten Pflichtverteidigers willen eine Aussetzung der Hauptverhandlung in Kauf nahm, was im Ergebnis mit einiger Wahrscheinlichkeit zu einer längeren Dauer des Strafverfahrens und der den Angeklagten besonders belastenden Untersuchungshaft führen wird (vgl. zur Standeswidrigkeit des Erzwingens einer Unterbrechung der Hauptverhandlung durch den Verteidiger auch AnwGH Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 1. Juli 2005 - (2) 6 EVY 7/04, NJWRR 2006, 1491, 1492 f.).
cc) Auch nach dem erneuten Beginn der Hauptverhandlung ab dem 2. April 2019 ist das Verfahren mit der notwendigen Beschleunigung betrieben worden.
HRRS-Nummer: HRRS 2019 Nr. 683
Externe Fundstellen: NJW 2019, 2249; NStZ-RR 2019, 283
Bearbeiter: Christian Becker