HRRS-Nummer: HRRS 2019 Nr. 852
Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner
Zitiervorschlag: BGH, 2 ARs 80/19, Beschluss v. 04.06.2019, HRRS 2019 Nr. 852
Von einer Bestimmung des Gerichtsstands gemäß § 42 Abs. 3 Satz 2 JGG wird abgesehen.
Die Staatsanwaltschaft Koblenz hat mit an den Jugendrichter des Amtsgerichts Villingen-Schwenningen gerichteter Antragsschrift vom 14. November 2018 beantragt, über die öffentliche Klage gegen den Beschuldigten wegen Diebstahls in zwei Fällen im vereinfachten Jugendverfahren gemäß §§ 76 ff. JGG zu entscheiden oder andernfalls das Hauptverfahren zu eröffnen. Die sodann vom Amtsgericht Villingen-Schwenningen bestimmte Ladung zum Termin im vereinfachten Jugendverfahren konnte dem Beschuldigten an dessen bisher bekanntem Wohnsitz nicht zugestellt werden, da er bereits im Dezember 2018 nach E. verzogen war. Mit Beschluss vom 8. Februar 2019 hat das Amtsgericht Villingen-Schwenningen das Verfahren unter Hinweis auf den dauerhaften Wohnsitz des Jugendlichen im dortigen Gerichtsbezirk an das Amtsgericht Pirmasens abgegeben. Das Amtsgericht Pirmasens hat die Übernahme des Verfahrens abgelehnt, da eine Abgabe nach § 42 Abs. 3 JGG im vereinfachten Jugendverfahren nicht möglich sei.
Das Amtsgericht Villingen-Schwenningen hat mit Beschluss vom 26. Februar 2019 (BeckRS 2019, 3497) die Vorgänge dem Bundesgerichtshof zur Entscheidung nach § 42 Abs. 3 Satz 2 JGG vorgelegt. Es hält an einer Anwendbarkeit der Abgabemöglichkeit nach Wohnsitzwechsel auch im vereinfachten Jugendverfahren fest und geht von einem entsprechenden Zuständigkeitswechsel aus.
1. Der Bundesgerichtshof ist als gemeinschaftliches oberes Gericht der Amtsgerichte Villingen-Schwenningen (Oberlandesgerichtsbezirk Karlsruhe) und Pirmasens (Oberlandesgerichtsbezirk Zweibrücken) zur Entscheidung des zwischen den Jugendgerichten bestehenden Streits gemäß § 42 Abs. 3 Satz 2 JGG berufen.
2. Eine Zuständigkeitsbestimmung ist nicht veranlasst. Im vereinfachten Jugendverfahren nach § 76 Abs. 1 JGG ist eine Änderung der örtlichen Zuständigkeit durch Abgabe nach § 42 Abs. 3 JGG unzulässig. Die Vorschrift ist in diesem Sonderverfahren nicht anwendbar (vgl. Senatsbeschlüsse vom 14. November 1958 - 2 ARs 182/58, BGHSt 12, 180, 182; vom 31. Januar 1961 - 2 ARs 1/61, BGHSt 15, 314, 316; Eisenberg, JGG, 20. Aufl., § 42 Rn. 20; Brunner/Dölling, JGG, 13. Aufl., § 42 Rn. 13; BeckOK-JGG/Wellershoff, 13. Ed., § 42 Rn. 27; BeckOK-JGG/Gertler, 13. Ed., § 77 Rn. 8; MüKo-StPO/Höffler, § 42 Rn. 11; MüKo-StPO/Kaspar, § 77 JGG Rn. 4; Schatz in Diemer/ Schatz/Sonnen, JGG, 7. Aufl., § 42 Rn. 24; a. A. NKJGG/Schady, 10. Aufl., § 42 Rn. 12 mwN).
Der Senat sieht keine Veranlassung, von seiner Rechtsprechung und der herrschenden Rechtsauffassung in der Literatur abzuweichen.
Der Generalbundesanwalt hat hierzu in seiner Antragsschrift ausgeführt:
„Die überwiegend auf Zweckmäßigkeitserwägungen gestützten Ausführungen für eine Anwendbarkeit des § 42 Abs. 3 Satz 1 JGG auch im vereinfachten Jugendverfahren lassen […] besorgen, dass dem Amtsgericht außer Blick geraten sein könnte, dass es, wenn der Jugendrichter es - wie hier - für geboten hält, das Verfahren wegen eines Aufenthaltswechsels des Jugendlichen an den für den neuen Wohnsitz zuständigen Jugendrichter abzugeben, tatsächlich die gesetzlichen Voraussetzungen für das Sonderverfahren nach §§ 76 ff. JGG verneint, soweit die Durchführung vor dem von der Staatsanwaltschaft angerufenen Gericht in Betracht kommt (vgl. Senatsbeschluss vom 14. November 1958 - 2 ARs 182/58 - BGHSt 12, 180). In einem solchen Fall hat der Jugendrichter daher, da seiner Ansicht nach die Voraussetzungen hierfür bei dem angerufenen Gericht fehlen, die Entscheidung im vereinfachten Verfahren abzulehnen.
Die im Vorlagebeschluss dargelegte Rechtsauffassung verkennt zudem das grundsätzliche Erfordernis einer die gerichtliche Untersuchung eröffnenden Entscheidung, bevor eine Zuständigkeitsübertragung in Betracht kommt (st. Rspr., vgl. nur Senatsbeschlüsse vom 18. Dezember 2013 - 2 ARs 432/13 - BeckRS 2014, 1645; vom 16. Juli 1997 - 2 ARs 250/97 - NStZ-RR 1997, 380; Eisenberg, JGG, 20. Aufl., § 42 Rn. 19 m. w. N.). Auf die in diesem Zusammenhang vom Jugendrichter angestellten Überlegungen zum Wortlaut der Vorschrift kommt es nicht an. Vielmehr ergibt sich die Notwendigkeit der Verfahrenseröffnung durch das ursprünglich angegangene Gericht vor Übertragung der örtlichen Zuständigkeit auf ein anderes Gericht aus dem Umstand, dass bis zu diesem Zeitpunkt die Staatsanwaltschaft ihre erhobene Anklage zurücknehmen und andernorts anhängig machen kann. In dieses Recht darf nicht durch gerichtliche Beschlüsse nach § 42 Abs. 3 JGG (oder § 12 Abs. 2 StPO) eingegriffen werden (vgl. Senatsbeschluss vom 11. Oktober 1957 - 2 ARs 167/57 - BGHSt 10, 391). Eine solche endgültige Bindung der Staatsanwaltschaft, wie sie der Eröffnungsbeschluss bewirkt, ist aber im vereinfachten Jugendverfahren gerade nicht vorgesehen (vgl. Senatsbeschlüsse vom 14. November 1958 - 2 ARs 182/58 - BGHSt 12, 180; vom 31. Januar 1961 - 2 ARs 1/61 - BGHSt 15, 314 […]).
Der Hinweis des Amtsgerichts Villingen-Schwenningen in seinem Vorlagebeschluss vom 26. Februar 2019 auf die hier gleichzeitig mit der Antragstellung nach § 76 JGG beantragte Eröffnung des Hauptverfahrens, sollte nicht im vereinfachten Jugendverfahren entschieden werden, führt zu keiner anderen Bewertung. Entgegen der Annahme des vorlegenden Gerichts begründet diese Fallgestaltung - auch wenn es nach einem Ablehnungsbeschluss keiner nochmals gesondert einzureichenden Anklage bedürfte (§ 77 Abs. 2 JGG) - gerade keine der Eröffnungsentscheidung ‚vergleichbare Bindung‘. Vielmehr entspräche der Verfahrensstand nach Ablehnung einer Entscheidung im vereinfachten Jugendverfahren dann demjenigen nach einer bereits erhobenen Anklage, mit der die Staatsanwaltschaft regelmäßig die Eröffnung des Hauptverfahrens beantragt. Auch in diesem Zwischenverfahren, das der Vorbereitung der Eröffnungsentscheidung dient, besteht die Dispositionsbefugnis der Staatsanwaltschaft fort.“
Dem tritt der Senat bei.
HRRS-Nummer: HRRS 2019 Nr. 852
Externe Fundstellen: NStZ 2019, 679; NStZ 2020, 305; StV 2020, 684
Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner