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HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 817

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 543/19, Beschluss v. 06.05.2020, HRRS 2020 Nr. 817


BGH 2 StR 543/19 - Beschluss vom 6. Mai 2020 (LG Erfurt)

Begriffsbestimmungen (erhebliche sexuelle Handlungen); sexuelle Belästigung (Erfordernis der Betroffenheit der sexuellen Selbstbestimmung des Opfers).

176 Abs. 1 StGB; § 184h Nr. 1 StGB; § 184i StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Als erheblich im Sinne von § 184h Nr. 1 StGB sind solche sexualbezogenen Handlungen zu werten, die nach Art, Intensität und Dauer eine sozial nicht mehr hinnehmbare Beeinträchtigung des im jeweiligen Tatbestand geschützten Rechtsguts besorgen lassen. Zur Feststellung der Erheblichkeit bedarf es einer Gesamtbetrachtung aller Umstände im Hinblick auf die Gefährlichkeit der Handlung für das jeweils betroffene Rechtsgut; unter diesem Gesichtspunkt belanglose Handlungen scheiden aus. Bei Tatbeständen, die - wie § 176 Abs. 1 StGB - dem Schutz von Kindern dienen, sind an das Merkmal der Erheblichkeit geringere Anforderungen zu stellen als bei Delikten gegen die sexuelle Selbstbestimmung Erwachsener. Allerdings reichen auch hier kurze, flüchtige oder aus anderen Gründen unbedeutende Berührungen, insbesondere auch der bekleideten Brust, dafür grundsätzlich nicht aus.

2. Wegen sexueller Belästigung wird nach § 184i StGB bestraft, wer eine andere Person in sexuell bestimmter Weise körperlich berührt und dadurch belästigt. Eine Belästigung setzt voraus, dass die Handlung das Opfer in seinem Empfinden nicht unerheblich beeinträchtigt. Dabei reicht nicht jede Form von subjektiv empfundener Beeinträchtigung als tatbestandsrelevante Belästigung aus. Insofern muss es sich angesichts des Schutzguts der im 13. Abschnitt verorteten Strafnorm und ihrer amtlichen Überschrift vielmehr gerade um eine „sexuelle Belästigung“ handeln, bei welcher die sexuelle Selbstbestimmung des Opfers tangiert ist.

3. Es versteht sich insbesondere bei Berührungen des Arms, aber auch des Oberschenkels nicht von selbst, dass diese als erheblicher Eingriff in die sexuelle Selbstbestimmung empfunden werden.

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Erfurt vom 2. April 2019 in den Fällen II. 4, II. 11 bis II. 17 der Urteilsgründe sowie in den Aussprüchen über die Gesamtstrafen mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Jugendschutzkammer zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

2. Die weitergehende Revision wird verworfen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in fünf Fällen, Diebstahls in sechs Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit Hausfriedensbruch, versuchten Diebstahls, Sachbeschädigung sowie Erschleichens von Leistungen in zwei Fällen unter Auflösung einer in einem Strafbefehl gebildeten Gesamtgeldstrafe und unter Einbeziehung der dortigen Einzelstrafen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt. Es hat ihn außerdem wegen sexueller Belästigung in zwei Fällen schuldig gesprochen und eine weitere Gesamtfreiheitsstrafe von vier Monaten verhängt. Die auf die Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten hat in dem aus der Beschlussformel ersichtlichen Umfang Erfolg; im Übrigen ist sie offensichtlich unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).

1. Die Überprüfung des Schuldspruches wegen Diebstahls in sechs Fällen (davon in einem Fall in Tateinheit mit Hausfriedensbruch), Sachbeschädigung und Erschleichens von Leistungen in zwei Fällen lässt Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten nicht erkennen. Hingegen begegnet die Verurteilung wegen versuchten Diebstahls, sexuellen Missbrauchs von Kindern in fünf Fällen sowie wegen sexueller Belästigung in zwei Fällen durchgreifenden rechtlichen Bedenken.

a) Der Schuldspruch wegen versuchten Diebstahls im Fall II. 4 der Urteilsgründe hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand.

aa) Nach den Feststellungen des Landgerichts versuchte der Angeklagte, am 28. März 2018 in den Geschäftsräumen der Firma K. 2 Big Packs Zigaretten mitzunehmen, ohne zu bezahlen. Der Hausdetektiv beobachtete das Tatgeschehen, woraufhin der Angeklagte, als er dies bemerkt hatte, flüchtete und die Zigaretten zurückließ.

bb) Die Urteilsgründe weisen einen durchgreifenden Erörterungsmangel auf, weil sich aus ihnen nicht hinreichend ergibt, ob der Angeklagte von einem versuchten Diebstahl strafbefreiend zurückgetreten ist. Das Urteil verhält sich nicht zur Vorstellung des Angeklagten nach dem Ende seiner letzten Ausführungshandlung (sog. Rücktrittshorizont; vgl. BGHSt 39, 221, 227), insbesondere dazu, ob er davon ausging, er könne mit den Zigaretten die Ladenräume noch verlassen, sowie zu den Gründen, die ihn bewogen haben, die Zigaretten zurückzulassen. Daher bleibt offen, ob der Diebstahlsversuch fehlgeschlagen oder unbeendet war und ob die Aufgabe der weiteren Tatausführung freiwillig, d.h. auf einer autonomen Willensentschließung des Angeklagten, beruhte. Dies durfte indes nicht dahinstehen, da im Fall eines unbeendeten Versuchs der Angeklagte gemäß § 24 Abs. 1 Satz 1 Variante 1 StGB bereits durch freiwilliges Abstandnehmen von weiteren Ausführungshandlungen vom Diebstahlsversuch strafbefreiend zurückgetreten wäre.

cc) Die Sache bedarf insoweit neuer Verhandlung und Entscheidung. Dabei wird der neue Tatrichter Gelegenheit haben, sich auch näher mit der Frage zu beschäftigen, ob der Diebstahl nur versucht oder nicht womöglich bereits vollendet war. Anhand der bisherigen Feststellungen, die konkrete Details zur Tathandlung des Angeklagten vermissen lassen, lässt sich dies nicht beurteilen.

b) Die Schuldsprüche wegen sexuellen Missbrauchs in fünf Fällen (Fälle II. 11 bis 15 der Urteilsgründe) werden von den Feststellungen nicht getragen.

aa) Nach den Feststellungen des Landgerichts kam es am 31. Mai und 1. Juni 2018 zu fünf Übergriffen des Angeklagten gegenüber ihm unbekannten jungen Mädchen zwischen zehn und dreizehn Jahren im Bus bzw. in der Straßenbahn in E. Dabei fasste der Angeklagte jeweils an die bedeckte Brust der Mädchen, zum Teil streichelte er sie „mehrfach“ oder „einige Zeit“.

bb) Diese Feststellungen tragen eine Verurteilung des Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern gemäß § 176 Abs. 1 StGB nicht. Denn das bloße Berühren des Geschlechtsteils über der Kleidung ist nicht ohne Weiteres als sexuelle Handlung im Sinne des § 184h Nr. 1 StGB anzusehen.

Als erheblich im Sinne von § 184h Nr. 1 StGB sind solche sexualbezogenen Handlungen zu werten, die nach Art, Intensität und Dauer eine sozial nicht mehr hinnehmbare Beeinträchtigung des im jeweiligen Tatbestand geschützten Rechtsguts besorgen lassen (st. Rspr.; vgl. etwa Senat, Beschluss vom 29. Januar 2019 - 2 StR 490/18, StV 2019, 550; BGH, Beschluss 16. Mai 2017 - 3 StR 12/17, NStZ 2017, 527). Zur Feststellung der Erheblichkeit bedarf es einer Gesamtbetrachtung aller Umstände im Hinblick auf die Gefährlichkeit der Handlung für das jeweils betroffene Rechtsgut; unter diesem Gesichtspunkt belanglose Handlungen scheiden aus (vgl. Senat, Urteil vom 21. September 2016 - 2 StR 558/15, NStZ-RR 2017, 43, 44). Bei Tatbeständen, die - wie § 176 Abs. 1 StGB - dem Schutz von Kindern dienen, sind an das Merkmal der Erheblichkeit geringere Anforderungen zu stellen als bei Delikten gegen die sexuelle Selbstbestimmung Erwachsener. Allerdings reichen auch hier kurze, flüchtige oder aus anderen Gründen unbedeutende Berührungen, insbesondere auch der bekleideten Brust, dafür grundsätzlich nicht aus (vgl. Senat, Urteil vom 21. September 2016 - 2 StR 558/15, NStZ-RR 2017, 43, 44; Beschluss vom 29. Januar 2019 - 2 StR 490/18, StV 2019, 550).

Das Landgericht hat seiner rechtlichen Würdigung ohne nähere Erläuterung in allen Fällen die Annahme zugrunde gelegt, es handele sich bei dem „Anfassen der bedeckten Brust der betroffenen Mädchen in der Straßenbahn bzw. dem Bus“ um sexuelle Handlungen im Sinne von § 184h Nr. 1 StGB. Dies lässt besorgen, dass das Landgericht entgegen der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ohne Weiteres jegliche Berührung der Brust eines Mädchens über der Kleidung als eine § 184h Nr. 1 StGB entsprechende Handlung angesehen hat. Erforderlich ist demgegenüber in jedem Einzelfall eine Gesamtbetrachtung aller für das gefährdete Rechtsgut wesentlichen Umstände, die insbesondere Art, Dauer und Intensität der Berührungen, aber auch die Kleidung der Mädchen und die besondere Tatsituation in den Blick zu nehmen hat. Eine solche Gesamtwürdigung war hier auch nicht etwa entbehrlich; die Annahme sexueller Handlungen im Sinne von § 184h Nr. 1 StGB versteht sich bei „niederschwelligen“ Taten wie hier (vgl. UA S. 13) nicht von selbst.

c) Auch der Schuldspruch wegen sexueller Belästigung in zwei Fällen (Fall II.16 und 17 der Urteilsgründe) wird von den Feststellungen nicht getragen.

aa) Am 12. Oktober 2018 streichelte der Angeklagte hintereinander zwei (acht- bzw. 11-jährige) Mädchen am Oberschenkel, um sich hierdurch sexuell zu erregen. Die Verletzten stellten Strafanträge (UA S. 10); zudem hat die Staatsanwaltschaft wegen des besonderen öffentlichen Interesses ein Einschreiten von Amts wegen für geboten erachtet (Fall II. 16 der Urteilsgründe).

Drei Tage später streichelte der Angeklagte ein knapp neunjähriges Mädchen in der Straßenbahn in sexueller Absicht intensiv am Arm. Die Staatsanwaltschaft hat auch hier erklärt, wegen des besonderen öffentlichen Interesses an der Strafverfolgung ein Einschreiten von Amts wegen für geboten zu halten (Fall II. 17 der Urteilsgründe).

bb) Diese knappen Feststellungen rechtfertigen eine Verurteilung wegen sexueller Belästigung nicht.

Wegen sexueller Belästigung wird nach § 184i StGB bestraft, wer eine andere Person in sexuell bestimmter Weise körperlich berührt und dadurch belästigt. Eine Belästigung setzt voraus, dass die Handlung das Opfer in seinem Empfinden nicht unerheblich beeinträchtigt. Dabei reicht nicht jede Form von subjektiv empfundener Beeinträchtigung als tatbestandsrelevante Belästigung aus. Insofern muss es sich angesichts des Schutzguts der im 13. Abschnitt verorteten Strafnorm und ihrer amtlichen Überschrift vielmehr gerade um eine „sexuelle Belästigung“ handeln, bei welcher die sexuelle Selbstbestimmung des Opfers tangiert ist (BGH, Beschluss vom 13. März 2018 - 4 StR 570/17, NStZ 2019, 22, 24).

Gemessen daran ergibt sich aus dem festgestellten Sachverhalt nicht, dass sich das Mädchen durch das „Streicheln am Oberschenkel“ bzw. das „intensive Streicheln“ eines Arms in ihrer sexuellen Selbstbestimmung nicht unerheblich beeinträchtigt und damit sexuell belästigt gefühlt haben. Dass dies aus Sicht des Angeklagten „in sexuell bestimmter Weise“ (vgl. UA S. 14) erfolgt ist, ändert nichts daran, dass Feststellungen zum subjektiven Empfinden der Kinder getroffen werden müssen, die aber fehlen. Es versteht sich insbesondere bei Berührungen des Arms, aber auch des Oberschenkels nicht von selbst, dass diese als erheblicher Eingriff in die sexuelle Selbstbestimmung empfunden werden. Zudem erscheint es fraglich, ob Streicheln am Arm - sofern man dies zusätzlich für erforderlich hält (vgl. BGH, Beschluss vom 13. März 2018 - 4 StR 570/17, NStZ 2019, 22, 24) - bei wertender Betrachtung objektiv geeignet ist, sexuell belästigend zu wirken.

Etwas Anderes ergibt sich auch nicht daraus, dass im Fall II. 16 der Urteilsgründe Strafantrag gestellt worden ist. Dies ist gemäß § 77 Abs. 3 StGB durch den gesetzlichen Vertreter erfolgt und lässt entgegen der Ansicht des Generalbundesanwalts keinen tragfähigen Rückschluss darauf zu, das gestreichelte Kind selbst habe sich durch die Berührungen des Angeklagten im Sinne des § 184i Abs. 1 StGB belästigt gefühlt.

2. Die Aufhebung des Urteils in den Fällen II. 4, II. 11 bis II. 17 der Urteilsgründe zieht die Aufhebung beider Gesamtstrafenaussprüche nach sich.

HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 817

Externe Fundstellen: StV 2021, 307

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner