hrr-strafrecht.de - Rechtsprechungsübersicht


HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 29

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 217/19, Urteil v. 13.11.2019, HRRS 2020 Nr. 29


BGH 2 StR 217/19 - Urteil vom 13. November 2019 (LG Kassel)

Form und Voraussetzungen der Jugendstrafe (Erziehungsbedarf: Maßgeblicher Zeitpunkt, Entbehrlichkeit für die Verhängung einer Jugendstrafe, Gewichtigkeit bei Straftäter, der im Zeitpunkt seiner Verurteilung das 21. Lebensjahr bereits vollendet hat; jugendspezifische Bestimmung des Schuldgehalts); Dauer der Jugendstrafe (Anwendbarkeit der „Vollstreckungslösung“).

§ 17 Abs. 2 JGG; 18 JGG

Leitsätze des Bearbeiters

1. Der Verhängung einer Jugendstrafe steht nicht entgegen, dass bei dem Angeklagten ein Erziehungsbedarf nicht mehr festgestellt werden kann. Auf die Möglichkeit der Bestrafung schwerer Straftaten durch Verhängung einer Jugendstrafe kann auch in Fällen nicht verzichtet werden, in denen ein Jugendlicher oder Heranwachsender nicht erziehungsbedürftig oder erziehungsfähig ist.

2. Bei der Jugendstrafe bildet das Ausmaß der individuellen Schuld wegen des hier ebenfalls geltenden verfassungsrechtlichen Schuldgrundsatzes den Rahmen, innerhalb dessen die erzieherisch erforderliche Strafe gefunden werden muss. Das Mindestmaß der Jugendstrafe muss schuldangemessen sein, ihr Höchstmaß darf auch bei Berücksichtigung des Erziehungszwecks nicht über das Maß der Tatschuld des Jugendlichen bzw. Heranwachsenden hinausgehen.

3. Ob dem Erziehungsgedanken bei einem zur Tatzeit jugendlichen oder heranwachsenden Straftäter, der im Zeitpunkt seiner Verurteilung das 21. Lebensjahr bereits vollendet hat, allenfalls geringes Gewicht zukommt, wie die Strafkammer meint, ob ihm ein mit dem Fortschreiten des Lebensalters lediglich abnehmendes Gewicht beizumessen ist oder ob er insgesamt kein taugliches Strafzumessungskriterium sein kann (was der 3. Strafsenat erwogen, aber auch nicht tragend entschieden hat), bedarf keiner Entscheidung. Denn das Landgericht hat in einer Gesamtwürdigung und ausgehend von den rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen zum Werdegang des zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung 22-jährigen Angeklagten angenommen, dass bei diesem ein Erziehungsbedarf nicht mehr bestehe.

4. Maßgeblich für die Frage, ob ein Erziehungsbedarf besteht, sind allein die jeweiligen Verhältnisse zum Zeitpunkt des Urteils des erkennenden Gerichts.

5. Der Schuldgehalt der Tat bei der Deliktsbegehung durch jugendliche und heranwachsende Täter ist jugendspezifisch zu bestimmen. Die „Schwere der Schuld“ im Sinne des § 17 Abs. 2 JGG wird daher nicht vorrangig anhand des äußeren Unrechtsgehalts der Tat und ihrer Einordnung nach dem allgemeinen Strafrecht bestimmt, sondern es ist in erster Linie auf die innere Tatseite abzustellen. Der äußere Unrechtsgehalt der Tat und das Tatbild sind jedoch insofern von Belang, als hieraus Schlüsse auf die charakterliche Haltung, die Persönlichkeit und die Tatmotivation des Jugendlichen oder Heranwachsenden gezogen werden können; entscheidend ist, ob und in welchem Umfang sich die charakterliche Haltung, die Persönlichkeit sowie die Tatmotivation des Täters vorwerfbar in der Tat manifestiert haben. Dies gilt in gleicher Weise bei einem jugendlichen Täter, der zum Zeitpunkt seiner Verurteilung bereits junger Erwachsener ist und bei dem ein Erziehungsbedarf nicht mehr festgestellt werden kann. Letzteres hat zwar Einfluss auf die Frage, wie auf die festgestellte Gesetzesverletzung nunmehr zu reagieren ist, wirkt sich aber nicht auf die Prüfung aus, welches Unrecht der damalige Jugendliche mit der von ihm begangenen Tat verwirklicht und welche Schuld er damals auf sich geladen hat.

6. Auch im Jugendstrafrecht kann der Ausgleich für eine überlange Verfahrensdauer jedenfalls bei einer auf die Schwere der Schuld gestützten Verhängung von Jugendstrafe in Anwendung der von der Rechtsprechung entwickelten „Vollstreckungslösung“ vorgenommen werden.

Entscheidungstenor

Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Kassel vom 6. Februar 2019 wird als unbegründet verworfen.

Es wird davon abgesehen, dem Angeklagten die Kosten und Auslagen des Revisionsverfahrens aufzuerlegen, er hat jedoch die dadurch den Nebenklägern entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Totschlags zu einer Jugendstrafe von vier Jahren verurteilt und ausgesprochen, dass sechs Monate hiervon wegen überlanger Verfahrensdauer als vollstreckt gelten. Die hiergegen gerichtete Revision des Angeklagten, die er auf die Sachrüge stützt, hat keinen Erfolg.

I.

Nach den Feststellungen des Landgerichts war der am 1. Januar 1997 in Eritrea geborene Angeklagte zusammen mit dem damals 36-jährigen Ze., dem Tatopfer, in einem Zimmer einer Asylbewerberunterkunft in K. untergebracht. Zwischen den beiden kam es am Abend des 26. Dezember 2013 zum Streit. Zunächst schubste Ze. den Angeklagten auf dessen Bett, setzte sich auf ihn und beschimpfte ihn. Um sich zur Wehr zur setzen, stieß ihn der Angeklagte weg. Ze. prallte so heftig mit dem Gesicht auf einen Heizkörper, dass er eine Nasenbeinfraktur und blutende Wunden an Nase und Mund erlitt. Der Angeklagte sprang nun auf den am Boden liegenden Geschädigten und schlug bei der nicht näher feststellbaren weiteren Auseinandersetzung mit Fäusten auf ihn ein. Schließlich würgte der Angeklagte sein dann auf dem Rücken liegendes Tatopfer für die Dauer von ein bis zwei Minuten mit einer zumindest zeitweise so großen Intensität, dass dessen Kehlkopfseitenhorn abbrach und er aufgrund der kompressionsbedingten Unterversorgung des Gehirns mit Sauerstoff das Bewusstsein verlor und schließlich verstarb, was der Angeklagte bei Tatbegehung billigend in Kauf nahm.

II.

Die Revision des Angeklagten ist unbegründet.

1. Die auf die Sachrüge gebotene umfassende Nachprüfung des angefochtenen Urteils hat zum Schuldspruch aus den vom Generalbundesanwalt dargelegten Gründen keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben. Soweit die Revision gegen die Annahme eines bedingten Tötungsvorsatzes vorbringt, der zur Tatzeit erst 16-jährige Angeklagte hätte bereits einen Menschen ge- oder erwürgt haben müssen, um zu wissen, mit welcher Intensität ein Würgevorgang tödlich sein kann, geht sie schon im Ansatz fehl. Der Tötungsvorsatz setzt keine Kenntnisse von Einzelheiten der todesursächlichen physischen Prozesse oder medizinisches Fachwissen voraus; selbst bei einem jugendlichen Laien kann das Wissen unterstellt werden, dass kraftvolles Würgen über einen längeren Zeitraum einen Menschen töten kann.

2. Auch der Strafausspruch hält rechtlicher Nachprüfung stand.

a) Rechtsfehlerfrei hat die Strafkammer die Jugendstrafe zur Ahndung des vom Angeklagten begangenen Tötungsdelikts auf die Schwere der Schuld gestützt.

Der Verhängung einer Jugendstrafe steht nicht entgegen, dass bei dem Angeklagten ein Erziehungsbedarf nicht mehr festgestellt werden kann (vgl. BGH, Beschluss vom 6. Mai 2013 ? 1 StR 178/13, BGHR JGG § 17 Abs. 2 Schwere der Schuld 5; Urteil vom 29. August 2018 ? 5 StR 214/18, NStZ-RR 2018, 358). Auf die Möglichkeit der Bestrafung schwerer Straftaten durch Verhängung einer Jugendstrafe kann auch in Fällen nicht verzichtet werden, in denen ein Jugendlicher oder Heranwachsender nicht erziehungsbedürftig oder erziehungsfähig ist (vgl. BTDrucks. 1/3264, S. 40 f.; Senat, Urteil vom 18. Juli 2018 ? 2 StR 150/18, NStZ 2018, 728, 729).

b) Die Bemessung der Jugendstrafe ist ebenfalls aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden.

aa) Bei der Jugendstrafe bildet das Ausmaß der individuellen Schuld wegen des hier ebenfalls geltenden verfassungsrechtlichen Schuldgrundsatzes den Rahmen, innerhalb dessen die erzieherisch erforderliche Strafe gefunden werden muss (BGH, Beschluss vom 9. Januar 2018 ? 1 StR 551/17, NStZ 2019, 218, 219 mwN). Das Mindestmaß der Jugendstrafe muss schuldangemessen sein, ihr Höchstmaß darf auch bei Berücksichtigung des Erziehungszwecks nicht über das Maß der Tatschuld des Jugendlichen bzw. Heranwachsenden hinausgehen (BVerfG, Beschluss vom 9. Dezember 2004 ? 2 BvR 930/04, NStZ 2005, 642; MüKo-StGB/Radtke, 3. Aufl., JGG § 17 Rn. 14 mwN).

bb) Ob dem Erziehungsgedanken bei einem zur Tatzeit jugendlichen oder heranwachsenden Straftäter, der im Zeitpunkt seiner Verurteilung das 21. Lebensjahr bereits vollendet hat, allenfalls geringes Gewicht zukommt, wie die Strafkammer meint (vgl. auch BGH, Beschlüsse vom 5. April 2017 ? 1 StR 76/17, NStZ-RR 2017, 231; vom 8. März 2016 ? 3 StR 417/15, NStZ 2016, 680, 681; vom 20. August 2015 ? 3 StR 214/15, NStZ 2016, 101, 102), ob ihm ein mit dem Fortschreiten des Lebensalters lediglich abnehmendes Gewicht beizumessen ist (vgl. Senat, Urteil vom 29. November 2017 ? 2 StR 460/16 Rn. 17; Beschluss vom 26. Oktober 2016 ? 2 StR 214/16 Rn. 5; BGH, Beschluss vom 17. März 2006 ? 1 StR 577/05, NStZ 2006, 587, 588; Urteil vom 31. August 2004 ? 1 StR 213/04, juris Rn. 12 mwN) oder ob er insgesamt kein taugliches Strafzumessungskriterium sein kann (was der 3. Strafsenat in BGH, Beschluss vom 20. August 2015 ? 3 StR 214/15, NStZ 2016, 101, 102 [knapp 24-jähriger Angeklagter] und Beschluss vom 8. März 2016 ? 3 StR 417/15, NStZ 2016, 680, 681 [24- und 26-jährige Angeklagte] erwogen, aber auch in BGH, Beschluss vom 20. März 2019 ? 3 StR 452/18, juris Rn. 7 nicht tragend entschieden hat; vgl. auch MüKo-StGB/Radtke, 3. Aufl., JGG § 18 Rn. 36), bedarf keiner Entscheidung. Denn das Landgericht hat in einer Gesamtwürdigung und ausgehend von den rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen zum Werdegang des zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung 22-jährigen Angeklagten angenommen, dass bei diesem ein Erziehungsbedarf nicht mehr bestehe. Hiergegen ist revisionsrechtlich nichts zu erinnern. Maßgeblich für die Frage, ob ein Erziehungsbedarf besteht, sind allein die jeweiligen Verhältnisse zum Zeitpunkt des Urteils des erkennenden Gerichts (MüKo-StGB/Radtke, 3. Aufl., JGG § 18 Rn. 37; BeckOK-JGG/Brögeler, 15. Ed., § 18 Rn. 13; vgl. auch Senat, Beschluss vom 4. Dezember 2012 ? 2 StR 376/12, StV 2013, 758).

cc) Der Schuldgehalt der Tat bei der Deliktsbegehung durch jugendliche und heranwachsende Täter ist jugendspezifisch zu bestimmen (Senat, Urteil vom 20. April 2016 ? 2 StR 320/15, BGHSt 61, 188, 191). Die „Schwere der Schuld“ im Sinne des § 17 Abs. 2 JGG wird daher nicht vorrangig anhand des äußeren Unrechtsgehalts der Tat und ihrer Einordnung nach dem allgemeinen Strafrecht bestimmt, sondern es ist in erster Linie auf die innere Tatseite abzustellen (Senat, Urteil vom 19. Februar 2014 ? 2 StR 413/13, NStZ 2014, 407, 408). Der äußere Unrechtsgehalt der Tat und das Tatbild sind jedoch insofern von Belang, als hieraus Schlüsse auf die charakterliche Haltung, die Persönlichkeit und die Tatmotivation des Jugendlichen oder Heranwachsenden gezogen werden können; entscheidend ist, ob und in welchem Umfang sich die charakterliche Haltung, die Persönlichkeit sowie die Tatmotivation des Täters vorwerfbar in der Tat manifestiert haben (BGH, Urteil vom 9. Januar 2018 ? 1 StR 239/17, NStZ 2018, 659, 660). Dies gilt in gleicher Weise bei einem jugendlichen Täter, der zum Zeitpunkt seiner Verurteilung bereits junger Erwachsener ist und bei dem ein Erziehungsbedarf nicht mehr festgestellt werden kann. Letzteres hat zwar Einfluss auf die Frage, wie auf die festgestellte Gesetzesverletzung nunmehr zu reagieren ist, wirkt sich aber nicht auf die Prüfung aus, welches Unrecht der damalige Jugendliche mit der von ihm begangenen Tat verwirklicht und welche Schuld er damals auf sich geladen hat.

dd) Den sich hieraus ergebenden Anforderungen an die Bemessung der Jugendstrafe wird das angefochtene Urteil gerecht. Der Senat entnimmt den Urteilsgründen, wonach gegen den Angeklagten allein die erhebliche Schwere der begangenen Tat, im Übrigen alles für den Angeklagten spreche, dass die Strafkammer eine niedrigere als die gefundene Jugendstrafe für nicht mehr schuldangemessen erachtet, so dass sich ? dann folgerichtig ? allein die (verneinte) Frage stellen konnte, ob „unter einem erzieherischen Gesichtspunkt (…) eine höhere Strafe geboten“ ist. Dabei nimmt das Landgericht nicht nur das festgestellte Tatgeschehen in den Blick, sondern auch, dass es sich um die Tat eines Jugendlichen handelt, dessen schwierigen Lebensweg bis zur Tatbegehung die Strafkammer dargestellt hat. Dass die Strafkammer die Erwägung zum positiven Werdegang des Angeklagten seit der Tatbegehung (namentlich dessen Lern- und Integrationserfolge), mit denen sie einen Erziehungsbedarf verneint, nicht auch bei der konkreten Strafbemessung als mildernden Umstand in den Blick genommen hat, ist nicht zu besorgen.

c) Die getroffene Kompensationsentscheidung ist ebenfalls nicht zu beanstanden.

Auch im Jugendstrafrecht kann der Ausgleich für eine überlange Verfahrensdauer jedenfalls bei einer wie hier auf die Schwere der Schuld gestützten Verhängung von Jugendstrafe in Anwendung der von der Rechtsprechung entwickelten „Vollstreckungslösung“ vorgenommen werden (vgl. Senat, Urteil vom 19. Mai 2010 ? 2 StR 278/09, juris Rn. 38 mwN). Entgegen der Auffassung der Revision musste das Landgericht nicht prüfen, ob bei einer Verurteilung des Angeklagten zu einem früheren Zeitpunkt bei diesem noch ein Erziehungsbedarf hätte festgestellt werden, dies zu einer milderen Strafe und damit zur Notwendigkeit einer größeren Kompensation hätte führen können. Hypothetische Erwägungen sind keine geeignete Strafzumessungstatsache (vgl. BGH, Urteil vom 28. Mai 1980 ? 3 StR 176/80, NJW 1980, 2821). Die zusätzlich zur strafmildernden Berücksichtigung der langen Verfahrensdauer vorgenommene Kompensation, wonach sechs Monate der gegen den Angeklagten verhängten Jugendstrafe als vollstreckt gelten, weist ausgehend von einem Zeitraum zwischen der Aufhebung des gegen den Angeklagten erlassenen Haftbefehls im August 2014 und der Verfahrenseröffnung und Terminierung im Oktober 2018, in denen das Verfahren wegen Überlastung der Strafkammer nicht aktiv betrieben wurde, keinen den Angeklagten beschwerenden Rechtsfehler auf.

HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 29

Externe Fundstellen: NStZ 2020, 301; StV 2020, 679

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner