HRRS-Nummer: HRRS 2019 Nr. 457
Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner
Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 599/18, Beschluss v. 19.02.2019, HRRS 2019 Nr. 457
1. Auf die Revision des Angeklagten S. wird das Urteil des Landgerichts Bonn vom 1. August 2018, soweit es ihn betrifft, im Straf- und Maßregelausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.
2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
3. Die weiter gehende Revision wird verworfen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit unerlaubtem Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in 24 Fällen, sowie wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in Tateinheit mit unerlaubtem Erwerb von Betäubungsmitteln in zehn Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und drei Monaten verurteilt. Außerdem hat es seine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angeordnet und eine Einziehungsentscheidung getroffen. Gegen dieses Urteil richtet sich die auf die Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten. Das Rechtsmittel hat in dem aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Umfang Erfolg. Im Übrigen ist es unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.
Das Landgericht hat, soweit es hier von Bedeutung ist, folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:
1. a) Der Lebensgefährte der Mutter des Angeklagten betäubte diesen im Alter von elf Jahren mit Opium, um ihn sexuell zu missbrauchen. Ein Jahr danach begann der Angeklagte mit dem Konsum von Alkohol im Übermaß, den er 27 Jahre lang beibehielt. In den Jahren 2000 und 2002/2003 absolvierte er Entzugstherapien, jedoch ohne dauerhaften Erfolg. Außerdem konsumierte er zeitweise THC-Produkte, wobei er nach einer Phase der Abstinenz einen Rückfall erlitt, bevor er diesen Konsum vor etwa zweieinhalb Jahren einstellte. Amphetamin nahm er über einen Zeitraum von 25 Jahren zu sich, bis er drei Monate vor der Hauptverhandlung davon Abstand nahm.
Erstmals in den Jahren 1995/1996 hörte der Angeklagte Stimmen, die nach Alkoholkonsum verschwanden. Bei Wahnvorstellungen und Alkoholintoxikation wurde er aggressiv. Vor etwa zehn Jahren wurde er deshalb auf Medikamente eingestellt. In Stresssituationen leidet er gleichwohl unter Schweißausbrüchen, Kopfschmerzen und motorischen Störungen; diese Symptome reichen nach seiner Darstellung bis zu einem „Nervenzusammenbruch“. Wegen seiner Erkrankung nimmt er die Medikamente Amilsuprid, Mitrazepam, Zopiclon und Dominal.
b) Im Zeitraum vom 1. April 2015 bis zum 31. März 2017 kaufte der Angeklagte von dem Mitangeklagten P. in 24 Fällen jeweils 200 g Amphetamin, danach bis zum 20. September 2017 in zehn Fällen je 50 g Amphetamin. Die Hälfte des Amphetamins konsumierte er selbst, den Rest verkaufte er gewinnbringend.
2. Das Landgericht hat eine erhebliche Verminderung der Steuerungsfähigkeit des Angeklagten zur Tatzeit im Sinne von § 21 StGB verneint. Die Voraussetzungen für eine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt gemäß § 64 StGB hat es bejaht.
a) Die Strafkammer ist bei der Verneinung der Voraussetzungen des § 21 StGB dem gerichtlichen Sachverständigen gefolgt, der eine Abhängigkeit des Angeklagten von Amphetamin angenommen, aber weder eine rauschunabhängige Beeinträchtigung seiner Steuerungsfähigkeit noch eine akute Intoxikation zur Tatzeit festgestellt hat. „Darüber hinaus sei auch durch die psychotische Erkrankung die Persönlichkeit des Angeklagten nicht in einer für § 20 StGB relevanten Art und Weise beeinträchtigt gewesen.“ Diesen Einschätzungen des Sachverständigen, welcher der Strafkammer „langjährig als besonders erfahren bekannt“ ist, hat sie sich „aufgrund eigener Prüfung und infolge des Eindrucks“ von dem Angeklagten in der Hauptverhandlung angeschlossen.
b) Bei der Anordnung der Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt ist das Landgericht ebenfalls dem Gutachten des Sachverständigen gefolgt, der ausgeführt hat, die dreimonatige Abstinenz des Angeklagten vor der Hauptverhandlung spreche nicht gegen einen Hang zum Konsum berauschender Mittel im Übermaß. „Hierbei sei insbesondere zu berücksichtigen, dass sich die Frage, ob eine Sucht nachhaltig erfolgreich bekämpft wurde, erst nach einem längeren Zeitraum beurteilen lasse, in dem auch Krisensituationen - die häufig zu einem Rückfall führen - eingetreten seien.“ Zur Erfolgsaussicht der Maßregel hat die Strafkammer angemerkt, „dass der Angeklagte bislang noch keine umfassenden Therapieversuche zur Beseitigung sämtlicher Abhängigkeiten unternommen hat, weshalb eine hinreichend positive Therapieprognose bejaht werden“ könne.
Der Schuldspruch begegnet keinen rechtlichen Bedenken, jedoch ist der Rechtsfolgenausspruch rechtsfehlerhaft.
1. Das Landgericht hat das Fehlen einer erheblichen Verminderung der Steuerungsfähigkeit des Angeklagten zur Tatzeit nicht ausreichend belegt.
a) Der Tatrichter hat die Frage der Schuldfähigkeit des Angeklagten ohne Bindung an die Äußerungen des Sachverständigen in eigener Verantwortung zu beurteilen. Schließt er sich - wie hier - dem Sachverständigen an, muss er zumindest die wesentlichen Anknüpfungstatsachen und Schlussfolgerungen des Sachverständigen auf eine für das Revisionsgericht nachprüfbare Weise im Urteil mitteilen (st. Rspr.; vgl. Senat, Beschluss vom 27. Januar 2016 - 2 StR 314/15). Daran fehlt es hier.
Schon die genaue Diagnose der psychischen Erkrankung des Angeklagten ist im Urteil nicht mitgeteilt worden. Wann und in welcher Weise deren Symptome weiter aufgetreten sind, nachdem erstmals in den Jahren 1995/1996 ein Stimmenhören festgestellt wurde, ist ihm ebenfalls nicht zu entnehmen. Wie der Krankheits- und Behandlungsverlauf sich seither gestaltet hat, wird nur mit Hinweis auf eine vor etwa zehn Jahren langwierig durchgeführte Einstellung des Angeklagten auf Medikamente und durch die Angaben des Angeklagten zu Reaktionen auf Stressereignisse angedeutet. Allein die Bezeichnung der vom Angeklagten eingenommenen Medikamente gestattet es dem Revisionsgericht nicht, die zur Tatzeit vorhandene Krankheitssituation nachzuvollziehen. Insgesamt wird die Behauptung, dass „auch durch die psychotische Erkrankung die Persönlichkeit des Angeklagten nicht in einer für § 20 StGB relevanten Art und Weise beeinträchtigt gewesen“ sei, nicht nachprüfbar erklärt und belegt.
b) Abgesehen davon bestehen Bedenken, ob das Landgericht bei Beurteilung der Schuldfähigkeit den Anforderungen an die gebotene eigenverantwortliche tatgerichtliche Prüfung der Ausführungen des psychiatrischen Sachverständigen genügt hat (vgl. Senat, Beschluss vom 9. Oktober 2012 - 2 StR 297/12, NJW 2013, 181, 182; Beschluss vom 28. September 2016 - 2 StR 223/16, NStZ-RR 2017, 37, 38). Es gibt die Ausführungen des Sachverständigen verkürzt wieder. Konkrete Erwägungen, die erkennen ließen, dass sich die Strafkammer selbst mit der Prüfung einer erheblichen Beeinträchtigung der Steuerungsfähigkeit näher befasst hat, sind den Urteilsgründen nicht zu entnehmen. Die Bemerkung, dass der Sachverständige dem Gericht als langjährig erfahrener Gutachter bekannt sei, ist demgegenüber hier nicht ausreichend (vgl. Eisenberg, Beweisrecht der StPO, 10. Aufl., Rn. 1608). Auch der persönliche Eindruck der Richter vom Angeklagten in der Hauptverhandlung nach dreimonatigem Verzicht auf den Konsum von Amphetamin kann eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den gutachterlichen Ausführungen zum Hemmungsvermögen des Angeklagten zur Tatzeit nicht ersetzen.
c) Der Senat kann unbeschadet des gestreckten Tatbestands des unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln und der lang andauernden Tatserie nicht endgültig ausschließen, dass der Strafausspruch auf den Rechtsfehlern bei der Prüfung des § 21 StGB beruht. Wahnerkrankungen können ausnahmsweise auch bei einem Residualzustand zu einer erheblichen Beeinträchtigung der Steuerungsfähigkeit führen (vgl. Kröber/Lau in Kröber/Dölling/Leygraf/Sass, Handbuch der Forensischen Psychiatrie, Bd. 2, 2010, S. 312, 326 f.). Die Möglichkeit einer Anwendung von § 20 StGB kann dagegen sicher ausgeschlossen werden.
2. Die Maßregelanordnung gemäß § 64 StGB ist ebenfalls nicht rechtsfehlerfrei begründet worden. Dabei kann offenbleiben, ob die Feststellung eines im Urteilszeitpunkt vorhandenen Hangs des Angeklagten zum Konsum berauschender Mittel im Übermaß rechtsfehlerhaft ist. Jedenfalls ist die Prognose einer konkreten Aussicht auf einen Therapieerfolg im Sinne von § 64 Satz 2 StGB rechtlich zu beanstanden.
Die Therapierbarkeit eines Täters darf nicht von vornherein als gegeben angesehen werden. Das Gesetz ermächtigt den Tatrichter zur Anordnung der Maßregel nur unter der Voraussetzung, dass dieser sich auf einer verlässlichen Tatsachengrundlage davon überzeugt hat, es bestehe die hinreichend konkrete Aussicht eines Behandlungserfolgs (vgl. BVerfG, Beschluss vom 16. März 1994 - 2 BvL 3/90, 4/91 u.a., BVerfGE 91, 1, 30). Die Anordnungsprognose muss mit dem Vorhandensein von im Einzelnen zu bezeichnenden konkreten Umständen begründet werden (vgl. SK-StGB/Sinn, 9. Aufl., § 64 Rn. 18).
Mit dem bloßen Hinweis auf die Tatsache, dass der Angeklagte noch keine umfassende Therapie auch hinsichtlich der bereits überwundenen Suchtvarianten erfahren hat, ist die Strafkammer den Anforderungen, die an die Bejahung einer konkreten Erfolgsaussicht zu stellen sind, nicht gerecht geworden. Zwar handelt es sich um einen prognosegünstigen Umstand. Dieser kann aber die Annahme einer hinreichend konkreten Erfolgsaussicht in einem Fall nicht alleine belegen, in dem - wie hier - auch prognoseungünstige Faktoren vorhanden sind. Das betrifft etwa den früheren wiederholten Rückfall des Angeklagten in den Alkoholkonsum nach Entziehungstherapien, seinen zeitweiligen Rückfall in den THC-Konsum und seinen insgesamt 25 Jahre andauernden Amphetaminkonsum, der sich bei der Begehung der abgeurteilten Taten ausgewirkt hat. Bei dieser Sachlage versteht es sich nicht nahezu von selbst, dass die Maßregel geeignet ist, den Angeklagten für eine erhebliche Zeit vor einem Rückfall in den Hang zu bewahren. Zur rechtsfehlerfreien Prognose bedarf es vielmehr einer Gesamtwürdigung der Täterpersönlichkeit und aller sonstigen prognoserelevanten Umstände (vgl. BGH, Beschluss vom 21. April 2015 - 4 StR 92/15, NJW 2015, 2898, 2900), einschließlich der Frage seiner Therapiebereitschaft. An der erforderlichen Gesamtschau fehlt es im angefochtenen Urteil.
HRRS-Nummer: HRRS 2019 Nr. 457
Externe Fundstellen: NStZ-RR 2019, 140; StV 2021, 235; StV 2021, 86
Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner