HRRS-Nummer: HRRS 2019 Nr. 627
Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner
Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 382/18, Urteil v. 27.03.2019, HRRS 2019 Nr. 627
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Frankfurt am Main vom 2. Februar 2018 mit den Feststellungen aufgehoben; ausgenommen sind die Feststellungen zum äußeren Tathergang.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittelverfahrens, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
2. Die weiter gehende Revision des Angeklagten wird verworfen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen vorsätzlicher Körperverletzung, wegen Bedrohung in Tateinheit mit Beleidigung und wegen Totschlags zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von neun Jahren verurteilt und seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Hiergegen richtet sich die auf die Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten, die den aus dem Tenor ersichtlichen Erfolg erzielt; im Übrigen ist das Rechtsmittel unbegründet.
Das Landgericht hat folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:
1. Am 5. Dezember 2016 (Fälle 1 und 2 der Urteilsgründe) hielt sich der Angeklagte, der stark alkoholisiert und in aggressiver Stimmung war, sichtlich torkelte und unverständlich vor sich hinsprach, an einer Bushaltstelle in B. auf. Er stellte sich vor zwei dort wartende Frauen und pöbelte diese an. Ein Passant forderte den Angeklagten auf, die Frauen in Ruhe zu lassen, und wandte sich sodann zum Gehen. Der Angeklagte rannte plötzlich von hinten auf diesen zu und trat ihn gegen die Beine, so dass er zu Boden fiel und eine Nasenbeinprellung, eine Prellung beider Hände und multiple Abschürfungen erlitt. Gegenüber den alarmierten und am Tatort eintreffenden Polizeibeamten äußerte sich der Angeklagte beleidigend und drohte, diese mit einer Kalaschnikow zu erschießen.
2. Im März 2013 war die Unterbringung des Angeklagten, der wegen aufgehobener Steuerungsfähigkeit vom Vorwurf eines versuchten Totschlags freigesprochen worden war, in einer Entziehungsanstalt angeordnet worden. Aus dieser war der Angeklagte im März 2015 entlassen worden und wohnte zunächst in einer betreuten Wohngemeinschaft. Im Jahr 2016 kam es zu einem erneuten Rückfall in die Alkoholsucht. Sein Wunsch, deswegen in die Klinik zurückzugehen, wurde abgelehnt und er kam schließlich in einem Männerwohnheim in F. unter, in dem er seit Ende Januar 2017 ein Zimmer zusammen mit dem späteren Tatopfer G. belegte.
Am 8. Februar 2017 (Fall 3 der Urteilsgründe) kam es dort um 17.50 Uhr zu einer ersten Auseinandersetzung zwischen dem zu dieser Zeit wie gewöhnlich stark alkoholisierten G. und dem Angeklagten, die vom Zeugen J. geschlichtet werden konnte, der dem weniger alkoholisiert wirkenden Angeklagten vorschlug, spazieren zu gehen. Gegen 21.00 Uhr kehrte der Angeklagte in sein Zimmer zurück. Als G. in das Waschbecken urinierte, brachte der Angeklagte hierüber seine Missbilligung zum Ausdruck, was G. in abfälliger Weise beantwortete. Nachdem sich die Situation zunächst wieder beruhigt hatte, eskalierte wenig später der Streit. G. griff eine 97 cm lange, 2,5 cm durchmessende und ca. 10 kg schwere Eisenstange und versuchte, diese in Richtung des Angeklagten zu schwingen, was ihm aufgrund seiner Alkoholisierung und des Eigengewichts der Eisenstange nicht gelang. Die Stange fiel ihm aus der Hand und zu Boden. Daraufhin hob der Angeklagte die Eisenstange auf und versetzte dem vor seinem Bett stehenden G. unvermittelt einen heftigen Schlag auf dessen Hinterkopf, wodurch der Geschädigte das Bewusstsein verlor und auf das Bett fiel. Sodann versetzte der Angeklagte seinem Tatopfer mindestens sechs weitere heftige, stanzartig geführte Schläge bzw. Stöße auf die rechte Kopf- und Halsseite. Die hierdurch hervorgerufenen Verletzungen führten alsbald zum Tod des Geschädigten, was dem Angeklagten bei Ausführung der Schläge bewusst war und was er zu diesem Zeitpunkt auch wollte. Nach der Tat legte der Angeklagte eine mit leeren Bierdosen gefüllte Plastiktüte um den Kopf des Geschädigten und deckte ihn vollständig mit einer Bettdecke zu. Sodann rief er von seinem Mobiltelefon die Polizei und teilte mit, seinen „Zimmerkumpan“ getötet zu haben. Gegenüber den wenig später eintreffenden Polizeibeamten gab er sich als Anrufer zu erkennen und ließ sich widerstandslos festnehmen. Der Angeklagte hatte im Tatzeitraum eine Blutalkoholkonzentration von maximal 2,20 Promille.
3. Das sachverständig beratene Landgericht geht davon aus, dass die Fähigkeit des Angeklagten, das Unrecht der Taten einzusehen, jeweils erhalten, seine Fähigkeit, nach dieser Einsicht zu handeln, aber aufgrund seiner Alkoholisierung und einer hirnorganischen Persönlichkeitsstörung in erheblicher Weise eingeschränkt war (§ 21 StGB).
Das Urteil hält revisionsgerichtlicher Nachprüfung nicht stand. Gegen die von der Strafkammer vorgenommene Schuldfähigkeitsprüfung bestehen durchgreifende rechtliche Bedenken.
1. Die Entscheidung, ob die Schuldfähigkeit des Angeklagten zur Tatzeit aus einem der in § 20 StGB bezeichneten Gründe ausgeschlossen oder im Sinne von § 21 StGB erheblich vermindert war, erfolgt prinzipiell mehrstufig (st. Rspr.; vgl. Senat, Beschluss vom 27. Juni 2018 - 2 StR 112/18; BGH, Beschlüsse vom 11. April 2018 - 4 StR 446/17 Rn. 7 und vom 14. Juli 2016 - 1 StR 285/16; Urteile vom 1. Juli 2015 - 2 StR 137/15, NJW 2015, 3319, 3320 Rn. 17 und vom 12. März 2013 - 4 StR 42/13, NStZ 2013, 519, 520 Rn. 7). Zunächst ist die Feststellung erforderlich, dass bei dem Angeklagten eine psychische Störung vorliegt, die ein solches Ausmaß erreicht hat, dass sie unter eines der psychopathologischen Eingangsmerkmale des § 20 StGB zu subsumieren ist. Sodann sind der Ausprägungsgrad der Störung und deren Einfluss auf die soziale Anpassungsfähigkeit des Täters zu untersuchen. Durch die festgestellten psychopathologischen Verhaltensmuster muss die psychische Funktionsfähigkeit des Täters bei der Tatbegehung beeinträchtigt worden sein. Hierzu ist das Gericht jeweils für die Tatsachenbewertung auf die Hilfe eines Sachverständigen angewiesen. Gleichwohl handelt es sich bei der Frage des Vorliegens eines der Eingangsmerkmale des § 20 StGB bei gesichertem Vorliegen eines psychiatrischen Befunds wie bei der Prüfung der aufgehobenen oder erheblich eingeschränkten Steuerungsfähigkeit des Angeklagten zur Tatzeit um Rechtsfragen. Deren Beurteilung erfordert konkretisierende und widerspruchsfreie Darlegungen dazu, in welcher Weise sich die festgestellte psychische Störung bei Begehung der Tat auf die Handlungsmöglichkeiten des Angeklagten in der konkreten Tatsituation und damit auf die Einsichts- und Steuerungsfähigkeit ausgewirkt hat (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschluss vom 24. Oktober 2018 - 1 StR 457/18; vom 4. April 2018 - 1 StR 116/18 je mwN).
2. Diesen Anforderungen genügen die Erwägungen nicht, mit denen ausgeschlossen wird, dass der Angeklagte an beiden Tattagen ohne Schuld (§ 20 StGB) gehandelt hat.
a) Das Landgericht nimmt Bezug auf das Gutachten des Sachverständigen, wonach der Angeklagte sowohl an einem massiven Alkoholabhängigkeitssyndrom (ICD-10: F 10.2) leide, bei dem es sich um eine schwere andere seelische Störung im Sinne des 4. Eingangsmerkmals des § 20 StGB handle, als auch an einer hirnorganischen Persönlichkeits- oder Verhaltensstörung (ICD 10: F 7.8) in Folge einer Marklagerveränderung, welche dem 1. Eingangsmerkmal des § 20 StGB zuzuordnen sei. Die Unrechtseinsicht des Angeklagten sei aber im Zeitpunkt beider Taten sicher vorhanden gewesen, denn seine Reaktionen seien aus einer Motivlage herleitbar. Auch das Verhalten des Angeklagten nach den Taten zeige, dass er sich des begangenen Unrechts bewusst gewesen sei. Dem schließt sich die Strafkammer an: „Das festgestellte Leistungsverhalten des Angeklagten“ spreche gegen den völligen Verlust der Steuerungsfähigkeit.
b) Dies wird den an die Strafkammer gestellten Prüfungsanforderungen nicht gerecht. Der Tatrichter hat bei der Entscheidung über die Bejahung eines der Eingangsmerkmale des § 20 StGB und bei der Annahme eingeschränkter Schuldfähigkeit nicht nur die Darlegungen des medizinischen Sachverständigen eigenständig zu überprüfen; er ist auch verpflichtet, seine Entscheidung in einer für das Revisionsgericht nachprüfbaren Weise zu begründen (BGH, Beschluss vom 7. März 2006 - 3 StR 52/06, NStZ-RR 2007, 74). Dem genügt der Hinweis der Strafkammer auf „das festgestellte Leistungsverhalten“ hier nicht.
aa) Zu den Taten 1 und 2 der Urteilsgründe hat die Strafkammer festgestellt, der Angeklagte habe eine Blutalkoholkonzentration von 3 Promille aufgewiesen, habe kaum laufen können, sei geschwankt und getorkelt, habe undeutlich und verwaschen gesprochen, sein Auffassungsvermögen sei „verzögert und sein Verhalten teilnahmslos/ aggressiv/ wechselnd/ euphorisch/ provokativ gewesen“. Wieso dies den von der Strafkammer auch für diese Taten aus dem „Leistungsverhalten“ gezogenen Schluss auf eine erhaltene Schuldfähigkeit tragen kann, hätte jedenfalls näherer Erläuterung bedurft.
bb) Hinsichtlich des Tötungsdelikts (Tat 3 der Urteilsgründe) stellt die Strafkammer zwar Umstände fest, die auf eine erhaltene Steuerungsfähigkeit hinweisen können, wie etwa die gewaltfreie Reaktion des Angeklagten auf erste Provokationen des Geschädigten oder das kontrollierte Nachtatverhalten. Auch habe die etwa eineinhalb Stunden nach der Tat durchgeführte Untersuchung des Angeklagten zwar eine deutliche Alkoholbeeinflussung gezeigt, nach dem Gesamteindruck sei der Angeklagte aber voll orientiert gewesen und habe sich an den Vorfall erinnert. Die Strafkammer hat aber nicht erkennbar bedacht, dass äußeres Leistungsverhalten und innere Steuerungsfähigkeit bei hoher Alkoholgewöhnung auseinanderfallen können - gerade bei Alkoholabhängigen zeigt sich oft eine durch „Übung“ erworbene Kompensationsfähigkeit insbesondere im Bereich grobmotorischer Auffälligkeiten - und dass bei dem Angeklagten durch das Tatgeschehen und den Anblick des Tatopfers (welches er sodann mit einer Tüte und der Bettdecke bedeckt) eine Ernüchterung eingetreten sein kann (vgl. BGH, Beschlüsse vom 23. Januar 2019 - 1 StR 448/18 und vom 28. Februar 2018 - 4 StR 530/17, NStZ-RR 2018, 136, jeweils mwN).
c) Die Erwägungen der Strafkammer zur Schuldfähigkeit des Angeklagten können aber auch deswegen keinen Bestand haben, weil sie es dem Senat nicht ermöglichen nachzuvollziehen, ob und inwieweit sich die seelischen Störungen im Sinne des § 20 StGB auf die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten bei Begehung der Tat ausgewirkt haben. Erforderlich ist insoweit eine konkretisierende Darstellung, in welcher Weise sich die näher festgestellte psychische Störung bei Begehung der Tat auf die Handlungsmöglichkeiten des Angeklagten in der konkreten Tatsituation und damit nicht nur auf seine Einsichtssondern auch auf seine Steuerungsfähigkeit ausgewirkt hat (st. Rspr.; etwa BGH, Beschluss vom 21. Dezember 2016 - 1 StR 594/16, NStZ-RR 2017, 76 mwN). Die Beurteilung der Einsichts- und Steuerungsfähigkeit des Angeklagten kann - von offenkundigen Ausnahmefällen abgesehen (vgl. BGH, Urteil vom 6. Mai 1997 - 1 StR 17/97, NStZ 1997, 485, 486) - nicht abstrakt, sondern nur in Bezug auf eine bestimmte Tat erfolgen (vgl. BGH, Beschluss vom 14. Oktober 2015 - 1 StR 56/15, NJW 2016, 728, 729; Urteile vom 21. Januar 2004 - 1 StR 346/03, BGHSt 49, 45, 54; vom 21. Dezember 2006 - 3 StR 436/06, NStZ-RR 2007, 105, 106; Perron/Weißer in Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl., § 20 Rn. 31 mwN).
Dem wird das angefochtene Urteil nicht gerecht. Zwar wird zu den Auswirkungen der beim Angeklagten diagnostizierten organischen Persönlichkeits- und Verhaltensstörung noch mitgeteilt, dass diese „phasenweise“ auftrete, der Angeklagte hierdurch „emotional instabil und affektlabil“ sei und er in einem Moment lachen und im nächsten „extrem niedergedrückt“ sein könne. Hiervon ausgehend hätte es dann aber insbesondere für das festgestellte Tötungsdelikt (Tat 3 der Urteilsgründe) näherer Erörterung bedurft, inwieweit gleichwohl von einem Verhalten vor oder nach der Tat auf eine im gesamten Verlauf des Tatabends gleichermaßen erhaltene Steuerungsfähigkeit geschlussfolgert werden kann, zumal der Tat unmittelbar ein nunmehr (anders als bei den ersten Provokationen des Geschädigten) gegen die körperliche Integrität des Angeklagten gerichteter Angriffsversuch vorausging, der einen anderen Reizimpuls beim Angeklagten gesetzt haben könnte. Ausführungen hierzu lassen die Urteilsgründe vermissen. So wird auch aus dem Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe nicht erkennbar, welche Bedeutung und welchen Einfluss das diagnostizierte Störungsbild - bei angenommener Einsichtsfähigkeit - auf die Handlungsmöglichkeiten des Angeklagten in den jeweiligen konkreten Tatsituationen gehabt hat.
d) Die Urteilsgründe lassen zudem die gebotene tatrichterliche Gesamtbetrachtung vermissen. Haben - wie hier - bei der Tat mehrere Faktoren zusammengewirkt und kommen daher mehrere Eingangsmerkmale gleichzeitig in Betracht, so dürfen diese nicht isoliert abgehandelt werden; erforderlich ist in solchen Fällen vielmehr eine umfassende Gesamtbetrachtung (Senat, Beschluss vom 23. August 2000 - 2 StR 281/00, BGHR StGB § 21 Ursachen, mehrere 14; BGH, Beschluss vom 3. September 2004 - 1 StR 359/04, NStZ-RR 2004, 360; BeckOK-StGB/Eschelbach, § 20 Rn. 13 mwN).
3. Der Schuldspruch kann nach alledem keinen Bestand haben, ebenso wenig die Unterbringungsanordnung (vgl. BGH, Urteil vom 13. Juni 1995 - 1 StR 268/95). Vom Rechtsfehler unberührt sind die Feststellungen zum äußeren Geschehensablauf. Da sie auch sonst rechtsfehlerfrei getroffen sind, können sie bestehen bleiben (vgl. BGH, Urteil vom 27. November 1959 - 4 StR 394/59, BGHSt 14, 30, 34).
HRRS-Nummer: HRRS 2019 Nr. 627
Externe Fundstellen: NStZ-RR 2019, 170; StV 2021, 83
Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner