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HRRS-Nummer: HRRS 2017 Nr. 920

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 94/16, Beschluss v. 13.06.2017, HRRS 2017 Nr. 920


BGH 2 StR 94/16 - Beschluss vom 13. Juni 2017 (LG Frankfurt a. M.)

Tatrichterliche Beweiswürdigung (Darlegungsanforderungen in Aussage-gegen-Aussage-Konstellationen; revisionsrechtliche Überprüfbarkeit).

§ 261 StPO; § 267 Abs. 1 StPO

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Frankfurt am Main vom 13. Oktober 2015 mit den Feststellungen aufgehoben.

2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Jugendschutzkammer zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen und wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt. Dagegen richtet sich die auf Verfahrensrügen und die Sachbeschwerde gestützte Revision des Angeklagten. Das Rechtsmittel hat mit der Sachrüge erfolgt.

I.

1. Nach den Feststellungen des Landgerichts war der Angeklagte Lehrer an einer Grundschule für Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf. Er war Klassenlehrer der am 23. Juni 2002 geborenen Nebenklägerin L. Diese litt an Entwicklungsverzögerungen und besuchte als „Integrationskind mit besonderem Förderbedarf“ die Grundschule. Er nutzte sich bietende Gelegenheiten zu sexuellen Handlungen mit der Nebenklägerin.

Bei einem Aufenthalt der Schulklasse in einer Jugendherberge veranlasste der Angeklagte die Nebenklägerin dazu, in sein Zimmer zu kommen. Er zog Hose und Unterhose aus und legte sich auf das Bett. Er wies die Nebenklägerin an, ihren Badeanzug auszuziehen, dann fasste er sie an der Hüfte, setzte sie auf seinen Penis und hob sie auf und ab. Als ein Schüler an der Zimmertür klopfte, hob der Angeklagte sie herunter und befahl ihr schnell ins Bad zu gehen, sich dort anzuziehen und leise zu verhalten (Fall II.1. der Urteilsgründe).

Am 7. Mai 2013 sollte die Nebenklägerin eine weiterführende Schule kennen lernen. Sie fuhr mit dem Schulbus dorthin, während ihre Mutter K. L. mit dem Angeklagten in dessen Auto folgte. Nach Ende der Vorstellung fuhr der Angeklagte mit der Nebenklägerin und ihrer Mutter zurück, setzte die Mutter an deren Wohnung ab und nahm die Nebenklägerin mit. Weil noch Zeit bis zum Unterrichtsbeginn war, hielt der Angeklagte an seinem Haus und ging mit ihr in das Schlafzimmer. Dort entkleidete er sich und die Nebenklägerin, legte sich auf das Bett und hob sie auf seinen Schoß. Er setzte sie auf seinen Penis und hob sie hoch und herunter. Währenddessen sah er immer wieder auf die Uhr, um rechtzeitig zum Unterricht zu kommen. Nach den sexuellen Handlungen frühstückten beide, gingen mit dem Hund des Angeklagten spazieren und fuhren dann zur Grundschule (Fall II.2. der Urteilsgründe).

An einem Tag im vierten Schuljahr der Nebenklägerin unterrichtete der Angeklagte sie im „Differenzierungsraum“, während die weitere Klassenlehrerin die anderen Schüler im Klassenraum unterrichtete. Der Angeklagte zog die Hose der vor ihm stehenden Nebenklägerin herunter, schob die Unterhose beiseite und führte einen Finger in die Scheide ein. Als die Lehrerkollegin an der Tür klopfte, um zu signalisieren, dass das Ende der Schulstunde nahe, rief der Angeklagte mit Verzögerung „komm rein“. In der Zwischenzeit zog er den Finger aus der Scheide der Nebenklägerin und diese zog ihre Hose hoch. Der Angeklagte befahl der Nebenklägerin, sich wieder an den Tisch zu setzen und ihre Stifte einzuräumen, damit die Lehrerin keinen Verdacht schöpfe (Fall II.3. der Urteilsgründe).

2. Das Landgericht hat sein Urteil, der aussagepsychologischen Sachverständigen folgend, auf die Angaben der Nebenklägerin gestützt. Die Nebenklägerin habe das Geschehen logisch konsistent, detailreich und nachvollziehbar dargestellt. Auch habe sie eine authentisch wirkende emotionale Belastung erkennen lassen. Es lägen Besonderheiten in ihren Angaben vor, aus denen sich eine gute Aussagequalität ergebe. Die Entstehung der Beschuldigung, nachdem die Nebenklägerin durch ihre Mutter und die Zeugin A. zur Rede gestellt worden sei, weil sie Sexvideos im Internet angesehen und diese Möglichkeit ihrer Freundin vermittelt habe, spreche nicht gegen die Glaubhaftigkeit der Aussagen. Zur Frage des Filminhalts habe die Nebenklägerin bekundet, „es sei das gewesen, was der Angeklagte auch mit ihr gemacht habe.“ Ergänzend habe sie erklärt, dass sie die Videofilme erst nach den Missbrauchshandlungen aufgerufen habe. Die Nebenklägerin besitze eine „weit unterdurchschnittliche Merk- und Speicherfähigkeit“, weshalb es für sie besonders schwierig wäre, eine erfundene Geschichte konstant zu behaupten. Auszuschließen sei, dass sie durch eine Drucksituation im Gespräch mit ihrer Mutter und der Mutter ihrer Freundin dazu motiviert worden sein könnte, eine falsche Beschuldigung aufzustellen. „Eine solche Schilderung wäre der Geschädigten mit ihrer eingeschränkten kognitiven Leistungsfähigkeit nicht ad hoc möglich gewesen, wenn die geschilderten Geschehnisse nicht erlebnisbasiert gewesen wären“. Aus den Angaben der weiteren Klassenlehrerin und der Ehefrau des Angeklagten ergäben sich keine erheblichen Einwendungen gegen die Glaubhaftigkeit der Beschuldigung.

II.

Die Revision ist mit der Sachrüge begründet, sodass es auf die Verfahrensrügen nicht ankommt. Die Beweiswürdigung des Landgerichts begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken.

1. Die Beweiswürdigung ist Sache des Tatgerichts. Ihm obliegt es, das Ergebnis der Hauptverhandlung festzustellen und zu würdigen. Die revisionsgerichtliche Prüfung ist darauf beschränkt, ob dem Tatgericht Rechtsfehler unterlaufen sind. Das ist der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist oder gegen die Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt. Darüber hinaus hat der Bundesgerichtshof in Fällen, in denen „Aussage gegen Aussage“ steht, besondere Anforderungen an die Darlegung einer zur Verurteilung führenden Beweiswürdigung aufgestellt. Dabei ist insbesondere der Entstehung und die Entwicklung der belastenden Aussage besondere Bedeutung beizumessen. In einer solchen Konstellation hat der Tatrichter zudem in einer umfassenden Gesamtwürdigung alle möglicherweise entscheidungsbeeinflussenden Umstände darzustellen und in seine Überlegungen einzubeziehen (vgl. Senat, Beschluss vom 7. Juli 2014 - 2 StR 94/14, NStZ 2014, 667; Urteil vom 6. April 2016 - 2 StR 408/15; Beschluss vom 10. Januar 2017 - 2 StR 235/16, StV 2017, 367, 368; Beschluss vom 4. April 2017 - 2 StR 409/16).

2. Diesen Anforderungen ist das Landgericht nicht gerecht geworden.

a) Die Erwägungen zur Aussageentstehung sind lückenhaft.

Die Beschuldigung des Angeklagten ist erstmals geäußert worden, nachdem die Freundin der Nebenklägerin beim Aufrufen von Sexfilmen im Internet angetroffen worden war und ihrer Mutter erklärt hatte, sie sei von der Nebenklägerin darüber instruiert worden, worauf die Nebenklägerin von beiden Müttern zur Rede gestellt wurde. Sie befand sich dabei unter dem erheblichen Druck einer nachhaltigen Befragung über ein sonst als Tabu behandeltes Thema. Insbesondere die Mutter der Nebenklägerin habe „nicht locker gelassen“.

Dazu hat die vom Landgericht vernommene aussagepsychologische Sachverständige erläutert, die Nebenklägerin besitze „keine erhöhte Anfälligkeit dafür, Suggestiveinflüssen zu folgen. Sie habe sowohl bei der gutachterlichen Exploration als auch bei den anderen Vernehmungen Suggestivfragen oftmals nicht gemäß der Suggestion beantwortet.“ Ihre Angaben sprächen auch nicht dafür, dass sie „durch den Druck im Gespräch mit ihrer Mutter und der Zeugin A. dazu motiviert gewesen sein könne, eine bewusste Falschaussage gegen den Angeklagten vorzubringen, um dadurch ihre eigene Schuld zu vermindern und ihre Mutter in der Diskussion wegen des Aufrufens der Sexseiten im Internet milde zu stimmen. Aus aussagepsychologischer Sicht sei es äußerst unwahrscheinlich, insbesondere auch aufgrund der vorhandenen Entwicklungsverzögerungen der Zeugin, dass L. eine qualitativ so hochwertige Lüge hätte spontan vorbringen können.“ Das Landgericht hat sich insgesamt dem Ergebnis der Sachverständigen angeschlossen, dass die Angaben der Nebenklägerin „mit hoher Wahrscheinlichkeit erlebnisbasiert und glaubhaft“ seien. Es hat aber nicht selbst überprüft, ob die Nebenklägerin unter dem Druck der intensiven Befragung und mit Blick auf ihr Anschauungsmaterial aus Filmdarstellungen im Internet das Bild von sexuellen Handlungen mit Erlebnissen aus dem Alltag in der Grundschule verknüpft haben könnte, um dem Druck zu entweichen.

Bei weiteren Befragungen der Nebenklägerin sind nach der Bemerkung der Sachverständigen auch Suggestivfragen vorgekommen, deren Art und Bedeutung im Urteil nicht näher erläutert werden. Der Hinweis der Sachverständigen darauf, dass die Nebenklägerin auf Suggestivfragen oft nicht im Sinne der Erwartungshaltung der Fragesteller geantwortet habe, reicht nicht aus, um nachvollziehbar zu begründen, dass es sich bei den tatbezogenen Aussagen der Nebenklägerin um nicht aufgrund von suggestiven Einflüssen entstandene Schilderungen gehandelt hat.

b) Es fehlt auch die bei dieser Lage notwendige besonders sorgfältige Gesamtwürdigung aller für und gegen den Angeklagten sprechenden Gesichtspunkte.

aa) Das Landgericht hat nach der Mitteilung, dass es sich „dem Ergebnis der Sachverständigen“ anschließe, nur noch erläutert, dass die Angaben der Zeuginnen M. und T. nicht geeignet seien, die Glaubhaftigkeit der Angaben der Nebenklägerin zu erschüttern, dem Angeklagten im Fall II.3. der Urteilsgründe ein „ausreichend großes Zeitfenster“ zur Tatbegehung zur Verfügung gestanden habe, das Ergebnis der gynäkologischen Untersuchung keinen Erkenntniswert besitze und das vorläufige Ergebnis der Beweisaufnahme bezüglich eingestellter Tatvorwürfe kein Glaubhaftigkeitsbedenken ergebe. Damit wird das Risiko einer Falschdarstellung durch die Nebenklägerin unter bewusst oder unbewusst erfolgender Entwicklung eines falschen Tatbildes nach intensiven Fragen aufgrund bildhafter Vorstellungen von sexuellen Handlungen aus entsprechenden Filmdarstellungen im Internet nicht nachvollziehbar ausgeräumt.

bb) Auch wäre eine weiter gehende Plausibilitätskontrolle der Angaben durch das Tatgericht erforderlich gewesen. Im Fall II.3. der Urteilsgründe sollen die sexuellen Handlungen unter Zeitdruck mit wiederholtem Blick des Angeklagten auf die Uhr erfolgt sein; danach sollen aber der Angeklagte und das Kind ein Frühstück und einen Spaziergang mit dem Hund nicht ausgelassen haben. Die Fragwürdigkeit eines solchen Geschehens wäre bei der gebotenen Gesamtwürdigung mit in den Blick zu nehmen gewesen.

3. Der Senat kann nicht ausschließen, dass die Verurteilung des Angeklagten auf diesen Rechtsfehlern beruht.

HRRS-Nummer: HRRS 2017 Nr. 920

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede