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HRRS-Nummer: HRRS 2017 Nr. 703

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 593/16, Urteil v. 05.04.2017, HRRS 2017 Nr. 703


BGH 2 StR 593/16 - Urteil vom 5. April 2017 (LG Aachen)

Tatrichterliche Beweiswürdigung (Darstellung im Urteil: Anforderungen an ein freisprechendes Urteil; revisionsrechtliche Überprüfbarkeit).

§ 261 StPO; § 267 Abs. 5 Satz StPO

Entscheidungstenor

Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Aachen vom 23. Juni 2016 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Die Anklage der Staatsanwaltschaft legte dem Angeklagten zur Last, sich gemeinsam mit den früheren Mitangeklagten G., R., Z. und dem gesondert verfolgten Gu. im Zeitraum zwischen August 2012 und 24. Oktober 2013 des gewerbsmäßigen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge strafbar gemacht zu haben, wobei er als Mitglied einer Bande gehandelt haben soll.

Mit insoweit rechtskräftigem Urteil vom 14. August 2014 hat das Landgericht den damaligen Mitangeklagten G. wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und drei Monaten verurteilt und die weiteren damaligen Mitangeklagten R. und Z. freigesprochen. Den Angeklagten verurteilte das Landgericht wegen Beihilfe zum unerlaubten Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und zwei Monaten, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. Auf die Revision des Angeklagten hob der Senat das Urteil, soweit es ihn betraf, mit den Feststellungen auf und wies die Sache zu neuer Verhandlung an eine andere große Strafkammer des Landgerichts zurück (Senat, Beschluss vom 9. Juli 2015 - 2 StR 58/15, NStZ-RR 2015, 343). Das Landgericht hat den Angeklagten nunmehr freigesprochen und angeordnet, dass er für die erlittene Freiheitsentziehung zu entschädigen sei. Dagegen wendet sich die Revision der Staatsanwaltschaft mit der Rüge der Verletzung materiellen Rechts. Das Rechtmittel hat Erfolg.

I.

1. Nach den Feststellungen des Landgerichts reiste der aus Albanien stammende Angeklagte am 13. März 2013 nach Deutschland ein und lebte anschließend zusammen mit dem früheren Mitangeklagten G. in dessen Mietwohnung in A. G. hatte sich im Februar 2013 entschlossen, Albanien zu verlassen und nach Deutschland zu gehen, weil die Familie eines getöteten Landsmannes gegen ihn die Blutrache („Kanun“) ausgerufen hatte und er um sein Leben fürchtete. Er hatte daraufhin den mit ihm weitläufig verwandten Angeklagten gebeten, ihm in Deutschland zur Seite zu stehen.

Am 1. Mai 2013 wurde G. in Ro. festgenommen und am 30. Juli 2013 aus den Niederlanden nach Albanien abgeschoben. Am 13. Oktober 2013 kehrte er nach A. in die Wohnung zurück. Der Angeklagte blieb nach der Festnahme G. s in A. Am 5. September 2013 reiste er nach Albanien aus, kam jedoch am 4. Oktober 2013 wieder nach A. zurück.

Am Morgen des 24. Oktober 2013 wurde in dem u.a. gegen G. und den Angeklagten geführten Ermittlungsverfahren die Wohnung G. s in A. durchsucht. Zunächst drangen polizeiliche Spezialkräfte ein und nahmen die dort angetroffenen Personen in Gewahrsam. Während sich G. mit R. in einen Raum befand, wurden der Angeklagte sowie Z. und Ra. in einem zweiten Raum, jeweils auf Matratzen schlafend, angetroffen. In diesem zweiten Raum stand ein großer Kleiderschrank mit sieben Türen und vier Abteilen. Die bei der Durchsuchung eingesetzten Beamten des Zolls verlangten die Ausweise der Angetroffenen und versuchten zu erfragen, wer den Kleiderschrank nutzt. Da die angetroffenen Personen, sämtlich Albaner, kein Deutsch verstanden und ein Dolmetscher nicht vor Ort war, verständigte man sich „mit Händen und Füßen“. Vielleicht auf die Frage nach dem Ausweis, vielleicht auf die Frage nach der Schranknutzung zeigte der Angeklagte ohne verbale Erläuterung auf die äußere rechte Tür des Kleiderschranks, der an keiner Stelle abgeschlossen war. Nachdem die fünf in der Wohnung angetroffenen Männer zur weiteren Vernehmung zur Dienststelle transportiert worden waren, fanden die Beamten bei der Durchsuchung der Wohnung in dem Teil des Schrankes, auf den der Angeklagte gezeigt hatte, dessen albanischen Personalausweis sowie zehn Kokain-Briefchen mit insgesamt 8,69 Gramm Kokain und einem Wirkstoffgehalt von 7,18 Gramm Kokainhydrochlorid. Die konkrete Auffindesituation konnte mangels hinreichender Dokumentation nicht mehr rekonstruiert werden.

Insgesamt wurden bei der Durchsuchung in unterschiedlichen Bereichen der Wohnung 211,9 Gramm Kokain mit einem Wirkstoffgehalt von 174,48 Gramm Kokainhydrochlorid und 755,2 Gramm Cannabisharz mit einem Wirkstoffgehalt von 19,7 Gramm Tetrahydrocannabinol aufgefunden, die G. kurz nach seiner Rückkehr aus Albanien zum gewinnbringenden Weiterverkauf von namentlich nicht ermittelten Bekannten erworben hatte. Auf verschiedenen bei der Durchsuchung sichergestellten Gegenständen wurden daktyloskopische und DNA-Spuren gefunden; auf einer Betäubungsmittelverpackung wurden die Fingerabdrücke des Angeklagten nachgewiesen.

2. Das Landgericht hat sich weder davon überzeugen können, dass der Angeklagte täterschaftlich mit Betäubungsmitteln gehandelt, noch dass er zu den Drogengeschäften des G. Beihilfe geleistet hat, und hat ihn daher aus tatsächlichen Gründen freigesprochen.

Der Angeklagte hat sich eingelassen, er habe sich auf Bitten der Familie des G. auch nach dessen Verhaftung um die Wohnung gekümmert und quasi „Urlaub“ in A. gemacht. Nach der Abschiebung des G. habe er sich überwiegend in K. aufgehalten. Im Oktober 2013 sei er nach zwischenzeitlicher Ausreise nach Albanien nur deshalb wieder nach A. gekommen, um die Wohnung für G. zu halten, bis dieser nach Deutschland zurückkehre. Danach sei er quasi von seiner „Aufgabe“ entbunden gewesen und habe seine Rückkehr nach Albanien vorbereitet. G. habe ihm zwar gesagt, dass er in das Drogengeschäft einsteigen wolle und hierfür Kokain gekauft habe, er habe ihm aber entgegnet, dass er nichts davon halte. Später habe er von G. erfahren, dass dieser Kokain in der Wohnung deponiert habe. Mit dessen Verkauf habe er aber nichts zu tun gehabt. Es sei möglich, dass er einmal eine Betäubungsmittelverpackung angefasst habe. Die in dem Schrankfach gefundenen Kokain-Briefchen gehörten nicht ihm und seien auch nicht von ihm dort gelagert worden. Dass er am Tag der Durchsuchung nochmals in der Wohnung in A. geschlafen habe, sei nur Zufall gewesen.

Die Strafkammer sah die Einlassung des Angeklagten als nicht zu widerlegen an. Dass der Angeklagte in irgendeiner Weise fördernd an den Drogengeschäften des G. beteiligt war, lasse sich nicht feststellen. Es sei lediglich gesichert, dass der Angeklagte von diesen Geschäften gewusst habe. Der frühere Mitangeklagte G. habe sich in seiner Einlassung, welche die Darstellung des Angeklagten bestätigte, dazu bekannt, die Betäubungsmittel in der gesamten Wohnung und damit auch im Kleiderschrank deponiert zu haben. Was der Angeklagte damit zum Ausdruck habe bringen wollen, als er auf die äußere rechte Hälfte des Schrankes gezeigt habe, sei nicht aufzuklären gewesen. Ebenso wenig sei eine Zuordnung der vorhandenen Schrankfächer zu den angetroffenen Personen möglich gewesen.

II.

Das Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft hat Erfolg. Die Beweiswürdigung des Landgerichts begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken.

1. Die Beweiswürdigung ist dem Tatgericht vorbehalten (§ 261 StPO). Es obliegt allein ihm, sich unter dem umfassenden Eindruck der Hauptverhandlung ein Urteil über die Schuld oder Unschuld des Angeklagten zu bilden. Seine Schlussfolgerungen brauchen nicht zwingend zu sein; es genügt, dass sie möglich sind. Der Beurteilung durch das Revisionsgericht unterliegt nur, ob dem Tatgericht Rechtsfehler unterlaufen sind. Dies ist der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist, wenn sie gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt oder das Gericht überspannte Anforderungen an die Überzeugungsbildung gestellt hat (st. Rspr.; vgl. etwa BGH, Urteil vom 13. Juli 2016 - 1 StR 94/16, juris). Die Überzeugung des Tatgerichts muss in den Feststellungen und der sie tragenden Beweiswürdigung allerdings eine ausreichende objektive Grundlage finden. Auch im Falle eines Freispruchs des Angeklagten ist das Tatgericht verpflichtet, die wesentlichen Beweismittel im Rahmen seiner Beweiswürdigung heranzuziehen und einer erschöpfenden Würdigung zu unterziehen. Insbesondere in Fällen, in denen nach dem Ergebnis der Hauptverhandlung ein erheblicher Tatverdacht gegen den Angeklagten besteht, ist es erforderlich, in die Beweiswürdigung und ihre Darlegung in den Urteilsgründen alle wesentlichen gegen den Angeklagten sprechenden Umstände einzubeziehen und sie einer umfassenden Gesamtwürdigung zu unterziehen (vgl. BGH, Urteil vom 11. November 2015 - 1 StR 235/15, NStZ-RR 2016, 47, 48; Urteil vom 28. Oktober 2010 - 4 StR 285/10, insoweit nicht abgedruckt in NStZ-RR 2011, 50).

2. An diesen Maßstäben gemessen hält die tatrichterliche Beweiswürdigung rechtlicher Überprüfung nicht stand. Die Beweiserwägungen sind lückenhaft.

a) Bereits die bei der Durchsuchung vorgefundene Wohnsituation hätte der Erörterung bedurft. Wie die Strafkammer festgestellt hat, wurden in der „unterwohnt wirkenden“ Wohnung, die nur über eine provisorische Küche verfügte und in der sich an diversen Stellen (offen und versteckt) Drogen und Feinwaagen befanden, fünf auf Matratzen schlafende Personen angetroffen, denen nur vier Schrankabtrennungen zur Verfügung standen. Diese Umstände hätten es geboten, sich mit der vom Angeklagten behaupteten Zwecksetzung der Wohnung, für den Mitangeklagten G. eine dauerhafte Bleibe in Deutschland zu bilden, auseinanderzusetzen.

b) Zwar hat die Strafkammer ausdrücklich eine Gesamtwürdigung der Beweise vorgenommen. Dabei hat das Landgericht aber den wesentlichen belastenden Umstand nicht gewürdigt, dass auf einer Verpackung von Betäubungsmitteln die Fingerabdrücke des Angeklagten nachgewiesen werden konnten. Dies lag jedoch schon deshalb besonders nah, weil der Angeklagte nach den Feststellungen selbst keine Drogen konsumierte und sich nach seiner Einlassung gegenüber dem Mitangeklagten G. von Drogengeschäften distanziert haben will.

3. Der Senat kann nicht ausschließen, dass die Strafkammer bei rechtsfehlerfreier Würdigung der Beweise zu durchgreifenden Zweifeln an der Sachverhaltsdarstellung des Angeklagten gelangt und dessen Einlassung - auch im Hinblick auf die Möglichkeit einer Strafbarkeit wegen Besitzes von Betäubungsmitteln - als Schutzbehauptung eingeordnet hätte.

HRRS-Nummer: HRRS 2017 Nr. 703

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede