HRRS-Nummer: HRRS 2017 Nr. 927
Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 465/16, Beschluss v. 13.06.2017, HRRS 2017 Nr. 927
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Erfurt vom 19. Mai 2016 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Jugendkammer zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen in jeweils drei Fällen und wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen in weiteren vier Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt. Dagegen richtet sich die auf Verfahrensbeanstandungen und auf die Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten. Seine Revision hat mit einer Verfahrensrüge und der Sachrüge Erfolg.
Das Landgericht hat folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:
1. a) Der Angeklagte lebte seit dem Jahr 2001 zusammen mit seiner Lebensgefährtin in einem gemeinsamen Haushalt. Am 7. Juli 2007 heirateten er und seine Lebensgefährtin. Im Sommer 2009 nahmen sie die zum damaligen Zeitpunkt acht Jahre alte - spätere Geschädigte - Enkelin der Ehefrau des Angeklagten zur Erziehung und Betreuung auf. Wegen Erziehungs- und Umgangsproblemen erhielten sie in der Folgezeit Hilfe durch das Jugendamt. Im Februar/März 2014 und im April 2015 wurde die Geschädigte wegen Streitigkeiten zwischen ihr und dem Angeklagten kurzfristig durch das Jugendamt in Obhut genommen; sie kehrte aber jeweils wieder in den gemeinsamen Haushalt zurück. Am 7. Juli 2015 begab sich die Geschädigte freiwillig in die Kinderund Jugendpsychiatrie, wo sie sich hinsichtlich der dem Verfahren zugrundeliegenden Taten offenbarte.
Im Zeitraum zwischen Herbst 2013 und Juli 2015 kam es an nicht mehr feststellbaren Tagen zu insgesamt sieben Taten: In der Gartenlaube leckte der Angeklagte mit seiner Zunge am unbedeckten Geschlechtsteil der sexuell unerfahrenen Geschädigten (Fall II. 1. der Urteilsgründe). Einen Vibrator, auf dem der Angeklagte zuvor Gleitgel aufgetragen hatte, führte er bei der Geschädigten einmal anal (Fall II. 2. der Urteilsgründe) und in einem anderen Fall - für die Geschädigte schmerzhaft - vaginal ein (Fall II. 3. der Urteilsgründe). Der Angeklagte versuchte in zwei weiteren Fällen mit seinen Penis bei der Geschädigten vaginal einzudringen, was ihm aufgrund der Anspannung des Kindes nicht gelang; in einem Fall befriedigte er sich sodann selbst und ejakulierte auf dessen Bauch (Fälle II. 4. und II. 5. der Urteilsgründe). Nach Aufforderung befriedigte die Geschädigte den Angeklagten mit der Hand bis zum Samenerguss (Fall II. 6. der Urteilsgründe). Innerhalb des Tatzeitraumes vollzog der Angeklagte mit der Geschädigten den Analverkehr. Danach sagte er ihr, dass sie niemandem davon erzählen solle, weil er sonst dafür bestraft werde (Fall II. 7. der Urteilsgründe).
b) Die Geschädigte offenbarte sich an einem zeitlich nicht einzuordnenden Tag ohne nähere Details einer gleichaltrigen Freundin. Während ihres Aufenthaltes in der Kinder- und Jugendpsychiatrie äußerte sie sich am 31. August 2015 gegenüber einer dort tätigen Krankenschwester, auch ohne konkrete Angaben über das Geschehene zu machen; „ihren Opa“ wolle sie nicht anzeigen. Am 8. September 2015 wurde die Polizei von Seiten der Einrichtung informiert. Am 10. und 14. September erfolgten polizeiliche Vernehmungen der Geschädigten, in denen sie „umfangreiche Angaben“ zu den Taten machte. Anlässlich der Durchsuchung der Wohnung und der Gartenlaube des Angeklagten wurden u.a. mehrere Vibratoren, ein Pornofilm und ein Mobiltelefon mit insgesamt 13 Fotos sichergestellt, auf denen ein Zungenkuss zwischen dem Angeklagten und der Geschädigten sowie Großaufnahmen der Brüste und des Vaginal- und Analbereich des Kindes zu sehen sind.
In der Folgezeit äußerte die Geschädigte „wiederholt große Angst, in einem Heim untergebracht zu werden“ und wollte deswegen in den Haushalt ihrer Großmutter zurückkehren. Am 27. September 2015 schrieb sie einen Brief an eine Ärztin der Kinder- und Jugendpsychiatrie, in dem sie erklärte, den Angeklagten zu Unrecht beschuldigt zu haben. Sie habe bemerkt, dass sie sich schon sehr oft widersprochen habe. Sie sage die Wahrheit lieber jetzt; „sie sage dies nicht nur, damit sie nicht ins Heim komme. Sie sei wütend auf Opa gewesen und habe aus Rache die Behauptungen aufgestellt“. Am 1. Oktober 2015 nahm die Geschädigte ihre Angaben aus dem Brief vom 27. September 2015 zurück. „Sie habe sich sehr unter Druck gefühlt, weil ihre Oma zu ihr gesagt habe, sie würde für immer weggehen, wenn die Vorwürfe gegen den Angeklagten wahr seien. Tatsächlich seien ihre Angaben bei der Polizei über den sexuellen Missbrauch durch den Angeklagten wahr“. Am 24. November 2015 wurde sie richterlich vernommen; die Geschädigte machte dort „erneut detaillierte Angaben“ zu den sexuellen Übergriffen.
2. Der Angeklagte hat die Taten bestritten. Er habe ein freundschaftliches Verhältnis zu der Geschädigten gehabt. Auseinandersetzungen habe es indes auch gegeben, die regelmäßig Strafen nach sich gezogen hätten. „Es habe keine Woche ohne Strafe gegeben“. Die auf seinem Mobiltelefon befindlichen Fotos habe er teilweise auf Verlangen der Geschädigten gefertigt; wie die weiteren Fotos, die er nicht gemacht habe, auf sein Mobiltelefon „gelangt seien, könne er sich nicht erklären. Sein Mobiltelefon habe oft offen herumgelegen“. Die Geschädigte habe durchaus Zugang zu seinem Mobiltelefon gehabt.
Das Landgericht hat seine Überzeugung von dem festgestellten Tatgeschehen im Rahmen einer Gesamtwürdigung der erhobenen Beweise maßgeblich auf die Angaben der Geschädigten gestützt. Deren Angaben entsprächen einem tatsächlichen Erleben und seien glaubhaft.
1. Die zulässige Rüge einer Verletzung des § 261 StPO wegen Nichtberücksichtigung des Ergebnisses einer verlesenen gynäkologischen Untersuchung ist begründet. Das Landgericht hat sich insoweit nicht mit allen erhobenen Beweisen auseinandergesetzt und daher seine Überzeugung nicht aus dem vollständigen Inhalt der Beweisaufnahme geschöpft. Dem liegt folgender Verfahrensgang zugrunde:
Am 5. Hauptverhandlungstag verlas der Vorsitzende den gynäkologischen Befund des k. s N. vom 28. September 2015 hinsichtlich der Geschädigten. Der - im Übrigen - unauffällige Befund stellte keinerlei Verletzungen und u.a. ein intaktes Hymen fest. Diesen Umstand hat das Landgericht nicht verwertet.
Die Revision macht zu Recht geltend, dass der Tatrichter dieses Beweisergebnis in den Urteilsgründen mit Blick darauf hätte erörtern müssen, ob dieser Umstand der Glaubhaftigkeit der Aussage der Geschädigten entgegenstehe. Denn nach ihrer Aussage, die mit dem Befund nicht ohne Weiteres vereinbar ist, habe der Angeklagte ihr im Fall II. 3. der Urteilsgründe - für sie schmerzhaft - einen Vibrator vaginal eingeführt. Soweit der Generalbundesanwalt ausführt, dem gynäkologischem Befund käme kein erörterungsbedürftiger Beweiswert zu, weil es „(allgemein) anerkannt“ ist, „dass ein Eindringen in die Vagina ohne Verletzungen der Jungfernhaut keine Seltenheit“ sei, bleibt dies notwendigerweise spekulativ. Auch wenn es möglich ist, einen vollendeten Beischlaf ohne Verletzung der Jungfernhaut auszuführen, hätte es einer Auseinandersetzung mit der Frage bedurft, ob auch im vorliegenden Fall die (für die Geschädigte schmerzhafte) vaginale Einführung eines - nicht näher spezifizierten - Vibrators ohne Verletzung des Hymens möglich ist (vgl. auch BGH, Urteil vom 4. März 1960 - 4 StR 31/60, BGHSt 14, 162, 164; Beschluss vom 24. Juni 2008 - 3 StR 169/08).
Diese nicht unbedeutende Indiztatsache könnte erhebliches Gewicht für die Beurteilung der Glaubhaftigkeit der Aussage der Nebenklägerin insgesamt haben, namentlich auch im Hinblick auf deren ambivalentes Verhalten in der Vergangenheit sowie auf weitere vom Landgericht erwähnte, jedoch als letztlich nicht gravierend angesehene Besonderheiten.
Das Schweigen der Urteilsgründe zu diesem für die Beweiswürdigung möglicherweise nicht unbedeutenden Beweisergebnis ist rechtsfehlerhaft und verstößt gegen § 261 StPO. Dass das Urteil auf dem Rechtsfehler beruht, kann nicht ausgeschlossen werden.
2. Auch die Sachrüge hat Erfolg. Die Beweiswürdigung hält - auch unter Berücksichtigung des beschränkten revisionsgerichtlichen Prüfungsumfangs (vgl. BGH, Urteil vom 18. September 2008 - 5 StR 224/08, NStZ 2009, 401, 402) - sachlichrechtlicher Überprüfung nicht stand.
a) Die Beweiswürdigung ist Sache des Tatgerichts. Ihm allein obliegt es, das Ergebnis der Hauptverhandlung festzustellen und zu würdigen (Senat, Urteil vom 6. April 2016 - 2 StR 408/15 mwN). Seine Schlussfolgerungen brauchen nicht zwingend zu sein, es genügt, dass sie möglich sind (Senat, aaO). Die revisionsgerichtliche Prüfung ist darauf beschränkt, ob dem Tatgericht Rechtsfehler unterlaufen sind. Das ist in sachlichrechtlicher Hinsicht der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist oder gegen die Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt (st. Rspr.; vgl. Senat, Urteil vom 6. November 1998 - 2 StR 636/97, BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung 16; weitere Nachweise bei Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 60. Aufl., § 261 Rn. 3 und 38).
Darüber hinaus hat der Bundesgerichtshof in Fällen, in denen im Kern „Aussage gegen Aussage“ steht, besondere Anforderungen an die Tragfähigkeit einer zur Verurteilung führenden Beweiswürdigung formuliert. Die Urteilsgründe müssen in einem solchen Fall erkennen lassen, dass das Tatgericht alle Umstände, welche die Entscheidung zugunsten oder zuungunsten des Angeklagten zu beeinflussen geeignet sind, erkannt, in seine Überlegungen einbezogen (vgl. BGH, Beschluss vom 22. April 1987 - 3 StR 141/87, BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung 1; Senat, Urteil vom 3. Februar 1993 - 2 StR 531/92, BGHR StGB § 177 Abs. 1 Beweiswürdigung 15; Beschluss vom 10. Januar 2017 - 2 StR 235/16, StV 2017, 367, 368 mwN) und auch in einer Gesamtschau gewürdigt hat (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschluss vom 30. August 2012 - 5 StR 394/12, NStZ-RR 2013, 19; Senat, Beschluss vom 10. Januar 2017 - 2 StR 235/16, StV 2017, 367, 368 mwN). Dabei sind gerade bei Sexualdelikten die Entstehung und die Entwicklung der belastenden Aussage aufzuklären (vgl. BGH, Urteil vom 16. Mai 2002 - 1 StR 40/02, NStZ 2002, 656, 657).
b) Den danach an die Beweiswürdigung zu stellenden strengen Anforderungen ist das Landgericht nicht gerecht geworden. Seine Beweiswürdigung leidet unter Erörterungsmängeln.
Das Landgericht hat sich nicht näher damit auseinandergesetzt, dass die Geschädigte, in „Absprache“ mit einer sie betreuenden Psychotherapeutin „freiwillig“ in der Kinder- und Jugendpsychiatrie untergebracht wurde und die verfahrensgegenständlichen sexuellen Übergriffe während dieses Aufenthaltes „bekannt“ wurden. Bereits der Inhalt dieser „Absprache“ wird nicht mitgeteilt. Offen bleibt auch, ab wann und welche psychischen Probleme bei der Geschädigten, die von verschiedenen Zeugen beobachtetes selbstverletzendes Verhalten gezeigt hat, auftraten, und wann und warum die gegenüber der Psychotherapeutin geäußerten nicht näher erörterten Suizidgedanken auftraten. Inwieweit die jeweiligen Aussagen der Geschädigten, die zudem von mehreren Zeugen, u.a. auch von der Großmutter der Geschädigten - mit Beispielen belegt - als Mädchen beschrieben wird, das „in der Vergangenheit schon mehrfach die Unwahrheit gesagt habe“, von möglicherweise bestehenden „psychischen Problemen“ bzw. von den dargestellten „Verhaltensauffälligkeiten“ geprägt sein könnten, erschließt sich dem Senat mangels näherer Erörterung durch das Landgericht nicht.
c) Der Senat kann nicht ausschließen, dass der Tatrichter bei Einhaltung der verfahrensrechtlich gebotenen Erörterungspflichten zu einer anderen Beurteilung der Glaubhaftigkeit der Angaben der Geschädigten gelangt wäre. Die Sache bedarf daher der Verhandlung und Entscheidung durch einen neuen Tatrichter.
HRRS-Nummer: HRRS 2017 Nr. 927
Externe Fundstellen: NStZ-RR 2017, 319; StV 2018, 202
Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede