HRRS-Nummer: HRRS 2017 Nr. 62
Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 135/16, Urteil v. 24.08.2016, HRRS 2017 Nr. 62
Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Marburg vom 10. Dezember 2015 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das Landgericht hat den Angeklagten - nach Abtrennung des Verfahrens hinsichtlich der Fälle 1 und 2 der Anklageschrift - vom Vorwurf des sexuellen Missbrauchs eines Widerstandsunfähigen in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch eines Kindes zum Nachteil des Zeugen D. (Fall 3) und vom Vorwurf des sexuellen Missbrauchs eines Widerstandsunfähigen (Fall 4) sowie einer Körperverletzung (Fall 5) zum Nachteil des Zeugen V. freigesprochen. Hiergegen richtet sich die Revision der Staatsanwaltschaft mit der Sachrüge. Das Rechtsmittel hat Erfolg.
1. Die Anklageschrift legte dem Angeklagten zur Last, er habe an einem Abend zwischen dem 9. und 12. Mai 2008 in seiner Wohnung dem schlafenden Zeugen S. die Shorts heruntergezogen und sich nackt auf ihn gelegt. Anschließend habe er sich bis zum Samenerguss am Körper des Zeugen gerieben (Fall 1). Bei einer weiteren Übernachtung des Zeugen S. in der Wohnung des Angeklagten habe dieser in einer Nacht in der Zeit zwischen dem 12. Oktober 2007 und dem 12. Mai 2008 dem Schlafenden die Jogginghose heruntergezogen und sei mit seinem Penis in dessen Anus eingedrungen. Als der Zeuge aufgeschreckt sei, habe er diesen niedergedrückt, festgehalten und den analen Geschlechtsverkehr vollzogen (Fall 2). Ende 2009 habe der Angeklagte dem schlafenden 13-jährigen D. an den Penis gefasst, diesen dort gestreichelt und versucht ihm die Shorts herunterzuziehen, bis der Zeuge ihn weggeschoben habe (Fall 3). Im Herbst 2012 habe sich der Angeklagte auf den nach einer Feier in seiner Wohnung schlafenden Zeugen V. gelegt, um sich sexuell zu erregen. Als der Zeuge aufgewacht sei, habe er ihn festgehalten und sich weiter an ihn gedrängt, bis es dem Zeugen gelungen sei, den Angeklagten wegzustoßen und aus dem Zimmer zu drängen (Fall 4). Danach habe der Angeklagte das Zimmer erneut betreten, den Zeugen gegen die Wand gedrückt und ihm einen Schlag ins Gesicht versetzt (Fall 5).
2. Das Landgericht hat das Verfahren zu den Fällen 1 und 2 der Anklageschrift abgetrennt, um eine aussagepsychologische Begutachtung der Angaben des Zeugen S. herbeizuführen. Von den übrigen Vorwürfen (Fälle 3 bis 5 der Anklageschrift) hat es den Angeklagten freigesprochen.
Das Landgericht hat festgestellt, dass der Angeklagte seine spätere Ehefrau M. im Jahr 2004 kennenlernte, ab April 2006 bei deren Eltern wohnte und im März 2007 eine eigene Wohnung bezog. Dort erhielt er regelmäßig Besuch von dem damals 16-jährigen Zeugen S., zu dem er ein enges persönliches Verhältnis aufbaute. Im Januar 2008 zog er gemeinsam mit M. in eine Wohnung. Gleichwohl setzte der Angeklagte die Beziehung zu S. fort und übernachtete oft zusammen mit diesem Jugendlichen auf der Couch im Wohnzimmer, während M. im Schlafzimmer schlief. Im Juli 2008 zog der Angeklagte nach einem Streit mit M. aus dieser Wohnung aus; zugleich endete sein Kontakt zu S. .
Am 22. November 2010 heirateten der Angeklagte und M. Jedoch kam es bald erneut zu Streitigkeiten und auch zu gerichtlichen Auseinandersetzungen, vor allem um das Sorgerecht für den am 13. Mai 2008 geborenen Sohn J. In einem familiengerichtlichen Verfahren behauptete die Ehefrau, sie habe den Angeklagten bei sexuellen Handlungen mit dem Kind angetroffen. Dafür berief sie sich auch auf S. als Zeugen. In einem Strafverfahren gegen den Angeklagten wegen des Vorwurfs des sexuellen Missbrauchs des Kindes J. berichtete M. davon, V. habe ihr gesagt, dass der Angeklagte sich einmal auf ihn gelegt habe; er habe sich wehren können und dem Angeklagten ein blaues Auge geschlagen. Ferner habe S. berichtet, dass der Angeklagte versucht habe, auch ihn anzufassen. Die Zeugin Mo. berichtete vom Hörensagen über 'entsprechende Angaben des Zeugen V. Die Zeugen V. und D. machten danach bei polizeilichen Vernehmungen Aussagen im Sinne der Anklagevorwürfe gegen den Angeklagten.
Zum Vorwurf einer Tat zum Nachteil des Zeugen D. (Fall 3) hat das Landgericht jedoch nur festgestellt, dass dieser Zeuge in der fraglichen Zeit ein Praktikum bei dem Angeklagten absolvierte und in seiner Wohnung übernachtete. Hinsichtlich der Vorwürfe von Taten zum Nachteil des Zeugen V. (Fälle 4 und 5) ist es davon ausgegangen, dass es zwischen dem Angeklagten und diesem Zeugen in der fraglichen Nacht zu einem Streit gekommen sei. Die eine Tatbegehung bestreitende Einlassung des Angeklagten sei aber nicht zu widerlegen. Der Zeuge V. habe zwar bei einer polizeilichen Vernehmung und zuletzt in der Hauptverhandlung im Sinne der Anklagevorwürfe ausgesagt. Zwischenzeitlich habe er aber dem Angeklagten und dessen Verteidigerin erklärt, dass seine Behauptungen unzutreffend seien. Auch in der Hauptverhandlung habe er dies zunächst erklärt, sei aber nach Vorhalten zu seiner ursprünglichen Zeugenaussage zurückgekehrt. Die Mutter des Zeugen V., die ihren Sohn am Morgen nach der Feier in der Wohnung des Angeklagten abgeholt habe, habe durchaus wahrgenommen, dass es Streit gegeben habe. Sie habe sich jedoch nicht daran erinnern können, dass der Angeklagte ein „blaues Auge“ gehabt habe. Der Zeuge D. habe im Sinne des Anklagevorwurfs ausgesagt, er habe sich aber in Widersprüche verwickelt. Andere Zeugen, die eigene Wahrnehmung zum Tatgeschehen gemacht hätten, stünden nicht zur Verfügung. Die Zeugin M. habe ein erhebliches Motiv zur Falschbelastung des Angeklagten. Es sei nicht auszuschließen, dass die jugendlichen Zeugen V. und D. kritiklos falsche Angaben von ihr übernommen hätten. Sonstige Beweise lägen nicht vor. „Insbesondere ließe sich aus einem gedachten Schuldspruch in dem Verfahren“ wegen der angeklagten Taten „zum Nachteil des Zeugen S. nichts für die anderen Anklagepunkte herleiten, sodass der Ausgang dieses Verfahrens nicht abzuwarten war“.
Die Revision der Staatsanwaltschaft ist begründet. Sie beanstandet zu Recht das Vorliegen von Rechtsfehlern bei der Beweiswürdigung.
1. Das Revisionsgericht muss es grundsätzlich hinnehmen, wenn das Tatgericht einen Angeklagten freispricht, weil es Zweifel an seiner Täterschaft nicht zu überwinden vermag. Die Beweiswürdigung ist Sache des Tatgerichts; die revisionsgerichtliche Prüfung beschränkt sich darauf, ob ihm Rechtsfehler unterlaufen sind, weil die Beweiswürdigung lückenhaft, in sich widersprüchlich oder unklar ist, gegen Denkgesetze oder Erfahrungssätze verstößt oder wenn an die zur Verurteilung erforderliche Gewissheit übertriebene Anforderungen gestellt worden sind (vgl. BGH, Urteil vom 12. Februar 2015 - 4 StR 420/14, NStZ-RR 2015, 148 f.). Insbesondere ist es weder im Hinblick auf den Zweifelssatz noch sonst geboten, zugunsten des Angeklagten von Annahmen auszugehen, für deren Vorliegen keine konkreten tatsächlichen Anhaltspunkte vorhanden sind. Unterstellungen zugunsten eines Angeklagten sind nur rechtsfehlerfrei, wenn hierfür reale Anknüpfungspunkte bestehen (vgl. BGH, Urteil vom 3. Juni 2015 - 5 StR 55/15, NStZ-RR 2015, 255 f.). Ist eine Mehrzahl von Erkenntnissen zum Tatvorwurf vorhanden, so ist eine Gesamtwürdigung vorzunehmen. Erst diese entscheidet darüber, ob der Richter die Überzeugung von der Schuld des Angeklagten gewinnt. Auch wenn keine der Indiztatsachen allein zum Nachweis der Tatbegehung ausreichen würde, besteht die Möglichkeit, dass sie in ihrer Gesamtschau dem Tatrichter die entsprechende Überzeugung vermitteln. Beweisanzeichen können in einer Gesamtschau wegen ihrer Häufung und gegenseitigen Durchdringung die Überzeugung von der Richtigkeit eines Vorwurfs begründen (vgl. BGH, Urteil vom 2. Dezember 2015 - 1 StR 292/15). Der genaue Beweiswert einzelner Indizien ergibt sich gegebenenfalls erst aus einem Zusammenhang mit anderen Indizien, weshalb sie dann zueinander in Beziehung zu setzen sind.
2. Die Urteilsgründe lassen besorgen, dass das Landgericht diese Grundsätze nicht ausreichend berücksichtigt hat.
Die Überlegung, dass selbst „aus einem gedachten Schuldspruch“ wegen der Vorwürfe von Taten zum Nachteil des Zeugen S. in dem abgetrennten Verfahren zu den Fällen 1 und 2 der Anklageschrift nicht dazu ausreichen könnte, sich von der Richtigkeit der übrigen Vorwürfe zu überzeugen, greift zu kurz. Nicht auf einen möglichen Schuldspruch, sondern auf konkrete Tatsachen zu den Umständen vergleichbarer Taten zum Nachteil des Zeugen S. und deren Nachweis würde es ankommen, wenn im Rahmen einer Gesamtschau geprüft würde, ob der Angeklagte auch die ihm vorgeworfenen Taten zum Nachteil der Zeugen V. und D. begangen hat. In der Gesamtschau aller Umstände wäre dann gegebenenfalls zu berücksichtigen, dass der Angeklagte nach dem Anklagevorwurf in vergleichbarer Art und Weise sexuelle Übergriffe gegenüber drei männlichen Jugendlichen begangen haben soll. Dabei kann die Begehung von Taten zum Nachteil eines der Zeugen ein die anderen Zeugenaussagen ergänzendes Indiz für die Begehung von weiteren Taten darstellen. Auch als Indiztatsache kann eine andere Tat allerdings nur dann zum Nachteil eines Angeklagten gewertet werden, wenn sie prozessordnungsgemäß festgestellt ist (vgl. Senat, Beschluss vom 21. April 2016 - 2 StR 435/15). Umgekehrt kann ihre Bedeutsamkeit nicht pauschal für den gedachten Fall ihrer Feststellung ausgeschlossen werden, wenn nicht zugleich erläutert wird, dass kein sachlicher Zusammenhang zwischen verschiedenen Vorwürfen gegen den Angeklagten wegen vergleichbarer Delikte gegen unterschiedliche Opfer besteht. Eine solche Erläuterung hat das Landgericht versäumt, obwohl nach den Feststellungen möglicherweise motivationale oder sonstige situative Zusammenhänge bestehen könnten.
Schließlich hat das Landgericht nicht in einer Gesamtschau gewürdigt, dass sich die Aussagen der Zeugen zu verschiedenen Taten vergleichbarer Art, sowie die Angaben der gehörten Zeuginnen vom Hörensagen als - wenngleich nur tendenzielle - Bestätigung in ihrer Indizbedeutung wechselseitig beeinflussen können. Seine Annahme, dass die angeblichen Tatopfer jeweils durch die Ehefrau des Angeklagten, die ein Motiv zur Falschbelastung gehabt haben mag, beeinflusst sein könnten, ist nicht durch konkrete Umstände belegt. Deshalb ist die Annahme, die Jugendlichen könnten - einzeln oder gemeinsam - falsche Angaben der inzwischen geschiedenen Ehefrau kritiklos übernommen haben, in dieser Allgemeinheit nicht nachzuvollziehen. Dies gilt auch deshalb, weil die Unrichtigkeit der Angaben der Ehefrau des Angeklagten im Ermittlungsverfahren wegen sexuellen Missbrauchs zum Nachteil des ehelichen Sohnes J. nicht festgestellt ist und konkrete Gründe für Zweifel an der Richtigkeit dieser Angaben im Urteil nicht erörtert wurden. Die beweisrechtlich bedeutsame Frage der Eigenständigkeit oder gegenseitigen Abhängigkeit der Indizien (vgl. BGH, Urteil vom 25. Januar 1995 - 5 StR 664/94), die sich aus den Missbrauchsberichten verschiedener Zeugen über jeweils zu ihrem Nachteil begangene Taten des Angeklagten ergeben könnten, ist von der Strafkammer nicht erkennbar in den Blick genommen worden. Die inzwischen geschiedene Ehefrau hatte dem Angeklagten auch sexuelle Handlungen zum Nachteil des gemeinsamen Kindes vorgeworfen. Selbst wenn das unzutreffend wäre, so enthielten ihre Behauptungen - bewusst oder unbewusst - noch keine falschen Angaben zu sexuellen Handlungen zum Nachteil der Zeugen S., V. und D. Eine gegebenenfalls falsche Behauptung der Ehefrau im Sorgerechtsstreit könnte dagegen nach einer Alternativhypothese ihrerseits durch zutreffende Missbrauchsberichte der Zeugen motiviert gewesen sein. Vom Landgericht wäre jedenfalls nicht alleine die Hypothese zu erwägen gewesen, dass ein falscher Bericht der Ehefrau über sexuellen Missbrauch des ehelichen Kindes auch die Zeugen jeweils zu falschen Vorwürfen sexueller Handlungen des Angeklagten zu ihrem Nachteil motiviert haben konnte.
HRRS-Nummer: HRRS 2017 Nr. 62
Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede