HRRS-Nummer: HRRS 2017 Nr. 146
Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 2 ARs 386/15, Beschluss v. 07.11.2016, HRRS 2017 Nr. 146
Die beabsichtigte Entscheidung des 3. Strafsenats widerspricht der Rechtsprechung des 2. Strafsenats, der an dieser festhält.
1. Der 3. Strafsenat beabsichtigt zu entscheiden:
„Der Tatrichter übt sein Ermessen bei der Entscheidung über die Strafrahmenverschiebung nach §§ 21, 49 Abs. 1 StGB grundsätzlich nicht rechtsfehlerhaft aus, wenn er im Rahmen einer Gesamtwürdigung der schuldmindernden Umstände die Versagung der Strafrahmenmilderung allein auf den Umstand stützt, dass die erhebliche Verminderung der Schuldfähigkeit des Täters auf von diesem verschuldeter Trunkenheit beruht.“ Er hat daher mit Beschluss vom 15. Oktober 2015 (3 StR 63/15) bei den anderen Strafsenaten angefragt, ob deren Rechtsprechung dem entgegensteht und ob - sollte dies der Fall sein - daran festgehalten wird.
2. Der Senat versteht den Anfragebeschluss so, dass der 3. Strafsenat der Auffassung ist, dass jede verschuldete Trunkenheit eines Angeklagten in einem Maße schulderhöhend wirkt, dass allein deswegen die Strafrahmenmilderung nach §§ 21, 49 Abs. 1 StGB versagt werden kann und es dabei nicht auf das Vorliegen einschlägiger Vorerfahrungen des Täters oder sonst das Risiko erhöhendes Verhalten ankommt. Denn der 3. Strafsenat sieht im Ergebnis keinen Ermessensfehler darin, dass das Tatgericht dem Angeklagten die fakultative Strafrahmenmilderung nach §§ 21, 49 Abs. 1 StGB allein deswegen versagt hat, weil dieser sich schuldhaft durch Alkoholgenuss in den Zustand erheblich verminderter Schuldfähigkeit versetzt hat, obwohl das Landgericht Feststellungen zu einer vorhersehbar alkoholbedingten Erhöhung des Risikos der Begehung von Straftaten aufgrund persönlicher oder situativer Verhältnisse des Einzelfalls nicht getroffen hat.
3. Der beabsichtigten Entscheidung des 3. Strafsenats steht Rechtsprechung des 2. Strafsenats entgegen (vgl. Senat, Urteil vom 15. Februar 2006 - 2 StR 419/05 -, BGHR StGB § 21 Strafrahmenverschiebung 40; Beschluss vom 7. September 2015 - 2 StR 350/15, NStZ-RR 2016, 74); an dieser hält er fest.
Ob bei Vorliegen verminderter Schuldfähigkeit im Sinne des § 21 StGB eine Strafrahmenmilderung vorzunehmen oder zu versagen ist, hat der Tatrichter unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden (Senat, Beschluss vom 7. September 2015 - 2 StR 350/15, aaO); seine Wertung ist vom Revisionsgericht in der Regel hinzunehmen, wenn sie erkennbar auf einer vollständigen Tatsachengrundlage beruht (Senat, Urteil vom 15. Februar 2006 - 2 StR 419/05, BGHR StGB § 21 Strafrahmenverschiebung 40 mwN). Eine schematische Behandlung der Frage einer fakultativen Strafrahmenmilderung allein wegen Vorliegens eines selbst zu verantwortenden Alkoholrausches hält der Senat daher nicht für angebracht; vielmehr ist eine differenzierte, auf eine Verschuldensprüfung im Einzelfall abstellende Lösung vorzuziehen.
Danach spricht es bei selbst zu verantwortender Trunkenheit des Täters in der Regel zwar gegen eine Strafrahmenverschiebung, wenn sich aufgrund der persönlichen oder situativen Verhältnisse des Einzelfalls infolge der Alkoholisierung das Risiko der Begehung von Straftaten vorhersehbar signifikant erhöht hat. Umgekehrt rechtfertigt aber der Umstand, dass die erhebliche Verminderung der Schuldfähigkeit des Täters auf von diesem verschuldeter Trunkenheit beruht, für sich allein die Versagung einer Strafrahmenverschiebung gemäß § 21, § 49 Abs. 1 StGB nicht. Diese Erwägungen gelten nach Auffassung des Senats gleichermaßen im Rahmen der Prüfung eines unbenannten minder schweren Falls nach § 213 StGB.
Der Tatrichter hat über die vom Gesetz eingeräumte Möglichkeit einer Strafrahmenmilderung auf Grund einer Gesamtabwägung aller schuldrelevanten Gesichtspunkte zu entscheiden, wobei ihm bei der Bewertung der für die Feststellung einer vorwerfbaren Vorhersehbarkeit relevanten objektiven und subjektiven Umstände ein weiter Ermessensspielraum eingeräumt ist. Im Rahmen dieser Ermessensentscheidung ist zu berücksichtigen, dass der Schuldgehalt der Tat bei einer erheblichen Verminderung der Schuldfähigkeit in aller Regel vermindert ist (Senat, Beschluss vom 7. September 2015 - 2 StR 350/15; Urteil vom 24. August 2016 - 2 StR 504/15). Zwar kann die Minderung der Tatschuld durch schulderhöhende Umstände kompensiert werden. Dies kommt etwa in Betracht, wenn der Täter die Begehung von Straftaten vorausgesehen hat oder hätte voraussehen können, weil er aus früheren Erfahrungen weiß, dass er unter Alkohol- oder Drogenkonsum zur Begehung von Straftaten neigt (Senat, Beschluss vom 7. September 2015 - 2 StR 350/15, NStZ-RR 2016, 74) oder sich für ihn aus anderen Umständen ergibt, dass es bei Alkoholisierung zu Straftaten kommen könnte (Senat, Urteile vom 15. Februar 2006 - 2 StR 419/05, BGHR StGB § 21 Strafrahmenverschiebung 40 und vom 24. August 2016 - 2 StR 504/15).
Die Ansicht des anfragenden 3. Strafsenats, es liege kein Ermessensfehler darin, dass das Tatgericht dem Angeklagten die fakultative Strafrahmenmilderung nach §§ 21, 49 Abs. 1 StGB allein deswegen versagt hat, weil dieser sich schuldhaft durch Alkoholgenuss in den Zustand erheblich verminderter Schuldfähigkeit versetzt hat, berücksichtigt nicht, dass das Tatgericht auf Grund einer Gesamtabwägung aller schuldrelevanten Gesichtspunkte zu entscheiden hat. Nicht nachzuvollziehen vermag der Senat daher, wie eine „Gesamtwürdigung“ aller relevanten Gesichtspunkte - wie in der dem Anfragebeschluss zugrunde liegenden Entscheidung - ermessensfehlerfrei vorgenommen worden sein sollte, wenn der Tatrichter die Versagung der Strafrahmenmilderung allein (ausschließlich) auf einen Umstand gestützt hat.
Die der beabsichtigten Entscheidung des 3. Strafsenats zugrunde liegende Rechtsauffassung greift mit Blick auf den Schuldgrundsatz zu kurz (vgl. LK/Schöch, 12. Aufl., § 21 Rn. 56; Lackner/Kühl, 28. Aufl., § 21 Rn. 4a mwN), insbesondere lässt sie unberücksichtigt, dass jede Schulderhöhung wenigstens (einfache) Fahrlässigkeit als geringste Schuldform voraussetzt. Aus diesem Grund ist für eine Versagung der Strafrahmenmilderung zumindest Fahrlässigkeit des Täters, also Vorhersehbarkeit und Vermeidbarkeit bezüglich eines rechtswidrigen Ereignisses in objektiver und subjektiver Hinsicht erforderlich, etwa Vorerfahrungen mit vergleichbaren Straftaten oder die Alkoholisierung in einer Umgebung, in der sich aufgrund der persönlichen und situativen Verhältnisse des Einzelfalles das Risiko der Begehung von Straftaten erhöht hat (BGH, Urteil vom 17. August 2004 - 5 StR 93/04, BGHSt 49, 239, 242). Das allgemeinkundige Wissen, dass eine alkoholische Berauschung generell die Hemmschwelle gegenüber sozial auffälligen und aggressiven Verhalten zu senken pflegt, reicht insoweit nicht (vgl. Senat, Urteil vom 24. August 2016 - 2 StR 504/15).
Damit kann eine Strafrahmenmilderung wegen eigenverantwortlich herbeigeführter Trunkenheit nach § 21, § 49 Abs. 1 StGB nur dann abgelehnt bzw. ein unbenannter minder schwerer Fall im Sinne von § 213 StGB verneint werden, wenn im Rahmen der Ermessensentscheidung geprüft und berücksichtigt wurde, ob sich aufgrund der persönlichen und situativen Verhältnisse des Einzelfalls das Risiko der Begehung von Straftaten infolge der Alkoholisierung vorhersehbar signifikant erhöht hat. Insoweit schließt sich der Senat den Ausführungen des 5. Strafsenats in der genannten Entscheidung an.
HRRS-Nummer: HRRS 2017 Nr. 146
Externe Fundstellen: NStZ-RR 2017, 70
Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede