HRRS-Nummer: HRRS 2017 Nr. 457
Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner
Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 342/15, Urteil v. 14.12.2016, HRRS 2017 Nr. 457
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Darmstadt vom 31. März 2015 aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das Landgericht hat den Angeklagten S. K. wegen Betrugs zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und neun Monaten verurteilt. Dagegen richtet sich die auf Verfahrensbeanstandungen und auf die Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten.
Die Überprüfung des Urteils aufgrund der Sachrüge hat keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben. Das Rechtsmittel hat jedoch mit einer Verfahrensrüge Erfolg.
Nach den Feststellungen gründete der Angeklagte entsprechend eines gemeinsam mit seinem inzwischen verstorbenen Vater K. K. gefassten Tatplan verschiedene Firmen, um Versicherungsnehmer und Bausparer durch entsprechend geschulte gutgläubige Vertriebsmitarbeiter dazu zu veranlassen, ihre Kapitallebensversicherungen, Rentenversicherungen oder Bausparverträge zu kündigen und mit den freigewordenen Geldern eine „Vermögensanlage/Versicherung“ bei einer der Firmen des Angeklagten zu erwerben. Den als Kunden akquirierten Versicherungsnehmern und Bausparern wurde dabei wahrheitswidrig vorgespiegelt, dass die eingezahlten Gelder vollständig in hochpreisige Immobilien investiert und ihnen der vereinnahmte Rückkaufswert einschließlich einer durch diese Immobiliengeschäfte erwirtschafteten hohen Rendite nach Ende einer vertraglich vereinbarten Laufzeit zurückgezahlt würde. Im Vertrauen auf diese Angaben erwarben im verfahrensgegenständlichen Zeitraum von März 2009 bis Ende 2010 insgesamt zehn Personen Vermögensanlagen. Der Angeklagte, der für Finanzen und Zahlungsflüsse zuständig war, Kontovollmacht besaß, die Verträge zeichnete und in alle wesentlichen Geschäftsentscheidungen eingebunden war, vereinnahmte im verfahrensgegenständlichen Zeitraum gemeinsam mit seinem mittlerweile verstorbenen Vater K. K. und den nicht revidierenden Mitangeklagten mit Hilfe dieses provisionsbasierten Vertriebssystems Kundengelder in Höhe von insgesamt mehr als 600.000 Euro, die er vorgefasster Absicht gemäß im Wesentlichen zur Deckung der Vertriebskosten des Firmengeflechts, insbesondere zur Ausschüttung zugesagter Provisionen und Gehälter, zur Finanzierung des Call-Centers sowie sonstiger Geschäftskosten, für den eigenen Lebensbedarf sowie zur Auszahlung und Ruhigstellung anderer Kunden verwendete. Investitionen in Immobilien erfolgten tatplangemäß lediglich in geringem Umfang und dienten dazu, Kunden und Vertriebsmitarbeiter über die tatsächliche Verwendung der vereinnahmten Gelder zu täuschen.
Das Landgericht hat die Taten zum Nachteil der Geschädigten als uneigentliches Organisationsdelikt zusammengefasst und den Angeklagten zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und neun Monaten verurteilt.
Die Revision des Angeklagten hat mit der Verfahrensrüge einer Verletzung des § 338 Nr. 1 StPO Erfolg.
1. Dieser Rüge liegt im Wesentlichen folgendes Verfahrensgeschehen zugrunde:
a) Mit Verfügung vom 5. Februar 2015 bestimmte der Vorsitzende Termin zur Hauptverhandlung auf Donnerstag, den 5. März 2015 mit Fortsetzung am 10., 16., 19., 25. sowie am 26. März 2015. Der aufgrund der Schöffenliste für den 5. März 2015 zur Mitwirkung berufene Hauptschöffe S. teilte der Schöffengeschäftsstelle am 10. Februar 2015 mit, dass er „ab dem 25. März 2015 (Urlaub in den Niederlanden) verhindert“ sei. Auf fernmündliche Bitte der Mitarbeiterin der Schöffengeschäftsstelle, eine Buchungsbestätigung vorzulegen, teilte der Schöffe mit, dass er „sich im eigenen Ferienhaus“ aufhalte, „welches für die kommende Saison hergerichtet werden“ müsse. Daraufhin entband der Vorsitzende den Hauptschöffen vom Schöffendienst und veranlasste die Ladung der Hilfsschöffin Sa., die an der Hauptverhandlung teilnahm.
b) Eine Mitteilung der Gerichtsbesetzung gemäß § 222a StPO erfolgte bis zum Beginn der Hauptverhandlung nicht. Am ersten Hauptverhandlungstag stellte der Angeklagte nach erfolgter Belehrung gemäß § 243 Abs. 5 Satz 1 StPO den Antrag, die Hauptverhandlung gemäß § 222a Abs. 2 StPO für die Dauer von einer Woche zu unterbrechen, um der Verteidigung Gelegenheit zur Prüfung der Gerichtsbesetzung und zur Einsichtnahme in die entsprechenden Unterlagen zu geben. Nach Beratung wies die Strafkammer den Unterbrechungsantrag mit der Begründung zurück, sie sei ordnungsgemäß besetzt, die Hauptschöffen seien wegen Ortsabwesenheit verhindert, weswegen nach Anzeige ihrer Verhinderung die rangnächsten und in der Sitzung anwesenden Hilfsschöffen geladen worden seien.
c) Die Revision rügt, dass die Strafkammer in der Person der Hilfsschöffin Sa. nicht vorschriftsmäßig besetzt gewesen sei, weil die Entbindungsentscheidung des Vorsitzenden hinsichtlich des Hauptschöffen S. auf unzureichender Tatsachengrundlage erfolgt und dadurch das grundrechtsgleiche Recht des Angeklagten auf den gesetzlichen Richter verletzt worden sei.
d) Im Hinblick auf diese Verfahrensrüge hielt der Vorsitzende am 27. Juli 2015 in einem Aktenvermerk fest, dass sich der Schöffe S. in der Zeit vom 20. bis zum 28. März 2015 rund 350 km entfernt in Z. (V.) aufgehalten habe; die Urlaubsreise vor Ferienbeginn habe der „Herrichtung“ des Ferienhauses gedient, das ab dem 28. März 2015 an Gäste habe vermietet werden sollen. Außerdem habe am 21. März 2015 die jährliche Eigentümerversammlung in der Ferienanlage stattgefunden.
2. Die auch im Sinne von § 338 Nr. 1 Buchst. c StPO zulässige Verfahrensrüge hat Erfolg. Das erkennende Gericht war in der Person der Hilfsschöffin Sa. vorschriftswidrig besetzt (§ 338 Nr. 1 StPO). Die Entbindung des Hauptschöffen S. auf der Grundlage eines unzureichend ermittelten Sachverhalts deutet auf eine grundsätzliche Verkennung des grundrechtsgleichen Rechts des Angeklagten auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) hin und erweist sich deshalb als unvertretbar.
a) Die auf der Grundlage des § 77 Abs. 1 GVG in Verbindung mit § 54 Abs. 1 GVG erfolgte Entscheidung über die Entbindung des Hauptschöffen S. ist angesichts der ausdrücklichen gesetzlichen Regelung des § 54 Abs. 3 Satz 1 GVG, § 336 Satz 2 Alt. 1 StPO vom Revisionsgericht nicht auf ihre Richtigkeit, sondern nur darauf hin zu überprüfen, ob sie sich unter Berücksichtigung des Grundgedankens des § 54 GVG als unvertretbar und damit als objektiv willkürlich erweist (BGH, Beschluss vom 5. August 2015 - 5 StR 276/15, NStZ 2015, 714; Urteil vom 22. November 2013 - 3 StR 162/13, BGHSt 59, 75; Senat, Urteil vom 3. März 1982 - 2 StR 32/82, BGHSt 31, 3, 5). Willkür in diesem Sinne liegt freilich nicht erst bei einer bewussten Fehlentscheidung, sondern bereits dann vor, wenn die mit der Entbindung des Schöffen verbundene Bestimmung des gesetzlichen Richters grob fehlerhaft ist (Senat, aaO, BGHSt 31, 3, 5) und sich so weit vom Grundsatz des gesetzlichen Richters entfernt, dass sie nicht mehr gerechtfertigt werden kann (BVerfGE 23, 288, 320; Senat, Urteil vom 27. Oktober 1972 - 2 StR 105/70, BGHSt 25, 66, 71; KK-StPO/Gericke, 7. Aufl., § 338 Rn. 19).
b) Ob ein Schöffe auf seinen Antrag hin von der Dienstleistung entbunden werden kann, weil die Dienstleistung unzumutbar ist (vgl. § 54 Abs. 1 Satz 2 GVG), kann nur unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls entschieden werden.
aa) Zur Wahrung des Rechts des Angeklagten auf den gesetzlichen Richter ist jedoch ein strenger Maßstab anzulegen. Bedeutung und Gewicht des Schöffenamts verlangen, dass der Schöffe berufliche und private Interessen zurückstellt, wenn und soweit ihm dies möglich und zumutbar ist (BGH, Urteil vom 8. Dezember 1976 - 3 StR 363/76, NJW 1977, 443).
Insoweit bestehen nach gefestigter Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs „bedeutsame Unterschiede zwischen beruflichen Abhaltungsgründen und einem beabsichtigten Urlaub“ des Schöffen (BGH, aaO, Rn. 5). Berufliche Hinderungsgründe sind in aller Regel nicht geeignet, eine Verhinderung des Schöffen von der Dienstleistung zu begründen, weil dieser sich in der Wahrnehmung seiner beruflichen Aufgaben häufig wird vertreten lassen können und es sich in der Regel um eher „verhältnismäßig kurzfristige“ Verhinderungen handelt, denen durch die Möglichkeit einer Unterbrechung der Hauptverhandlung (§ 229 StPO) angemessen Rechnung getragen werden kann (BGH, aaO). Beide Möglichkeiten bestehen im Falle der Verhinderung infolge Urlaubs nicht oder jedenfalls nur selten (BGH, aaO). Aus diesen Gründen rechtfertigen berufliche Gründe nur ausnahmsweise die Annahme, dass dem Schöffen die Dienstleistung nicht zumutbar ist, während ein Urlaub in der Regel die Unzumutbarkeit der Schöffendienstleistung begründet.
bb) Über die Anerkennung der Unzumutbarkeit der Schöffendienstleistung aus beruflichen Gründen oder wegen Urlaubs hat der zur Entscheidung berufene Richter unter Abwägung aller Umstände des Einzelfalls, insbesondere unter Berücksichtigung der Belange des Schöffen, des Verfahrensstands und der voraussichtlichen Dauer des Verfahrens nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden (Senat, Urteil vom 4. Februar 2015 - 2 StR 76/14, NStZ 2015, 350; BGH, Beschluss vom 21. Juni 1978 - 3 StR 81/78, BGHSt 28, 61, 66).
cc) Zu Erkundigungen hinsichtlich des angegebenen Hinderungsgrundes ist der Vorsitzende nicht verpflichtet, wenn er die Angaben des Schöffen für glaubhaft hält (BGH, Urteil vom 22. Juni 1982 - 1 StR 249/81, NStZ 1982, 476).
dd) Die vom Vorsitzenden zu treffende Ermessensentscheidung ist aktenkundig zu machen (§ 54 Abs. 3 Satz 2 GVG). Dabei sind - zumindest in gedrängter Form - diejenigen Umstände zu dokumentieren, welche die Annahme der Unzumutbarkeit der Schöffendienstleistung tragen. Nur durch eine ausreichende Dokumentation der tragenden Erwägungen zum Zeitpunkt der Entscheidung über die Entbindung ist dem Rechtsmittelgericht in Fällen, in denen die Unzumutbarkeit der Schöffendienstleistung nicht auf der Hand liegt, eine Überprüfung der Ermessenentscheidung am Maßstab der Willkür möglich.
c) Gemessen hieran ist die Entscheidung des Vorsitzenden, deren Erwägungen nicht aktenkundig gemacht worden sind, nicht nachvollziehbar. Es erscheint bereits zweifelhaft, ob die Entscheidung auf einer zureichenden Tatsachengrundlage erfolgt ist. Dies deutet auf eine Verkennung des grundrechtsgleichen Rechts des Angeklagten auf den gesetzlichen Richter hin.
aa) Auf der Grundlage der Mitteilung des Schöffen S., dass er sich ab dem 25. März 2015 in Urlaub in den Niederlanden in seinem eigenen Ferienhaus befinde, welches für die kommende Urlaubssaison „hergerichtet“ werden müsse, sah der Vorsitzende die Dienstleistung als für den Schöffen unzumutbar an. Dabei blieb - ausweislich des insoweit maßgeblichen Akteninhalts zum Zeitpunkt der Antragstellung des Schöffen bzw. zum Zeitpunkt der Zurückweisung des Besetzungseinwands, der einer späteren Ergänzung nach erhobener Besetzungsrüge durch eine dienstliche Erklärung des Vorsitzenden nicht mehr zugänglich ist (vgl. für die insoweit vergleichbare Rechtslage bei Ergänzung des Präsidiumsbeschlusses BGH, Urteil vom 9. April 2009 - 3 StR 376/08, BGHSt 53, 268, 276 f.) - bereits die Dauer der Ortsabwesenheit des Schöffen unklar.
bb) Der auf Nachfrage der Mitarbeiterin der Schöffengeschäftsstelle erfolgende fernmündliche Hinweis des Schöffen, er werde sein Ferienhaus in den Niederlanden für die kommende Saison instand setzen, hätte den Vorsitzenden zu einer näheren Prüfung der Frage drängen müssen, ob dem Schöffen eine kurzfristige Unterbrechung des Urlaubs, eine Verschiebung der Reise oder eine Delegation der Instandsetzungsarbeiten an seinem Ferienhaus an eine andere Person zuzumuten war.
Vor dem Hintergrund des unzureichend aufgeklärten Lebenssachverhalts erschließt sich - in Ermangelung einer insoweit gänzlich fehlenden Dokumentation der Ermessenserwägungen des Vorsitzenden - nicht, ob dieser überhaupt, wie von Gesetzes wegen geboten, geprüft hat, ob dem Schöffen eine Verschiebung der ersichtlich „nicht nur Erholungszwecken“ dienenden Urlaubsreise bis zum Ende der für den 26. März 2015 vorgesehenen Hauptverhandlung oder eine Unterbrechung seines Urlaubs zuzumuten war, oder der kurzen Abwesenheit des Schöffen ab dem fünften von insgesamt sechs Hauptverhandlungstagen auf andere Weise, etwa durch eine Unterbrechung der Hauptverhandlung (§ 229 StPO) hätte Rechnung getragen werden können. Dass und aus welchen Gründen eine solche Verschiebung der Hauptverhandlungstermine von vornherein ausscheiden sollte, versteht sich vorliegend auch unter Berücksichtigung des weiten Terminierungsermessens des Vorsitzenden nicht von selbst. Ausweislich der Ladungsverfügung des Vorsitzenden waren Zeugen bis zum 16. März 2015 geladen. Eine Verlegung der Fortsetzungstermine, die hier - wie nicht selten in komplexen, in ihrer Entwicklung nur schwer prognostizierbaren Hauptverhandlungen - als „Reserve“ erfolgt sein konnten, erscheint nach Aktenlage jedenfalls nicht von vornherein ausgeschlossen.
Die Entbindung des Schöffen vom der Dienstleistung auf dieser ersichtlich unzureichenden Tatsachengrundlage erscheint nicht mehr verständlich und deutet - auch eingedenk der Belastungen des Vorsitzenden bei der Vorbereitung umfangreicher Hauptverhandlungen mit zahlreichen Verfahrensbeteiligten (vgl. Arnoldi, NStZ 2015, 714) - auf eine grundsätzlich unrichtige Anschauung vom Schutzbereich des Grundrechts des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG hin.
Die Sache bedarf daher neuer Verhandlung und Entscheidung.
HRRS-Nummer: HRRS 2017 Nr. 457
Externe Fundstellen: NStZ 2017, 491 ; StV 2017, 803
Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner