HRRS-Nummer: HRRS 2014 Nr. 742
Bearbeiter: Karsten Gaede und Christoph Henckel
Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 624/12, Urteil v. 05.06.2014, HRRS 2014 Nr. 742
Auf die Revisionen der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Bonn vom 10. Juli 2012 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine als Schwurgericht zuständige Strafkammer des Landgerichts Köln zurückverwiesen.
Das Landgericht hatte in einem ersten Urteil den Angeklagten S. wegen Mordes in Tateinheit mit Raub mit Todesfolge zu lebenslanger Freiheitsstrafe, die Angeklagte Z. wegen Raubs zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt. Nach Aufhebung dieses Urteils und Zurückverweisung der Sache durch Urteil des Senats vom 25. Mai 2011 - 2 StR 605/10 - hat das Landgericht den Angeklagten S. erneut wegen Mordes in Tateinheit mit Raub mit Todesfolge zu lebenslanger Freiheitsstrafe, die Angeklagte Z. wegen Raubs zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und neun Monaten verurteilt. Hiergegen wenden sich die Revisionen der Angeklagten mit Verfahrensrügen und der Sachbeschwerde. Die Rechtsmittel sind begründet.
I. Nach den Feststellungen des Landgerichts war die Angeklagte Z., die in einem Bordell in Bonn als Prostituierte arbeitete, mit dem Mitangeklagten S. befreundet. Beide befanden sich in finanziellen Schwierigkeiten. Die Angeklagte Z. wusste, dass V., die ebenfalls in dem Bordell tätig war, größere Bargeldmengen bei sich aufbewahrte. Die Angeklagte Z. entwickelte den Gedanken, der Angeklagte S. könne V. als Kunde aufsuchen, sie niederschlagen und das Geld wegnehmen. Der Angeklagte S. fühlte sich für das frühere Abhandenkommen von Geldbeträgen der Angeklagten Z. verantwortlich, er war schwerkrank und stand vor einer gescheiterten wirtschaftlichen Existenz. Vor diesem Hintergrund war er bereit, mit Hilfe der Angeklagten Z. die Idee des Raubüberfalls in die Tat umzusetzen.
V. war zu dieser Zeit die einzige Prostituierte im dritten Stock des Hauses A des Bordells. Die Angeklagten wussten, dass sie am Sonntag, dem 28. Juni 2009, in ihre Heimat reisen und das Geld mitnehmen wollte. Daher wurde die Nacht von Freitag, dem 26. Juni, auf Samstag, den 27. Juni 2009, als Tatzeit ausgewählt. Der Angeklagte S. begab sich gegen 01.46 Uhr zum Zimmer des Tatopfers, das zunächst nicht anwesend war, sondern die fällige Miete bei den Wirtschaftern bezahlte und eine Kollegin aufsuchte. Der Angeklagte S. wartete daher im Kontakthof im Erdgeschoss des Bordells, bis ihm die Angeklagte Z. gegen 02.00 Uhr durch Kurznachricht auf elektronischem Weg mitteilte, er könne nun hinaufgehen.
Der Angeklagte S. ließ sich von dem Tatopfer massieren, wobei sie ihn mit Babyöl einrieb. Als sie ihm bedeutete, dass die Zeit zu Ende sei, versuchte er sie niederzuschlagen. Dabei fiel eine Flasche mit Olivenöl vom Fensterbrett und zerbrach. Der Angeklagte S. schlug die Geschädigte ins Gesicht. Dann stülpte er ihr eine Plastiktüte über den Kopf, wickelte ein Stück Vorhangstoff, das er vom Fenster losgerissen hatte, darum und drückte das auf dem Bett liegende Opfer mit seinem Körpergewicht nieder; es erstickte.
Danach entwendete der Angeklagte S. Bargeld aus dem Schrank der Geschädigten. Nach Verlassen des Tatorts informierte er die Angeklagte Z. und fuhr mit dem Taxi nachhause, wo er gegen 03.28 Uhr eintraf. Unterwegs entsorgte er sein Hemd und eine Kappe, die er zum Schutz vor einem Wiedererkennen auf Videoaufnahmen der Überwachungskameras getragen hatte, in einer Mülltonne.
II. Das Landgericht hat den Angeklagten S. wegen Mordes zur Ermöglichung einer anderen Tat und aus Habgier in Tateinheit mit Raub mit Todesfolge schuldig gesprochen, die Angeklagte Z. des Raubs, weil hinsichtlich der Tötung ein Mittäterexzess vorgelegen habe.
Nachdem Anklageschrift und Eröffnungsbeschluss von einer Tatzeit am Nachmittag des 27. Juni 2009 ausgegangen waren, hat die Schwurgerichtskammer angenommen, es sei von einer Tatzeit am 27. Juni 2009 zwischen 02.00 und 03.00 Uhr auszugehen. Eine spätere Begehung der Tat durch den Angeklagten S. hat es ausgeschlossen.
Ein Besuch des Angeklagten S. in dem Bordell zu jener Zeit sei von diesem eingeräumt worden; für einen späteren Kontakt mit dem Opfer fehle ein Hinweis. Noch am Nachmittag des 27. Juni 2009 hätten Müllbeutel an der Türklinke des Zimmers der Getöteten gehangen, die von der Reinigungskraft am Vormittag dort hingehängt worden seien, vom Opfer aber ins Zimmer mitgenommen worden wären, wenn es noch gelebt hätte. Der Fernseher sei bei der Entdeckung der Leiche am Nachmittag in Betrieb gewesen mit einem Programm, das für die Getötete, die nicht deutsch verstand, nur in der Tatnacht, aber nicht am Vormittag von Interesse gewesen wäre. Keine der dem Opfer nahestehenden Kolleginnen hätte sie am Samstag noch gesehen, obwohl nach ihr Ausschau gehalten worden sei. Auch die Reinigungskraft habe sie nicht mehr bemerkt. DNA-Spuren unter den Fingernägeln der Getöteten stammten nur von dem Zeugen C., der sie gegen Mitternacht aufgesucht hatte, aber als Täter ausscheide, und von dem Angeklagten S., der sie danach aufgesucht habe. Die Angeklagte Z. habe am Samstagmorgen der Zeugin Cu. berichtet, ihr habe das Tatopfer mitgeteilt, es wolle an diesem Morgen ausschlafen. Auch habe die Angeklagte Z. die Zeugin Cu. zu einem gemeinsamen Flohmarktbesuch aufgefordert und dabei versucht, möglichst lange dort zu verweilen. Dies deute darauf hin, dass die Angeklagte Z. vorher vom Tod des Opfers erfahren habe.
Soweit die persönlich glaubwürdigen Zeuginnen U. und A. wiederholt auch unter Eid angegeben hätten, sie hätten die Getötete noch gegen 14.00 Uhr am 27. Juni 2009 auf dem Weg zur Dusche im Keller oder von dort in den dritten Stock gehen gesehen, habe es sich um unbewusste Erinnerungsfehler gehandelt. Bei der Zeugin U. sei der Erinnerungsfehler durch falsche Zuordnung eines alltäglichen Vorgangs zur ebenfalls wiedergegebenen Beobachtung eines Mannes, der in den dritten Stock hinaufgegangen sei, entstanden. Dies sei vor dem Hintergrund zu sehen, dass die Zeugin D. davon berichtet habe, von einem ähnlich aussehenden Mann in der Vorwoche verletzt worden zu sein. Bei der Zeugin A. sei der Zuordnungsfehler anschließend bei ergänzenden Rekonstruktionsversuchen entstanden. Der Fehler werde durch fehlerhafte Beschreibung der Badeausstattung belegt.
Der rechtsmedizinische Sachverständige Dr. H. habe die Todeszeit anhand der Leichentemperatur auf einen Zeitraum zwischen 07.08 Uhr und 13.32 Uhr am 27. Juni 2009 eingegrenzt. Dies begründe jedoch keine absolute Sicherheit, sondern "lediglich in 95 %" der denkbaren Fälle. Die Todeszeitberechnung basiere zudem auf der Annahme einer konstanten Raumtemperatur von 27,5 Grad Celsius, wie sie vom Sachverständigen um 01.47 Uhr am 27. Juni 2009 am Tatort gemessen worden sei. Die Entwicklung der Raumtemperatur im Lauf des Tages sei jedoch nicht konkret feststellbar; das Gericht sei von einem Absinken der Temperatur in den Abend- und Nachtstunden überzeugt.
Eine Tötung des Opfers durch die Angeklagte Z. scheide aus, weil keine DNA-Spuren von ihr am Tatort gefunden worden seien, ferner weil sie körperlich zur Tatbegehung nicht in der Lage gewesen wäre und schließlich, weil sie am Vormittag des Samstag zusammen mit der Zeugin Cu. den Flohmarkt besucht habe. Hinweise darauf, dass sie kurzfristig einen Dritten zur Durchführung der Tat bewegt haben könnte, seien nicht ersichtlich.
Aus dem vom Angeklagten S. eingeräumten Tatplan eines Raubüberfalls, aus der Tatsache eines Aufsuchens des Opfers zwischen 02.00 und 03.00 Uhr am 27. Juni 2009, daraus, dass DNA-Spuren des Angeklagten unter den Fingernägeln der Toten sowie an einem Ende des Vorhangstoffs und auf Papiertüchern auf dem Boden des Tatzimmers gefunden wurden, schließlich aus Maßnahmen des Angeklagten S. zur Spurenbeseitigung sei auf dessen Täterschaft zu schließen.
I. Die Revision des Angeklagten S. ist mit einer Verfahrensrüge und der Sachbeschwerde begründet.
1. Das Urteil beruht auf einem Verfahrensfehler, weil das Landgericht einen Beweisantrag zu Unrecht gemäß § 244 Abs. 3 Satz 2 StPO zurückgewiesen hat.
a) Die Verteidigung des Angeklagten S. hatte einen Antrag auf Einholung eines Sachverständigengutachtens zum Beweis der Tatsache gestellt, dass die um 01.47 Uhr am 28. Juni 2009 im Tatzimmer gemessene Raumtemperatur durch Wärmezufuhr aus einem überhitzten Nachbarraum, durch Körperwärme der bei der Tatortarbeit in dem kleinen Zimmer anwesenden Personen und durch Abstrahlungswärme elektrischer Geräte und Lichtquellen mitverursacht worden sei. Dies hätte der Annahme des Landgerichts entgegengestanden, bis zum Zeitpunkt der Messung sei es zu einer erheblichen Absenkung der Umgebungstemperatur gekommen, weshalb die Rückrechnung der Todeszeit durch den rechtsmedizinischen Sachverständigen auf einen Zeitraum zwischen 07.08 und 13.32 Uhr am 27. Juni 2009 anhand einer konstanten Umgebungstemperatur von 27,5 Grad Celsius nicht maßgebend sei. Der Sachverständige hat auch andere Zeiträume für den Todeseintritt als Ergebnis von Kontrollrechnungen mit abweichender Temperaturkonstante mitgeteilt, die bei geringerer Temperatur einen späteren, bei höherer Temperatur einen früheren Zeitraum des Todeseintritts ergeben hatten.
Das Landgericht hat den Beweisantrag zurückgewiesen, weil es an Anknüpfungstatsachen für ein Gutachten fehle. Der Sache nach wurde damit das beantragte Beweismittel als völlig ungeeignet im Sinne von § 244 Abs. 3 Satz 2 StPO angesehen. Ergänzend hat das Landgericht darauf hingewiesen, dass weder die Körperwärme anwesender Personen noch elektrische Geräte zu einer merklichen Erhöhung der Raumtemperatur geführt haben dürfte; vielmehr sei nach der Lebenserfahrung davon auszugehen, dass die Raumtemperatur "bis zur Messung des Sachverständigen um 01.50 Uhr im Vergleich zum Todeszeitpunkt gesunken" sei. Im Urteil ist die Schwurgerichtskammer unter Erörterung der Gegebenheiten am Tatort von einem Temperaturabfall gegenüber der Tagestemperatur ausgegangen.
b) Diese Begründung der Zurückweisung des Beweisantrags trägt nicht. Zwar sind Einzelheiten der Temperaturentwicklung im Tatzimmer nach mehreren Jahren nicht mehr genau rekonstruierbar. Wohl aber wäre die Frage, ob im Einklang mit der Beweisbehauptung der Verteidigung von einer Mitverursachung der Raumtemperatur durch die von der Verteidigung angeführten Umstände mit der Folge, dass bis zum Messzeitpunkt kein erheblicher Temperaturabfall zu verzeichnen war, anhand der räumlichen Gegebenheiten des Zimmers unter dem Dach, der Wirkung der Körpertemperatur der zahlreichen am engen Tatort anwesenden Personen und der Abstrahlungswärme elektrischer Geräte und Beleuchtungseinrichtungen, ferner von der Außentemperatur und den Belüftungsmöglichkeiten mit Sachverständigenhilfe zumindest genauer zu beantworten, als es die Schwurgerichtskammer "bei lebensnaher Betrachtung" selbst getan hat.
Die Annahme, das angebotene Beweismittel sei ungeeignet, weil es an aussagekräftigen Anknüpfungstatsachen fehle, ist auch deshalb rechtsfehlerhaft, weil das Gericht selbst Anknüpfungstatsachen für seine Annahme herangezogen hat, dass in den Abend- und Nachtstunden bis zur Temperaturmessung eine Absenkung stattgefunden hat. Ist die Möglichkeit der Feststellung von Anknüpfungstatsachen nicht generell ausgeschlossen, kann ein Beweisantrag auf Einholung eines Sachverständigengutachtens nicht mit der Annahme völliger Ungeeignetheit des Beweismittels zurückgewiesen werden (vgl. Senat, Urteil vom 5. Mai 1999 - 2 StR 58/99).
c) Es ist nicht auszuschließen, dass das Urteil auf diesem Rechtsfehler beruht. Die nach den Urteilsgründen entscheidungserhebliche Tatzeitfeststellung des Landgerichts widerspricht im Kern der Todeszeitberechnung durch den rechtsmedizinischen Sachverständigen. Das Urteil lässt nicht erkennen, dass die Todeszeitberechnung für das Landgericht ohne jeden Beweiswert war; dann kann die Berechnungsgrundlage bei der Umgebungstemperatur nicht durch Ablehnung einer bauphysikalischen Nachprüfung der Gegebenheiten offen gelassen werden, sofern das Tatgericht nicht im Zweifel zugunsten des Angeklagten von einer ihm günstigen Berechnungsweise ausgehen will.
2. Auch die Beweiswürdigung des Landgerichts weist Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten S. auf.
a) Die Schwurgerichtskammer hat angenommen, die Zeuginnen U. und A. hätten sich geirrt, als sie im Vorverfahren gegenüber den ermittelnden Polizeibeamten und im Hauptverfahren unter Eid jeweils ausgesagt haben, sie hätten die Getötete noch gegen 14.00 Uhr am 27. Juni 2009 gesehen. Zu diesen Indiztatsachen sind Darstellungsfehler zu verzeichnen, auf denen das Urteil beruhen kann.
aa) Das insoweit nicht sachverständig beratene Landgericht hat hervorgehoben, "nach aussagepsychologischer Erkenntnis" könnten Erwartungen zum Ablauf eines Ereignisses zu selektiver Wahrnehmung und Erinnerung führen. Solche Erwartungen beruhten auf Ereignisschemata oder "Skripten", in denen Ereignisse in ihren Grundzügen festgelegt seien und Leerstellen ("slots") für bestimmte Arten von Personen, Objekten oder Handlungen verblieben, wobei die Auswahl von Inhalten, die zur Füllung dieser Leerstellen in Frage kommen, vorgeprägt seien. Die Schwurgerichtskammer gehe von einem fehlerhaften Auffüllen von Leerstellen aus. Dazu hat sie unter anderem eine Inhaltsanalyse der Angaben der Zeuginnen vorgenommen. Gegen diese Überlegungen bestehen durchgreifende rechtliche Bedenken.
Auch eine aussagepsychologische Untersuchung, die das Landgericht nicht herbeigeführt hat, könnte "falsche Erinnerungen" nur durch Suggestibilitätskontrolle und Informationsquellenüberprüfung, nicht durch Aussageninhaltsanalysen feststellen oder ausschließen (vgl. Greuel in: Egg [Hrsg.], Psychologischpsychiatrische Begutachtung in der Strafjustiz, 2012, S. 33, 49). Realkennzeichen oder Lügensignale sind in Pseudoerinnerungen ebenso anzutreffen wie in anderen Erlebnisbeschreibungen. Eine Kontrolle der Suggestibilität der Zeuginnen hat das Landgericht nicht selbst durchführen können. Die zusätzlich erforderliche Überprüfung der Quellen für eine mögliche Erinnerungsverfälschung hat es nicht lückenlos vorgenommen. Für die Annahme einer objektiv falschen Aussage gleich zweier Zeuginnen zu derselben Tatsache aufgrund desselben Wahrnehmungs- und Erinnerungsfehlers hätten die Fehlermöglichkeiten auch miteinander und mit dem sonstigen Beweisbild, zu dem auch die Tatzeitbestimmung gehört, abgeglichen werden müssen; daran fehlt es im angefochtenen Urteil. Im Ergebnis hat das Landgericht nicht die wesentlich geringere Wahrscheinlichkeit dafür berücksichtigt, dass zwei Zeuginnen, die unabhängig voneinander zeitnah nach dem fraglichen Ereignis vergleichbare Beobachtungen beschrieben haben, jeweils einem Erinnerungsfehler unterlegen sein könnten.
bb) Die gedächtnis- und aussagepsychologischen Überlegungen des Landgerichts sind auch für sich genommen lückenhaft.
(1) Der Zeugin U. hat die Schwurgerichtskammer einen "doppelten Irrtum" zugerechnet, weil diese einerseits zu Unrecht angenommen habe, am Nachmittag des 27. Juni 2009 den vermeintlichen Täter gesehen zu haben, und andererseits zu jener Zeit auch das Opfer noch gesehen haben wolle. Zur Begründung des Zuordnungsfehlers aufgrund von Gesprächen der Zeugin U. mit der Zeugin D. ist im Urteil angemerkt, bei der eine Woche vorher erfolgten Verletzung der Zeugin D. durch einen ähnlich aussehenden Mann habe es sich für die Zeugin U. nur um ein "Randgeschehen" gehandelt. Die Verletzung im Gesicht der Zeugin D. sei für die Zeugin U. andererseits ohne weiteres zu sehen gewesen.
Bei diesen Erwägungen hat das Landgericht nicht erörtert, dass alle unmittelbar nach der Entdeckung der Leiche vorgenommenen Rekonstruktionsversuche der Zeuginnen im Zusammenhang mit dem Mord und der Tätersuche gestanden hatten. Daher waren die Verletzung der Zeugin D. durch einen südländisch aussehenden Mann, die Wahrnehmung eines ähnlich aussehenden Mannes am 27. Juni 2009 und die Wahrnehmung des Tatopfers in unmittelbarer zeitlicher Nähe hierzu nicht ohne weiteres als Randgeschehen einzustufen.
Das Landgericht hat ferner darauf verwiesen, die Zeugin U. habe das Badetuch falsch beschrieben, mit dem das Opfer zur Dusche gegangen sei, und sie habe von einer Badehaube gesprochen, die später nicht im Zimmer gefunden werden konnte. Wäre die Zeugin aber nur einem Erinnerungsfehler hinsichtlich des Beobachtungszeitpunkts erlegen, so wäre die gegebenenfalls aufgrund eigenständiger Erinnerungsfehler hinsichtlich der Details falsche Beschreibung der Badeausstattung ohne besondere Aussagekraft. Nur die Getötete war zur fraglichen Zeit im dritten Stock des Bordells in einem Dachzimmer ohne Dusche tätig und nur sie pflegte zum Duschen in den Keller zu gehen.
(2) Ähnlich unzureichend begründet ist die Annahme eines Erinnerungsfehlers der Zeugin A. Diese hatte berichtet, sie habe gegen 14.30 Uhr am 27. Juni 2009 aus der Tür ihres Zimmers im zweiten Stock eine nur mit einem Badetuch verhüllte Frau auf dem Weg nach oben gehen gesehen. Dies wurde von der Zeugin mit dem Erscheinen eines Stammfreiers in zeitlichen Zusammenhang gebracht. Die Bedeutung dieses Zusammenhangs hat das Landgericht nicht erörtert.
Den Inhalt der Aussage der Zeugin A. hat die Schwurgerichtskammer auch damit in Frage gestellt, dass sie das Gesicht der Frau nicht gesehen habe und ihr Badetuch nicht habe beschreiben können. Darauf kam es aber nicht notwendig an, weil zu jener Zeit nur die Getötete im dritten Stock als Prostituierte tätig war und nur sie von dort in den Keller zum Duschen zu gehen pflegte.
Die Annahme eines Zuordnungsfehlers der Zeugin A. hat das Landgericht schließlich darauf gestützt, dass "eine Kollegin bekundete, das Opfer gegen 14 Uhr noch zum Duschen gehend gesehen zu haben". Ob die Zeugin A. aber überhaupt in Gespräche über das unter den dort arbeitenden Thailänderinnen erörterte Thema eingebunden gewesen und damit einer Informationsquelle für eine Erinnerungsfälschung ausgesetzt war, ist nicht festgestellt. Damit ist die Annahme des Landgerichts, es habe sich um einen sekundären Erinnerungsfehler auch bei der zweiten Zeugin zur Alibifrage gehandelt, nicht lückenlos belegt.
(3) Fehldeutungen bei der Wahrnehmung und Erinnerung von zunächst alltäglich wirkenden Ereignissen sind theoretisch immer möglich (vgl. Kühnel/Markowitsch, Falsche Erinnerungen. Die Sünden des Gedächtnisses, 2009, S. 78 ff.). Sie dürfen im Prozess aber nicht ohne weiteres - im Ergebnis mit belastender Wirkung für einen Angeklagten - unterstellt werden. Die Annahme von beiderseitigen Erinnerungsfehlern bei den Entlastungszeuginnen ist aber vom Landgericht letztlich unterstellt worden. Das wird aus der Behauptung deutlich, die Beschreibung der Verhüllung der beobachteten Frau mit einem Badetuch durch die Zeugin A. "würde auch auf ein halblanges trägerloses Sommerkleid passen". Für eine solche Vergleichsbetrachtung bestand kein nachvollziehbarer Anlass, denn die Annahme, eine fremde Frau in einem solchen Kleid sei zu jenem Zeitpunkt in den dritten Stock hinaufgegangen, wo sich allein das Zimmer der Getöteten befand, ist rein spekulativ und fern liegend.
b) Die Ausführungen zur Tatzeit und zur Bestimmung der Todeszeit begegnen gleichfalls rechtlichen Bedenken.
Das Landgericht hat angenommen, die rechtsmedizinischen Feststellungen seien mit der Tatzeit in den frühen Nachtstunden "ohne weiteres kompatibel" (UA S. 67 f.) und "plausibel vereinbar" (UA S. 91). Das ist nicht nachvollziehbar; denn als Tatzeit ist der Zeitraum zwischen 02.00 und 03.00 Uhr festgestellt worden, die Rückrechnung anhand der Leichentemperatur hat dagegen einen Zeitraum zwischen 07.08 und 13.32 Uhr als höchstwahrscheinliche Todeszeit ergeben.
Letzterem lag allerdings die Prämisse zugrunde, dass die um 01.47 Uhr am 28. Juni 2009 gemessene Umgebungstemperatur von 27,5 Grad Celsius konstant vorgelegen habe. Alternativberechnungen für eine höhere Umgebungstemperatur haben einen früheren Tatzeitraum, solche mit geringerer Temperatur einen späteren Zeitraum ergeben. Auch dafür wurde aber jeweils eine konstante Temperatur vorausgesetzt, die nach Überzeugung des Landgerichts in der Leichenliegezeit nicht bestanden hatte, ohne dass die Temperaturentwicklung jedoch rekonstruiert worden wäre. Würde eine inkonstante Umgebungstemperatur angenommen, wäre nicht nur eine Absenkung in den Abend- und Nachtstunden bis zur Messung durch den Sachverständigen, sondern auch eine Erhöhung in den Nacht- und Morgenstunden des 27. Juni 2009 - bei einer nach der Tatzeitfeststellung etwa ab 03.00 Uhr beginnenden Leichenliegezeit - zu berücksichtigen. Ersteres hat das Landgericht vorausgesetzt, letzteres übergangen.
Im Ergebnis bleibt aber schon der vom Landgericht angenommene Beweiswert der Überlegungen zur Temperatur unklar. Die Todeszeiteingrenzung mit Hilfe einer Rückrechnung der Verringerungen der Leichentemperatur ist eine stets mit Fehlerquellen behaftete Schätzung (vgl. Henßge/Madea, Methoden zur Bestimmung der Todeszeit an Leichen, 1988, S. 139 ff.), die vom Tatrichter im Fall ihrer Entscheidungserheblichkeit nach dem Zweifelssatz zu Grunde zu legen ist, wenn er über andere zuverlässige Beweisanzeichen nicht verfügt, deren eingeschränkter Beweiswert aber bei der Abwägung mit sonstigen Beweisanzeichen gewürdigt werden kann (vgl. für die Rückrechnung des Blutalkoholgehalts des Täters zur Tatzeit als Hinweis auf eine Beeinträchtigung der Steuerungsfähigkeit BGH, Urteil vom 22. April 1998 - 3 StR 15/98, NJW 1998, 3427, 3428). Den Urteilsgründen ist nicht zu entnehmen, dass dies auch mit Blick auf die den Angeklagten potenziell entlastende Beweiswirkung geschehen ist.
2. Der Mangel der Beweiswürdigung zwingt zugleich zur Urteilsaufhebung zugunsten der Angeklagten Z. Auf deren Verfahrensrüge kommt es deshalb nicht mehr an.
Der Senat macht von der Möglichkeit Gebrauch, die Sache an ein anderes Landgericht zurückzuverweisen (§ 354 Abs. 2 Satz 1 StPO).
HRRS-Nummer: HRRS 2014 Nr. 742
Bearbeiter: Karsten Gaede und Christoph Henckel