Bearbeiter: Rocco Beck
Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 740/93, Urteil v. 18.01.1994, HRRS-Datenbank, Rn. X
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Schweinfurt vom 1. Juli 1993 im Strafausspruch mit den Feststellungen aufgehoben.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Schwurgericht zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Die weitergehende Revision wird verworfen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Totschlags zur Freiheitsstrafe von fünf Jahren und sechs Monaten verurteilt. Die auf die Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten hat zum Schuldspruch keinen Erfolg, sie führt aber zur Aufhebung des Strafausspruches.
Der Angeklagte war Hauptmann und stellvertretender Chef der 11. Pionierkompanie der 11. Grenzbrigade der DDR. Am 6. August 1969 waren die aus Wehrpflichtigen bestehenden Mannschaftsdienstgrade seiner Kompanie mit Ausbesserungsarbeiten an den Grenzsicherungsanlagen im Bereich des Kreises Meiningen (DDR)/Landkreis Königshofen (Bundesrepublik) beschäftigt. Bewacht wurden sie von Angehörigen der 4. Grenzkompanie. 10 m vor der Grenze zwischen der DDR und der Bundesrepublik war ein Trassierband ausgelegt, das nicht überschritten werden durfte. Die Pioniere wurden von den Vorgesetzten darauf hingewiesen, daß bei Zuwiderhandlung sofort geschossen werde.
Der 19jährige Pionier P. entschloß sich zur Flucht, warf sein Arbeitsgerät weg und überwand rennend die insgesamt 30 m von seinem Arbeitsplatz zur Grenzlinie. Währenddessen gaben zwei Sicherungsposten zwei bis drei Feuerstöße aus ihren Maschinengewehren ab und zielten dabei vor und über den unbewaffnet Flüchtenden. Dieser warf sich ca. 10 m nach Überschreiten der Grenze in das 10 bis 25 cm hohe Gras. Er versuchte, robbend voranzukommen, und forderte ein in der Nähe befindliches Ehepaar auf, zu ihm zu kommen, weil "die" dann nicht mehr schießen dürften. Der Angeklagte bemerkte, 100 m entfernt stehend, den Fluchtversuch. Er lief bis zu dem Trassierband und rief dem Flüchtenden zu, er solle zurückkommen. Außerdem gab er aus seiner Pistole zwei Warnschüsse ab. Die Wachposten hatten bereits das Feuer eingestellt. P. hatte bei Abgabe der Schüsse in seiner Fortbewegung innegehalten, machte aber keine Anstalten zur Rückkehr. Der Angeklagte wollte um jeden Preis die Flucht verhindern; er wußte, daß ihm bei einem Gelingen der Flucht von Vorgesetzten Repressalien drohten und eine weitere Karriere bei der Armee nicht möglich sein werde. Er zielte deshalb mit seiner Pistole auf die ihm zugewandten Füße des 22 bis 24 m bäuchlings in Längsrichtung etwas schräg vor ihm liegenden P. und nahm bei dem Schuß die von ihm erkannte Möglichkeit, den Soldaten tödlich zu treffen (der Angeklagte war schnell gelaufen und konnte nicht ruhig zielen), in Kauf. Er traf P. in die Schläfe. Anschließend holten der Angeklagte und ein weiterer Soldat den Getroffenen auf DDR-Gebiet zurück. P. starb am gleichen Tag an der Schußverletzung. Der Angeklagte wurde wegen des Vorfalles in der Armee ausgezeichnet. Zwei Jahre später wurde er zum Major befördert.
Bereits im Januar 1990, vor dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik, war aufgrund einer Strafanzeige durch den Militärstaatsanwalt der DDR ein Ermittlungsverfahren wegen des Vorfalles eingeleitet worden.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Totschlags nach § 212 StGB i.V.m. § 112 StGB-DDR verurteilt. Er habe entgegen seinen Dienstvorschriften gehandelt, denn er hätte mit milderen Mitteln die Flucht verhindern können. Statt zu schießen, hätte er zu dem im Gras liegenden Flüchtling hinlaufen und ihn mit Waffendrohung 10 m auf das Gebiet der DDR zurückholen können, so wie er es nach dem Schuß - ebenfalls unter Verletzung der Grenze - auch getan habe. Auch hätte er nicht über die Grenze schießen dürfen.
Die Verurteilung wegen Totschlags nach § 212 StGB ist aus Rechtsgründen im Ergebnis nicht zu beanstanden. Nach dem festgestellten Sachverhalt war ein Tatort sowohl in der Bundesrepublik (Verletzung des Opfers) als auch in der DDR (Standort des Schützen) gegeben. Der Angeklagte hat deshalb sowohl den Tatbestand des Totschlags nach § 212 StGB (§§ 3, 9 Abs. 1 StGB), als auch den einer vorsätzlichen Tötung nach dem StGB der DDR (§ 112 oder § 113) erfüllt. Als das in seiner Strafandrohung mildere Gesetz - im Hinblick auf die Möglichkeit des § 213 StGB - kommt nach § 2 Abs. 3 StGB i.V.m. Art. 315 Abs. 1 EGStGB (in der Fassung des Einigungsvertrages, Anlage I Kap. III Sachgebiet C II Nr. 1 b, BGBl 1990 II 955) die Vorschrift des § 212 StGB zur Anwendung.
1. Die Tötung des Pioniers P. auf dem Gebiet der Bundesrepublik war nach der Rechtslage der DDR nicht gerechtfertigt. Auf die in BGHSt 39, 1 erörterten Rechtfertigungs- und Rückwirkungsprobleme bei Tötung eines Flüchtlings auf dem Gebiet der DDR kommt es hier nicht an; desgleichen auch nicht darauf, ob die Ausführungen im genannten Urteil (S. 15, 16) zur Rechtswidrigkeit der Schüsse auf einen Republikflüchtling im Hinblick auf vorgeordnete allgemeine Rechtsprinzipien auch dann gelten, wenn der Täter vor der Grenze auf eine Person schießt, die im Begriff ist, ein "Verbrechen der besonders schweren Fahnenflucht" im Sinne von § 254 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 StGB-DDR zu begehen.
a) Für den Angeklagten war zur Tatzeit die Dienstanweisung DV 30/10 - "Organisation und Führung der Grenzsicherung und der Grenzkompanie" vom 16. Dezember 1966 maßgebend. Danach durfte von der Schußwaffe "nur Gebrauch gemacht werden", u.a. ... Ziff. 203 d: "... wenn andere Mittel nicht ... ausreichen, um ...Verbrecher ..., die flüchten, unschädlich zu machen."
Speziell für Grenzposten galt, daß sie die Waffe anzuwenden hatten, Ziff. 204 "... zur vorläufigen Festnahme von Personen, die sich den Anordnungen der Grenzposten nicht fügen, indem sie auf den Anruf 'Halt - Grenzposten - Hände hoch!' oder nach Abgabe eines Warnschusses nicht stehen bleiben, sondern offensichtlich versuchen, die Staatsgrenze der Deutschen Demokratischen Republik zu durchbrechen, und keine andere Möglichkeit zur vorläufigen Festnahme besteht ..." Nach Ziff. 206 Abs. 1 war "der Gebrauch der Schußwaffe ... die äußerste Maßnahme der Gewaltanwendung gegenüber Personen. Er ist nur dann zulässig, wenn alle anderen Maßnahmen erfolglos blieben oder dann, wenn es aufgrund der Lage nicht möglich ist, andere Maßnahmen zu treffen."
Ziff. 208: "Die Schußwaffe d a r f n u r in Richtung des Territoriums der DDR oder parallel zur Staatsgrenze gegen Grenzverletzer angewendet werden". Nach diesen dem Angeklagten bekannten Vorschriften war klar - durch Fettdruck "darf nur" besonders hervorgehoben -, daß es nicht erlaubt war, auf Personen zu schießen, die bereits, "die Staatsgrenze" zur Bundesrepublik Deutschland (§ 12 Grenzordnung vom 19. März 1964, GBl DDR II 257, 258) überschritten hatten.
b) Neben der offiziellen Dienstordnung gab es allerdings mündliche Unterweisungen, durch die bestehende Vorschriften verstärkt und ungenaue oder unvollständige Vorschriften in einer Weise ergänzt wurden, daß - wie von den Vorgesetzten gewollt - die Soldaten "die Gesamtheit der Äußerungen als verpflichtend und damit als Befehl aufgefaßt haben". Zusammen mit den Dienstvorschriften ergab dies die allgemeine Befehls- oder Erlaubnislage (vgl. BGH NStZ 1993, 486, 487). Danach waren Grenzdurchbrüche und Fahnenflucht auf jeden Fall zu verhindern; im Sinne entschlossenen, auch tödlichen Handelns wurden die Soldaten bestärkt, das Überschreiten der Grenze auf jeden Fall zu unterbinden (vgl. hierzu auch BGHSt 39, 1, 10, 13; BGH, Urt. vom 20. Oktober 1993 - 5 StR 473/93 S. 21 f., zum Abdruck in BGHSt vorgesehen).
c) Das Landgericht geht davon aus, auf Grund dieser allgemeinen Anweisungen habe entgegen DV 30/10 Ziffer 208 "danach auch ein Ermessensspielraum bestanden, ob notfalls auf fremdwärtiges Gebiet zu schießen sei". Bei einer solchen Erlaubnis handelte es sich allerdings nicht um einen 'Befehl' - weder im Sinne der allgemeinen Definition (vgl. Schölz/Lingens, Wehrstrafgesetzbuch 3. Aufl. § 2 Rdn. 10) noch im Sinne der §§ 257, 258 StGB-DDR (vgl. Kommentar zum StGB der DDR 5. Aufl. § 257 Anm. 2). Immerhin aber war damit die DV 30/10 Ziffer 208 in Zweifel gezogen worden, die allgemeine Befehlslage nicht mehr eindeutig.
Gleichwohl ist dadurch das Handeln des Angeklagten - wovon auch das Landgericht ausgeht - nicht gerechtfertigt. Es gab keine eindeutige Anordnung, notfalls auf 'fremdes Staatsgebiet' zu schießen; alle Vorschriften befaßten sich mit der Frage, was zu tun sei, bevor der Flüchtling die Grenze erreichte. Daß das Verhalten des Angeklagten trotz der möglicherweise bewußt undeutlichen Erläuterungen nicht erlaubt war, ergibt sich aus der Gesamtheit der Anweisungs- und Gesetzeslage der DDR. Selbst ein militärischer Befehl entband einen Soldaten nicht von der strafrechtlichen Verantwortlichkeit, wenn der Befehl (u.a.) "offensichtlich gegen die anerkannten Normen des Völkerrechts verstieß" (§ 258 StGB-DDR). Ein solch offensichtlicher Verstoß lag hier vor: Die Rechtsordnung eines Staates beschränkt sich grundsätzlich auf das Gebiet innerhalb seiner Grenzen. Die Ausübung des eigenen Rechts darf das des Nachbarn nicht beeinträchtigen. Gewaltsame wie nicht gewaltsame Maßnahmen, die von einem Staatsgebiet auf das andere hinüberwirken und eine Verletzung fremder Gebietshoheit darstellen, hat ein Staat zu unterlassen und zu unterbinden (Berber, Lehrbuch des Völkerrechts I 2. Aufl. § 43).
Diese selbstverständlichen Grundsätze galten jedenfalls aus der Sicht der DDR auch im Verhältnis zur Bundesrepublik Deutschland (vertraglich normiert wurden sie im Grundvertrag vom 21. Dezember 1972, BGBl 1973 II 423: "..., daß die Hoheitsgewalt jedes der beiden Staaten sich auf sein Staatsgebiet beschränkt"). Bietet bereits ein Befehl keine Rechtfertigung, so gilt das in höherem Maße für eine allgemein gehaltene Anordnung wie hier, die letztlich die Entscheidung dem Soldaten überließ. Der Rechtsgedanke aus § 258 StGB-DDR wurde in der nach ihrem Wortlaut eindeutigen Vorschrift der DV 30/10 Ziffer 208 zusätzlich konkretisiert: Es durfte nur auf DDR-Gebiet geschossen werden.
d) Das Landgericht hat - der Einlassung des Angeklagten folgend - zu seinen Gunsten unterstellt, er habe die allgemeine Anordnung, Republik- und Fahnenflucht mit allen Mitteln zu unterbinden, gegenüber den anderen Regeln als vorrangig angesehen. Es hat deshalb zu seinen Gunsten einen Verbotsirrtum angenommen, diesen aber für vermeidbar gehalten. Das Landgericht hat zur Begründung der Rechtswidrigkeit (auch und in erster Linie) einen Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gemäß DV 30/10 Ziffer 204 herangezogen; der Angeklagte hätte unter Verletzung der Grenze den Flüchtling mit Gewalt auf DDR-Gebiet zurückholen können.
Der Senat teilt diese Auffassung nicht. Ein solches Vorgehen wäre zwar eine mildere Maßnahme gewesen als der tatsächlich abgegebene Schuß, doch verstieß das eine wie das andere gegen völkerrechtliche Grundsätze und war gleichermaßen verboten. Der Senat schließt aus, daß die Akzentverschiebung bei Begründung der Rechtswidrigkeit die Annahme des Landgerichts beeinflußt hätte, der Verbotsirrtum sei im Hinblick auf die Stellung des Angeklagten und seine Kenntnis der Vorschriften als vermeidbar anzusehen.
2. Die Tat des Angeklagten war auch nach dem zur Tatzeit geltenden Recht der Bundesrepublik Deutschland rechtswidrig. Denn auch nach Bundesrecht gilt als allgemeine Regel des Völkerrechts mit Verbindlichkeit für den einzelnen (Art. 25 GG), daß man einen Menschen auf fremdem Hoheitsgebiet nicht durch einen Schuß über die Grenze töten darf, nur um dessen endgültiges Entweichen zu verhindern. Damit kommt es für die Beurteilung nicht darauf an, daß Schußwaffengebrauch gegen einen Fahnenflüchtigen auch auf dem Gebiet der Bundesrepublik nicht zulässig ist; vgl. hierzu §§ 15, 4, 5 UZwGBw (Jess/Mann, UZwGBw 2. Aufl. § 15 Rdn. 7 ff.).
3. Im Verhältnis zu den Vorschriften des StGB-DDR über die vorsätzliche Tötung ist § 212 StGB materiell-rechtlich gesehen das mildere Gesetz, denn in § 213 StGB ist für den minder schweren Fall des Totschlags ein niedrigerer Strafrahmen vorgesehen als in den §§ 112, 113 StGB-DDR (BGHSt 39, 1, 30). Sollte hier jedoch die Anwendung des § 213 StGB verneint werden, so könnte auch die gegenüber § 212 StGB mildere Vorschrift des § 113 StGB-DDR in der hier allein in Betracht zu ziehenden Alternative des § 113 Abs. 1 Nr. 3 StGB-DDR keine Anwendung finden. Denn deren Voraussetzung, daß "besondere Tatumstände vorliegen, die die strafrechtliche Verantwortlichkeit mindern", ist jedenfalls im vorliegenden Fall enger als § 213 StGB, der eine Gesamtwürdigung aller Umstände - also einschließlich eines etwaigen Milderungsgrundes nach § 113 Abs. 1 Nr. 3 StGB-DDR - verlangt.
Ein Verfahrenshindernis besteht nicht. Die Tat des Angeklagten ist nicht verjährt.
1. a) Soweit das zur Tatzeit geltende Recht der Bundesrepublik unmittelbar anzuwenden ist (§§ 3, 9 StGB), war der damals vom Angeklagten erfüllte Tatbestand des § 212 StGB gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 2 StGB nach 20 Jahren am 6. August 1989 verjährt. Unterbrechungshandlungen im Sinne des § 78 c StGB sind in der Bundesrepublik nicht erfolgt. Ein Ruhen des Laufs der Verjährung in der Bundesrepublik kommt insoweit nicht in Betracht (OLG Frankfurt StV 1991, 421; Dreher/ Tröndle, StGB 46. Aufl. vor § 3 Rdn. 39 ff.; Tröndle, Pötz-Festschrift 1993 S. 241 f.; König NStZ 1992, 185, 186; Lemke/Hettinger NStZ 1992, 21, 23).
b) Der Senat läßt offen, ob die vom Angeklagten begangene vorsätzliche Tötung nach DDR-Recht als Mord (§ 112 StGB-DDR) oder als Totschlag (§ 113 StGB-DDR) zu bewerten ist. Strafverfolgungsverjährung wäre in keinem der beiden Fälle eingetreten: Für Mord betrug die Verjährung zur Tatzeit - und anschließend unverändert - ohnehin 25 Jahre (§ 82 Abs. 1 Nr. 5 i.V.m. § 112 StGB-DDR vom 12. Januar 1968).
Als Totschlag mit der Strafdrohung bis zu 10 Jahren Freiheitsstrafe wäre die Tat zwar in 15 Jahren verjährt (§ 82 Abs. 1 Nr. 4 i.V.m. § 113 StGB-DDR). Insoweit hat aber der Lauf der Verjährungsfrist entsprechend § 83 Nr. 2 StGB-DDR bis zur Aufnahme der Ermittlungen im Januar 1990 geruht.
Tatsächlich wurde die Tat des Angeklagten zuvor in der DDR nicht verfolgt, und zwar aus Gründen, die der Gesetzgeber der Bundesrepublik in Artikel 1 Verjährungsgesetz vom 26. März 1993 (BGBl I 392) als Voraussetzung für die Anwendung der Ruhensvorschriften aufgeführt hat. Es handelt sich um eine der Taten, die nach "dem ausdrücklichen oder mutmaßlichen Willen der Staats- und Parteiführung der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik aus politischen oder sonst mit wesentlichen Grundsätzen einer freiheitlichen rechtsstaatlichen Ordnung unvereinbaren Gründen nicht geahndet worden sind" (vgl. hierzu auch BVerfGE 1, 418, 423 ff.; BGHSt 18, 367; 23, 137, 139 und BT-Drucks. 12/3080 S. 5).
2. Unabhängig von der Tatortfrage und der unmittelbaren Anwendung des Rechts der Bundesrepublik richtet sich die Beurteilung der Verjährung bei DDR-Alttaten nicht ohne weiteres nach dem für den Angeklagten günstigeren Gesetz. Wäre der Fall allein nach Art. 315 Abs. 1 EGStGB zu entscheiden, der die Anwendung des mildesten Gesetzes auch für DDR-Alttaten vorschreibt, könnte der Angeklagte - weil die Tat in der Bundesrepublik verjährt war - nicht mehr bestraft werden.
Das durch den Einigungsvertrag geschaffene Regelwerk der Art. 315 und 315a EGStGB muß aber im Zusammenhang gesehen werden. Für die Beurteilung der Strafverfolgungsverjährung greift hier Art. 315 a Satz 1 EGStGB (idF des Einigungsvertrages, Anlage I Kap. III Sachgebiet C Abschn. II Nr. 1 c, BGBl 1990 II 955) ein: Soweit die Strafverfolgungsverjährung nach dem Recht der DDR bis zum Wirksamwerden des Beitritts - also bis zum 3. Oktober 1990 - nicht eingetreten war (wie hier), "bleibt es dabei". Der Senat legt diese Vorschrift in den Grenzen ihres Wortlauts dahin aus, daß bei der Prüfung, welches Recht das mildere sei (Art. 315 Abs. 1 EGStGB i.V.m. § 2 Abs. 3 StGB), die Verjährungsfrage auszuklammern ist. Denn es hätte der besonderen Verjährungsregelung des Art. 315 a Satz 1 EGStGB nicht bedurft, wenn man nach dem Beitritt der DDR ohne weiteres nach allgemeinen Grundsätzen jeweils das mildere Gesetz hätte anwenden wollen (bzgl. des Sonderfalles nach Art. 315 Abs. 4 EGStGB siehe unten 3.). Art. 315 a Satz 1 EGStGB soll ermöglichen, unabhängig von allgemeinen Bestimmungen, insbesondere Taten zu verfolgen, die trotz Strafbarkeit nach DDR-Recht nach der Staatspraxis der DDR nicht verfolgt wurden. Deswegen hat der Gesetzgeber eine spezielle - und damit gegenüber Art. 315 Abs. 1 EGStGB vorrangige - Sonderregelung für Verjährungskonkurrenzen geschaffen (BGH, Urt. vom 20. Oktober 1993 aaO S. 9; so auch Geiger JR 1992, 397 f.; Krehl DtZ 1992, 13, 14).
3. Der Auffassung des Senats, daß Art. 315 a Satz 1 EGStGB die weitere Verfolgbarkeit der Tat ermöglicht, steht nicht entgegen, daß die Tat nicht nur in der DDR, sondern wegen des Schusses über die Grenze auch in der Bundesrepublik begangen wurde. Der Senat ist der Auffassung, daß nach der durch den Einigungsvertrag geschaffenen Rechtslage bei DDR-Alttaten, die nach dem StGB und nach dem StGB-DDR strafbar waren, der noch unverjährte DDR-Strafanspruch auch dann verfolgt werden kann, wenn der originäre Strafverfolgungsanspruch der Bundesrepublik nach den Vorschriften des StGB bereits vor dem Beitritt der DDR verjährt war (so auch KG NStZ 1992, 542, 543; Dreher/Tröndle, StGB 46. Aufl. vor § 3 Rdn. 55, 56; König NStZ 1991, 566, 569 und 1992, 185, 186; Wasmuth NStZ 1991, 161, 164; Liebig NStZ 1991, 372, 374; Geiger JR 1992, 397, 398; Tröndle, Pötz-Festschrift 1993 S. 241 ff.. AA Grünwald StV 1992, 337; Küpper JuS 1992, 723, 725; Lemke/Hettinger NStZ 1992, 21, 24. Vgl. auch Riedel DtZ 1992, 162, 167 und Breymann NStZ 1991, 463).
Dem steht der Wortlaut des Art. 315 Abs. 4 EGStGB nur scheinbar entgegen, wonach das StGB für Straftaten maßgebend bleibt, auf die es - wie hier - von Anfang an anwendbar war. Auch hier ist die Gesamtregelung zu beachten: Art. 315 Abs. 1 EGStGB enthält die allgemeine Regel, welche i.V.m. § 2 Abs. 3 StGB die Anwendung des milderen Gesetzes vorschreibt. Art. 315 Abs. 4 und Art. 315 a Satz 1 EGStGB erweitern demgegenüber die Strafbarkeit und Verfolgbarkeit, indem sie jeweils in bestimmter Hinsicht die Anwendung des Meistbegünstigungsprinzips einschränken.
Art. 315 Abs. 4 EGStGB soll nach seinem Normzweck verhindern, daß eine vor dem Beitritt in der Bundesrepublik entstandene Strafbarkeit über Art. 315 Abs. 1 EGStGB entfällt, wenn die Tat nach dem Recht der DDR nicht strafbar war (so auch König NStZ 1992, 185, 186; Lippold NJW 1992, 18, 19 m.w.Nachw.). Nach dem Sinn und Zweck des Art. 315 a Satz 1 EGStGB sollen unverjährte DDR-Alttaten weiterhin verfolgt werden, unabhängig davon, ob sie nach dem Recht der Bundesrepublik bereits verjährt waren.
Die in Art. 315 Abs. 4 EGStGB zum Ausdruck kommende Priorität des StGB regelt das materielle Strafrecht. Vorrang hat danach der originäre Strafanspruch der Bundesrepublik, "soweit er noch existent ist" (vgl. Tröndle aaO S. 245). Das Recht der Verjährung - primär prozessuales Recht (BVerfGE 25, 286 f.) - ist nicht in dieser Vorschrift, sondern davon getrennt geregelt worden in Art. 315 a EGStGB (KG aaO). Für die Anwendbarkeit des Art. 315 a Satz 1 EGStGB spricht nicht nur sein Wortlaut und seine von der materiellrechtlichen Regelung in Art. 315 EGStGB getrennte Stellung, sondern auch, daß es keinesfalls der Wille des Gesetzgebers des Einigungsvertrages war, ausgerechnet die nach DDR-Recht noch nicht verjährte, aus politischen Gründen nicht verfolgte "Staatskriminalität" mit dem Beitritt verjähren zu lassen. Gemeinsam ist den Vorschriften, daß eine Besserstellung solcher Täter durch den Beitritt nicht erreicht, sondern vermieden werden sollte (BGH aaO S. 7; König NStZ 1991, 566 und 1992, 186; Tröndle aaO S. 245; Riedel aaO S. 164; Sauter DtZ 1992, 171).
Folgte man der entgegenstehenden Auffassung, hätten die im Jahre 1990 vor dem Beitritt bereits von den DDR-Behörden eingeleiteten Ermittlungsverfahren nach dem 3. Oktober 1990 eingestellt werden müssen, obwohl die Taten nach dem Recht der DDR noch verfolgbar waren. Daß die Partner des Einigungsvertrages - auf Seiten der DDR die demokratisch gewählte Regierung - ausgerechnet diese Fälle für erledigt erklären wollten, ist auszuschließen. Das kommt eindeutig zum Ausdruck auch im (nachträglichen) Gesetzgebungsverfahren zum Verjährungsgesetz vom 26. März 1993, BGBl I 392 (vgl. Gesetzesantrag des Bundesrates vom 22.7.1992 - BT-Drucks. 12/3080 S. 6; Ausschußempfehlung des Bundesrates vom 15.5.1992 - BR-Drucks. 141/92 S. 7 bis 10; Beschlußempfehlung des Rechtsausschusses des Bundestages vom 18.1.1993 - BT-Drucks. 12/4140 S. 6). Durch die Einfügung von Satz 2 n.F. in Art. 315 a EGStGB sollte nach den Begründungen die Rechtslage im oben dargelegten Sinne "klargestellt" werden. Geändert wurde die bestehende Rechtslage für den vorliegenden Fall dadurch nicht, sondern die hier vertretene Auffassung wird durch klarstellende Willensbekundung des Gesetzgebers untermauert.
Somit gilt, daß die bis zum Beitritt bestehende und nicht verjährte Verfolgbarkeit von Alttaten in der DDR nicht beseitigt, sondern so wie sie bestand auf die Bundesrepublik übergegangen ist (vgl. auch Samson NJW 1991, 335 ff.: Die Bundesrepublik hat mit dem Beitritt die Rechtspositionen der DDR übernommen; Tröndle aaO S. 245; vgl. auch BGHSt 38, 1, 2). Damit wird nicht ein "erloschener Strafanspruch revitalisiert". Mit dem Einigungsvertrag hat die Bundesrepublik vielmehr Pflichten übernommen aus Rechten, welche die DDR-Regierung eingebracht hat. Dazu gehört die Strafverfolgungskompetenz für solche Alttaten in der DDR, die dort nicht verjährt waren. Ein Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot ist daher auch nicht erkennbar.
Der Angeklagte kann nicht einen schutzwürdigen Vertrauenstatbestand daraus herleiten, daß der (originäre) Strafanspruch der Bundesrepublik nach dem StGB verjährt war (vgl. König NStZ 1991, 566, 569 m.w.Nachw.), da die Tat in seinem Rechtskreis noch verfolgt werden konnte. Ein Vertrauenschutz in den Fortbestand des DDR-Regimes, das solche Taten nicht verfolgte, bestand ebenfalls nicht.
Der Strafausspruch hat keinen Bestand. Das Landgericht hätte den außerordentlich langen Zeitablauf von 24 Jahren seit der Tat bereits bei der Frage erörtern müssen, ob ein "sonst minder schwerer Fall" im Sinne des § 213 StGB vorlag. Die Einbeziehung dieses Umstandes hätte möglicherweise zusammen mit der ganz besonderen Situation, in welcher der Angeklagte im Rahmen seines Dienstverhältnisses stand, die Annahme eines minder schweren Falles begründen können.
Auch im übrigen kann der Strafausspruch durch die gegenüber der Senatsentscheidung in Teilen abweichende Rechtsauffassung des Landgerichts beeinflußt sein: Entgegen der Auffassung des Landgerichts kann dem Angeklagten nicht angelastet werden, daß er den Flüchtling nicht mit gezogener Waffe über die Grenze zurückgeholt hat.
Externe Fundstellen: BGHSt 40, 48; NJW 1994, 2237; NStZ 1994, 329
Bearbeiter: Rocco Beck