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HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 525

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 30/24, Beschluss v. 20.02.2024, HRRS 2024 Nr. 525


BGH 1 StR 30/24 - Beschluss vom 20. Februar 2024 (LG München I)

Verhängung von Jugendstrafe (schädliche Neigungen des Angeklagten: erforderliche Gesamtbetrachtung, Vorliegen noch zum Urteilszeitpunkt).

§ 17 Abs. 2 JGG

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts München I vom 10. Oktober 2023 aufgehoben

a) im sie betreffenden Strafausspruch und

b) in der Einziehungsanordnung mit den zugehörigen Feststellungen; dies gilt in den betreffenden acht Fällen auch zugunsten der Mitangeklagten V. .

2. Die weitergehende Revision wird als unbegründet verworfen.

3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Jugendkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat die Angeklagte wegen Betrugs in acht Fällen zu einer Einheitsjugendstrafe von einem Jahr verurteilt und deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt; zudem hat es gegen die Angeklagte die Einziehung des Wertes von Taterträgen in Höhe von 69.000 € angeordnet. Die gegen ihre Verurteilung gerichtete, auf die Sachrüge gestützte Revision der Angeklagten hat, betreffend die Einziehung auch zugunsten der nichtrevidierenden Mitangeklagten V. (§ 357 Satz 1 StPO), den aus der Beschlussformel ersichtlichen Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO); der Schuldspruch birgt hingegen keinen Rechtsfehler zu ihren Lasten (§ 349 Abs. 2 StPO).

Der Rechtsfolgenausspruch hält der sachlichrechtlichen Überprüfung nicht stand.

a) Die Annahme schädlicher Neigungen (§ 105 Abs. 1 Nr. 1, § 17 Abs. 2 Alternative 1 JGG) begegnet mit der hierfür gegebenen Begründung durchgreifenden Bedenken.

aa) Schädliche Neigungen im Sinne des § 17 Abs. 2 JGG sind erhebliche Anlage- oder Erziehungsmängel, die ohne längere Gesamterziehung des Täters die Gefahr weiterer Straftaten begründen. Sie können in der Regel nur bejaht werden, sofern erhebliche Persönlichkeitsmängel schon vor der Tat, wenn auch unter Umständen verborgen, angelegt waren. Sie müssen schließlich noch zum Urteilszeitpunkt bestehen und weitere Straftaten des Angeklagten befürchten lassen (st. Rspr.; BGH, Urteile vom 29. Juni 2023 - 3 StR 56/23 Rn. 7; vom 3. März 2021 - 2 StR 218/20 Rn. 22 und vom 6. Februar 2020 - 3 StR 331/19 Rn. 12 mwN; Beschluss vom 8. Januar 2015 - 3 StR 581/14 Rn. 5).

bb) Diesen Vorgaben wird das Urteil nicht gerecht.

(a) Das Landgericht hat sich nicht mit der Persönlichkeitsentwicklung der nicht vorgeahndeten Angeklagten vor der Tatserie, insbesondere nicht mit etwaigen daraus ersichtlichen Erziehungsdefiziten, auseinandergesetzt, sondern die schädlichen Neigungen allein mit der Begehung der Betrugstaten begründet (UA S. 38 f.; vgl. BGH, Beschlüsse vom 4. Mai 2016 - 3 StR 78/16 Rn. 6 und vom 26. Januar 2016 - 3 StR 473/15 Rn. 5). Die erforderliche Gefahrenprognose im Hinblick auf zukünftig zu erwartende Straftaten fehlt. Das Geständnis der Angeklagten, ihre Entschuldigung gegenüber den beiden Betrugsopfern und die von ihr ernsthaft erstrebte Schadenswiedergutmachung als gewichtige ihr günstige Umstände bleiben unerörtert.

(b) Auch die Begründung der schädlichen Neigungen zum Urteilszeitpunkt erweist sich als unzulänglich. Das Landgericht hat allein darauf abgestellt, dass die Angeklagte mit der Betreuung ihrer beiden unter einer Stoffwechselerkrankung leidenden Kleinkinder „ausgelastet“ sei (UA S. 39) und daher nach wie vor kein Einkommen aus einer Erwerbstätigkeit erzielen könne. Dies besagt nichts über die weitere Persönlichkeitsentwicklung der nunmehr erwachsenen Angeklagten und eine etwaige „Nachreifung“. Vielmehr hätte das Landgericht erörtern müssen, dass die letzte Tat zum Schluss der Verhandlung rund zwei Jahre zurücklag und die Angeklagte seitdem nicht erneut straffällig geworden ist (vgl. BGH, Beschlüsse vom 9. Juli 2015 - 2 StR 170/15 Rn. 8; vom 24. Februar 2015 - 4 StR 37/15 Rn. 7 und vom 13. November 2013 - 2 StR 455/13, BGHR JGG § 17 Abs. 2 Schädliche Neigungen 11 Rn. 9).

(c) Diese Erörterungsmängel erfordern eine erneute tatgerichtliche Würdigung. Die Feststellungen bleiben hiervon unberührt und damit aufrechterhalten (§ 353 Abs. 2 StPO). Sie können um solche ergänzt werden, die ihnen nicht widersprechen.

b) Die Einziehungsanordnung (§ 73 Abs. 1 Alternative 1, § 73c Satz 1 StGB) hat ebenfalls keinen Bestand. Die Angeklagte hat sich, wie im Urteil ausgeführt wird (UA S. 10), mit der Verrechnung einer von ihr in Höhe von 70.000 € geleisteten Sicherheit, aufgrund derer sie vom weiteren Vollzug eines Untersuchungshaftbefehls verschont worden war, zur Schadenswiedergutmachung einverstanden erklärt. Mit einem wirksamen Verzicht auf die Rückzahlung des hinterlegten Betrages könnte die Angeklagte den staatlichen Zahlungsanspruch aus § 73 Abs. 1, § 73c Satz 1 StGB erfüllt haben (vgl. BGH, Beschlüsse vom 17. November 2020 - 4 StR 373/20 Rn. 3; vom 6. Februar 2019 - 5 StR 560/18 Rn. 5 und vom 11. Dezember 2020 - 5 StR 198/18, BGHSt 63, 305 Rn. 22 f., 33). Die rudimentären Ausführungen hierzu (vgl. auch UA S. 41) lassen indes die revisionsgerichtliche Überprüfung einer tatsächlich schon eingetretenen Erfüllungswirkung (vgl. § 362 Abs. 1, §§ 378, 376 Abs. 1 Nr. 1, 2 BGB iVm Art. 18 ff. des Bayerischen Hinterlegungsgesetzes in der Fassung vom 23. Mai 2022; § 116 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 Alternative 1 StPO) nicht zu.

Gemäß § 357 Satz 1 StPO ist die Aufhebung der Einziehungsanordnung in den sechs Betrugsfällen zu Lasten des Zeugen A. und in den zwei zu Lasten des Zeugen B. mit einem Gesamtbetrag von 69.000 € auf die Mitangeklagte V. zu erstrecken.

HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 525

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede