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HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 1049

Bearbeiter: Christoph Henckel

Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 69/23, Urteil v. 12.07.2023, HRRS 2023 Nr. 1049


BGH 1 StR 69/23 - Urteil vom 12. Juli 2023 (LG Heidelberg)

Tatrichterliche Beweiswürdigung (Anforderungen an ein freisprechendes Urteil).

§ 261 StPO; § 267 Abs. 5 Satz 1 StPO

Entscheidungstenor

1. Die Revision des Nebenklägers gegen das Urteil des Landgerichts Heidelberg vom 9. September 2022 wird verworfen.

2. Der Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels und die dem Angeklagten dadurch entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.

Gründe

Dem Angeklagten ist in den unverändert zur Hauptverhandlung zugelassenen Anklageschriften zur Last gelegt worden, seinen Mitbewohner, den Nebenkläger C., in der gemeinsam genutzten Wohnung in H. in drei Fällen körperlich angegriffen und sich dadurch jeweils der gefährlichen Körperverletzung, davon in einem Fall versucht und in einem Fall in Tateinheit mit versuchtem Totschlag, schuldig gemacht zu haben. Das Landgericht hat den Angeklagten freigesprochen. Mit seiner auf die Verletzung materiellen Rechts gestützten Revision erstrebt der Nebenkläger zulässig (§ 400 Abs. 1 StPO) die Verurteilung wegen dieser Delikte. Das vom Generalbundesanwalt teilweise vertretene Rechtsmittel hat keinen Erfolg.

I.

1. Das Landgericht hat folgende Feststellungen getroffen:

Der Angeklagte wurde im Februar 2021 von der Stadt H. in eine Wohnung zur Unterbringung von Flüchtlingen und Obdachlosen in H., die der Nebenkläger schon seit mehreren Jahren bewohnte, eingewiesen. Bereits wenige Wochen nach seinem Einzug kam es zu verbal aggressiven Auseinandersetzungen zwischen den beiden Männern, die auch in gegenseitigen Anzeigen bei der Polizei mündeten.

a) Am 9. Mai 2021 gegen 9.00 Uhr stritten der Angeklagte und der Nebenkläger zunächst verbal über das Zusammenleben in der gemeinsam genutzten Wohnung. Im weiteren Verlauf schlug der Angeklagte dem Nebenkläger mit einem Staubsaugerrohr mindestens zwei Mal auf dessen Unterarme, wodurch dieser Schmerzen und Hämatome erlitt. Nicht ausgeschlossen werden konnte, dass der Nebenkläger ihm unmittelbar zuvor gedroht hatte, ihm eine Schere in den Hals zu rammen und die Handlung des Angeklagten zu seiner Verteidigung erfolgte (Fall II. Tat 1 der Urteilsgründe).

b) Einen Tag später ergriff der Nebenkläger im Zuge einer Streitigkeit mit dem Angeklagten ein Messer und forderte diesen auf, die Wohnung zu verlassen. Der Angeklagte nahm daraufhin eine in der Küche liegende Handsäge und deutete dem Nebenkläger an, dass er nicht zurückweichen werde. Nachdem der Angeklagte, um seine Entschlossenheit zu unterstreichen, mit der Säge auf einen Tisch geschlagen hatte, legte zunächst der Nebenkläger das Messer und im Anschluss der Angeklagte die Säge aus der Hand (Fall II. Tat 2 der Urteilsgründe).

c) Am 4. März 2022 gegen 20.10 Uhr kehrte der Angeklagte in die Wohnung zurück, um für seinen am Folgetag geplanten Umzug zu packen. Um sich in der Küche ein Sandwich zuzubereiten, verließ er sein Zimmer und hielt dabei eine Tomate sowie ein Küchenmesser mit einer Klingenlänge von 20 Zentimeter in den Händen. Direkt danach wurde der Angeklagte mindestens zwei Mal wuchtig ins Gesicht geschlagen; mindestens einen dieser Schläge führte der Nebenkläger aus. Der stark aus Mund und Nase blutende Angeklagte stach unmittelbar darauf dem Nebenkläger - nicht ausschließbar zu seiner Verteidigung - mit dem Küchenmesser drei Mal in den Oberkörper, wobei er dessen Tod billigend in Kauf nahm. Dem lebensgefährlich verletzten Nebenkläger gelang es, die Wohnung zu verlassen, bevor er auf einer vor dieser befindlichen Wiese nach Hilfe rufend zusammenbrach. Dank der schnellen medizinischen Versorgung überlebte er (Fall II. Tat 3 der Urteilsgründe).

2. Zur Begründung des Freispruchs hat das Landgericht ausgeführt, der Angeklagte sei in den Fällen II. Tat 1 und II. Tat 3 der Urteilsgründe nicht ausschließbar durch Notwehr (§ 32 StGB) gerechtfertigt gewesen. Für die Tat vom 4. März 2022 hat es keinen Anhaltspunkt für die in der Anklageschrift angenommene zeitliche Zäsur zwischen dem Schlag durch den Nebenkläger und den Messerstichen durch den Angeklagten zu sehen vermocht. Im Übrigen (Fall II. Tat 2 der Urteilsgründe) erfülle der festgestellte Sachverhalt keinen Straftatbestand.

II.

Die Revision des Nebenklägers hat keinen Erfolg; die den Freispruch tragende Beweiswürdigung hält sachlichrechtlicher Nachprüfung stand.

1. Spricht das Tatgericht den Angeklagten frei, weil es Zweifel an dessen Täterschaft oder Schuld nicht zu überwinden vermag, ist dies durch das Revisionsgericht hinzunehmen. Denn die Beweiswürdigung ist grundsätzlich Sache des Tatgerichts. Der Beurteilung durch das Revisionsgericht unterliegt insoweit nur, ob ihm dabei Rechtsfehler unterlaufen sind. Dies ist der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist oder gegen die Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt. Dabei hat das Revisionsgericht die tatrichterliche Ãœberzeugungsbildung selbst dann hinzunehmen, wenn eine andere Beurteilung nähergelegen hätte (st. Rspr.; vgl. etwa BGH, Urteil vom 2. Juni 2022 - 1 StR 47/22 Rn. 13 mwN). Rechtlich zu beanstanden sind die Beweiserwägungen weiterhin dann, wenn sie erkennen lassen, dass das Gericht überspannte Anforderungen an die zur Verurteilung erforderliche Ãœberzeugungsbildung gestellt hat oder von einem unzutreffenden Verständnis der Reichweite des Zweifelssatzes ausgegangen ist (st. Rspr.; vgl. etwa BGH, Urteil vom 16. März 2023 - 4 StR 252/22 Rn. 10 mwN).

2. Derartige Mängel zeigt das Urteil nicht auf.

a) Hinsichtlich der Tat vom 4. März 2022 (Fall II. Tat 3 der Urteilsgründe) hat weder der Angeklagte, der sich in Bezug auf den Messereinsatz auf Erinnerungslücken beruft, noch der Nebenkläger glaubhafte Darstellungen dazu abgegeben, wie es zu den belegten Stichverletzungen des Nebenklägers kam. Zeugen der unmittelbaren Tathandlung des Angeklagten gab es nicht.

aa) Das Landgericht hat aus den durch die Beweisaufnahme gewonnenen Erkenntnissen mögliche Schlüsse gezogen und auf dieser Grundlage rechtsfehlerfrei eine Notwehr des Angeklagten für möglich gehalten. Dabei hat es die Einlassung des Angeklagten zu den gegen ihn geführten Faustschlägen, die durch die Zeugen K. und S., wenn auch mit sich widersprechender chronologischer Reihenfolge, gestützt wurden, gewürdigt. Bestätigung fanden diese auch durch die Ausführungen der rechtsmedizinischen Sachverständigen, die u.a. bei dem Nebenkläger an der rechten Hand typische durch einen Faustschlag gegen Gesichtsknochen verursachte Verletzungen feststellen konnte sowie den Feststellungen zum Spurenbild an der Tatörtlichkeit, die keinen Hinweis auf ein dynamisches Kampfgeschehen ergeben haben.

bb) Die Beweiswürdigung ist nicht lückenhaft. Das Landgericht hat die wesentlichen für die Entscheidungsfindung bedeutsamen Gesichtspunkte erörtert und diese auch im Rahmen der erforderlichen Gesamtschau (vgl. nur BGH, Urteil vom 14. Dezember 2022 - 1 StR 311/22 Rn. 14 mwN) abgewogen.

Anders als vom Generalbundesanwalt vertreten, hat das Landgericht die Angaben der Zeugen nicht nur isoliert, sondern jeweils im Lichte der Angaben der anderen Zeugen (insbesondere UA S. 22, 25 am Ende, 29, 31) sowie der weiteren angefallenen Erkenntnisse im Rahmen einer im Ergebnis ausreichenden Gesamtschau (UA S. 44 ff.) gewürdigt. Sonstige den Bestand des Urteils gefährdende Lücken weist die Beweiswürdigung nicht auf. Das Tatgericht ist nicht gehalten, sich mit allen Beweismitteln in den schriftlichen Urteilsgründen auseinanderzusetzen. Es muss nur die wesentlichen beweiserheblichen Umstände erörtern (vgl. BGH, Urteil vom 24. Januar 2006 - 5 StR 410/05 Rn. 12; Beschluss vom 31. Januar 2023 - 5 StR 503/22).

cc) Entgegen der Ansicht des Generalbundesanwalts besorgt der Senat auch nicht, das Landgericht habe überspannte Anforderungen an die für die Verurteilung erforderliche Gewissheit gestellt. Durch die vom Landgericht gewählte Formulierung, wonach „die vom Angeklagten ausgeführten Messerstiche (…) nicht ausschließbar durch Notwehr gemäß § 32 StGB gerechtfertigt“ waren (UA S. 5) und dass nicht ausgeschlossen werden konnte, dass die Messerstiche zeitlich im unmittelbaren Fortgang des Geschehens erfolgten (UA S. 44), offenbart dieses keinen falschen Maßstab für die richterliche Ãœberzeugungsbildung. Wenn sichere Feststellungen zu Einzelheiten des inneren oder äußeren Geschehens trotz Ausschöpfung aller verfügbaren Beweismittel und Beweisanzeichen nicht getroffen werden können, so darf sich dies nicht zu Lasten des Angeklagten auswirken. Es ist vielmehr von der für den Angeklagten günstigsten Möglichkeit auszugehen, die nach den gesamten Umständen in Betracht kommt (vgl. BGH, Urteil vom 5. Oktober 1990 - 2 StR 347/90, BGHR StGB § 32 Abs. 2 Angriff 4 unter III.1. mwN). Dies gilt auch dann, wenn aus tatsächlichen Gründen die Voraussetzungen des § 32 StGB nicht eindeutig auszuschließen sind, weil nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme begründete Zweifel bleiben, ob die Tat gerechtfertigt ist oder nicht (vgl. BGH, Urteile vom 26. August 2004 - 4 StR 236/04 Rn. 14 mwN und vom 21. März 2017 - 1 StR 486/16 Rn. 29). Hiervon ausgehend hat das Landgericht rechtsfehlerfrei nur auf die Anwendung des Zweifelssatzes hingewiesen.

b) Auch hinsichtlich der Taten II. Tat 1 und Tat 2 der Urteilsgründe hat die sachlichrechtliche Nachprüfung des Urteils, wie auch vom Generalbundesanwalt in seiner Antragsschrift ausgeführt, keine den Nebenkläger beschwerenden Rechtsfehler (§ 400 Abs. 1 StPO) aufgedeckt.

HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 1049

Bearbeiter: Christoph Henckel