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HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 781

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 431/23, Urteil v. 16.04.2024, HRRS 2024 Nr. 781


BGH 1 StR 431/23 - Urteil vom 16. April 2024 (LG München I)

Schuldunfähigkeit (Bestimmung anhand psychodiagnostischer Kriterien).

§ 20 StGB; § 261 StPO

Entscheidungstenor

Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts München I vom 7. Juli 2023 wird verworfen.

Der Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels und die den Nebenklägern im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchten Mordes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung sowie wegen gefährlicher Körperverletzung in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von elf Jahren verurteilt. Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützten Revision. Der Generalbundesanwalt hält die Revision insoweit für begründet, als das Landgericht die Annahme verminderter Schuldfähigkeit abgelehnt hat. Das Rechtsmittel hat keinen Erfolg.

I.

1. Nach den Feststellungen des Landgerichts feierten in der Nacht vom 19. auf den 20. Juni 2021 etwa 100 Personen friedlich im Bereich der brücke in M. Gegen 3.50 Uhr trat der Angeklagte wütend und verärgert an den ihm unbekannten Geschädigten S. heran und fragte diesen: „Wo ist meine Kette?“. Eine Antwort wartete er nicht ab, sondern schlug ihm sofort eine Bierflasche aus Glas gegen Kiefer und Zähne, um ihn zu verletzen. Durch den heftigen Schlag zerbrach die Flasche. Der Geschädigte, bei dem drei Zahnkronen im Oberkiefer abgebrochen und die Frontzähne im Unterkiefer gelockert worden waren, blutete aus dem Mund. Der Angeklagte versetzte ihm sofort mit der abgebrochenen scharfkantigen Glasflasche einen weiteren kraftvollen Schlag in das Gesicht und nahm billigend in Kauf, dass er dadurch tödliche Verletzungen verursachen könnte. Die Flasche zersplitterte und fiel zu Boden. Der Geschädigte erlitt zahlreiche blutende Schnittverletzungen um das linke Auge und an der Nasenwurzel.

Der Angeklagte holte sich nun eine leere Glasflasche Bier und schlug den Flaschenboden ab. Dann lief er mit der Flasche erneut auf den Geschädigten S. zu. Diesem gelang es, den in Richtung seines Kopf- und Halsbereichs geführten Schlag abzumildern, so dass eine scharfe Bruchkante der Glasflasche nur mit verminderter Wucht auf sein Gesicht traf und zu einer langen Schnittwunde führte. Auch bei diesem Schlag hatte der Angeklagte die Verursachung tödlicher Verletzungen billigend in Kauf genommen. Er erkannte allerdings nach Ausführung des Schlages, dass er dem Geschädigten solche Verletzungen noch nicht zugefügt hatte und ihn weiter mit der abgebrochenen Flasche angreifen könnte. Dennoch entfernte er sich einige Meter in Richtung eines Kiosks und warf die Flasche weg.

Nun beschloss der Angeklagte, seine Wut und Verärgerung an einer weiteren Person abzureagieren. Wieder hob er eine Bierflasche vom Boden auf, schlug ihr den Boden ab und lief in Richtung des Geschädigten P., der sich mit Bekannten unterhielt. Der Angeklagte wollte dessen Ahnungslosigkeit ausnutzen, lief bogenförmig um die Gruppe herum und näherte sich dem Geschädigten P. schnell und wortlos von hinten. Anschließend schlug er ihm mit einer seitlich geführten, sichelförmigen Bewegung von oben nach unten im Vorbeilaufen kraftvoll und gezielt die scharfen Kanten der Flasche in den Bereich von Hinterkopf und Nacken. Tödliche Verletzungen hielt er für möglich und nahm sie billigend in Kauf. Der Schlag verursachte eine große klaffende, teilweise bis zum Knochen reichende Wunde und eröffnete die linke Hinterhauptschlagader. Den starken spritzenden Blutaustritt nahm der Angeklagte wahr und erkannte, dass er dem Geschädigten eine tödliche Verletzung zugefügt haben könnte. Das war ihm jedoch gleichgültig. Er entfernte sich etwas, blieb stehen, blickte zurück zu dem Geschädigten und rief: „I remember your face.“.

Dann hob er eine Bierflasche aus Glas vom Boden auf und warf diese ungezielt in Richtung von P., um seine weitere Verärgerung abzureagieren. Er traf die in dessen Nähe stehende Geschädigte Se. am Kopf und verletzte sie dadurch. Im Anschluss lief er schnell weg.

2. Das Landgericht hat beim Angeklagten eine erhebliche Verminderung der Steuerungsfähigkeit (§ 21 StGB) verneint und lediglich eine Enthemmung infolge des dem Tatgeschehen vorausgegangenen Konsums von Alkohol und einer vom Körper noch nicht vollständig abgebauten Ecstasy-Tablette angenommen. Es hat den Erhalt der Steuerungsfähigkeit alleine auf psychodiagnostische Kriterien gestützt, weil Zeiten und jeweilige Trinkmenge infolge unzureichender Angaben des Angeklagten nicht eingrenzbar waren und eine aussagekräftige Berechnung der Blutalkoholkonzentration deshalb nicht möglich war.

Nach psychodiagnostischen Kriterien sei der Angeklagte voll schuldfähig gewesen. Die Tat stelle sich als persönlichkeitsimmanente Handlung des Angeklagten mit geringem enthemmenden Einfluss von Rauschmitteln dar. Das Landgericht folgte insoweit der Einschätzung der rechtsmedizinischen, psychiatrischen und psychologischen Sachverständigen. Nach den Gutachten der psychiatrischen und psychologischen Sachverständigen zeigte die Persönlichkeit des Angeklagten deutlich impulsive, dissoziale, frustrationsintolerante und gewaltbereite Züge im Sinne einer Akzentuierung der Persönlichkeit.

Darüber hinaus hat sich das Landgericht auch darauf gestützt, dass Zeugen keine alkoholbedingten Ausfallerscheinungen während des Tatgeschehens beobachteten. Der Angeklagte sei in der Lage gewesen, dem Geschädigten P. aus dem Lauf die abgeschlagene Bierflasche gezielt in den Bereich von Nacken und Hinterkopf zu schlagen. Dies belege beachtenswerte feinmotorische Fähigkeiten bei der Vornahme einer außeralltäglichen Handlung und ein erhaltenes Vermögen, den Handlungsplan an die Situation anzupassen. Auch auf den Videoaufzeichnungen des nahegelegenen Kiosks zwischen 2.25 Uhr und 2.54 Uhr zeige der Angeklagte keine Ausfallerscheinungen. Dass der auf den Aufnahmen sichtbare, dunklere Fleck im Schritt des Angeklagten von einem Einnässen infolge übermäßigen Alkoholkonsums stammen könnte, sei auszuschließen, weil sich der Angeklagte dann zu einem nahen Zeitpunkt vorher im Zustand einer Bewusstseinsstörung hätte befunden haben müssen. Dies sei jedoch im Hinblick auf sein zur Zeit der Videoaufnahmen gezeigtes Verhalten aus sachverständiger Sicht nicht vorstellbar gewesen.

Die Videoaufzeichnung des Kiosks über das Vortatgeschehen und das Tatgeschehen mit den Angriffen auf die drei Geschädigten zeigten zudem - so das rechtsmedizinische Gutachten - einen Verlauf in Phasen, der eine vorhandene Steuerungsfähigkeit belege. Der Angeklagte habe sich zwischen den Angriffen auf die Geschädigten S., P. und Se. jeweils beruhigt und entfernt. Bei dem telefonisch verabredeten Zusammentreffen mit dem Zeugen H. 20 Minuten nach der Tat sei seine Steuerungsfähigkeit sicher vorhanden gewesen.

II.

Die Revision des Angeklagten hat keinen Erfolg.

Die auf die Sachrüge veranlasste umfassende materiellrechtliche Überprüfung des Urteils hat zum Schuld- und Strafausspruch sowie zum Absehen von der Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB) keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben.

Insbesondere hat das Landgericht einen möglichen Rücktritt des Angeklagten vom versuchten Mord zum Nachteil des Geschädigten P. rechtsfehlerfrei verneint und eine erheblich verminderte Steuerungsfähigkeit des Angeklagten bei allen Taten rechtsfehlerfrei ausgeschlossen.

Da die Menge des vor dem Tatgeschehen konsumierten Alkohols nicht konkret festgestellt werden konnte, hat die Strafkammer die Prüfung der Steuerungsfähigkeit ohne Rechtsfehler anhand psychodiagnostischer Kriterien vorgenommen (UA S. 67; BGH, Urteile vom 11. Januar 2024 - 3 StR 280/23 Rn. 21; vom 26. November 1998 - 4 StR 406/98 Rn. 8 und vom 6. März 1997 - 1 StR 8/97 Rn. 9; je mwN). Dem Landgericht war auch bewusst, dass sich regelmäßig allein aus planvollem und situationsgerechtem Vorgehen, das lediglich den Tatvorsatz umsetzt, oder der Flucht des Täters vom Tatort keine tragfähigen Schlüsse auf die Steuerungsfähigkeit des Täters ziehen lassen, weil das Hemmungsvermögen nicht mit zweckrationalem Handeln gleichgesetzt werden darf. Das Landgericht hat auch berücksichtigt, dass bei alkoholgewöhnten Tätern - wie hier - äußeres Leistungsverhalten und innere Steuerungsfähigkeit weit auseinanderfallen können (st. Rspr.; z.B. BGH, Beschluss vom 2. Mai 2023 - 1 StR 41/23 Rn. 25 mwN). Insoweit hat das Landgericht rechtsfehlerfrei gesehen, dass wegen der Alkoholgewöhnung des Angeklagten dem Umstand, dass er nach Zeugenangaben schnell und flüssig gegangen, gerannt und nicht geschwankt sei - also keine Auffälligkeiten bei Motorik und Standsicherheit zeigte - nur begrenzte Aussagekraft zukommt.

HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 781

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede