HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 757
Bearbeiter: Christoph Henckel
Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 394/22, Urteil v. 16.05.2023, HRRS 2023 Nr. 757
1. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Essen vom 30. März 2022 mit den Feststellungen aufgehoben.
2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Wirtschaftsstrafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das Landgericht hat den Angeklagten vom Vorwurf, in 16 Fällen Beihilfe zur Steuerhinterziehung geleistet zu haben, aus tatsächlichen Gründen freigesprochen. Die hiergegen gerichtete Revision der Staatsanwaltschaft, die die Verletzung allein materiellen Rechts beanstandet, hat Erfolg.
1. Das Landgericht hat Folgendes festgestellt und gewertet:
a) Der Angeklagte, seit Mitte der 1980er-Jahre als Rechtsanwalt tätig, vereinbarte im Sommer 2013 mit dem gesondert verfolgten und als Haupttäter bereits rechtskräftig verurteilten F., den Zahlungsverkehr der zunächst in D. und dann in E. ansässigen unselbständigen Zweigniederlassung der polnischen Kapitalgesellschaft A. über eines seiner Anderkonten abzuwickeln. Die Zweigniederlassung der A. erzielte im Zeitraum von Juli bis Dezember 2013 im Schlachtereigewerbe umsatzsteuerpflichtige Einnahmen von mindestens 2 Mio. € (ohne Umsatzsteuer); davon gingen ab September 2013 1.512.968 € auf dem Fremdkonto des Angeklagten ein. F., der den Auftraggebern Rechnungen mit Umsatzsteuerausweis über die von der A. erbrachten Leistungen stellte, übergab zudem in den Monaten Juli und August 2013 dem Angeklagten Bargeld in Höhe von 13.220 € zur Einzahlung. Gemäß F. s Aufträgen überwies der Angeklagte fast 68.000 € an Sozialversicherungsbeiträgen an die Einzugsstellen; fast 932.000 € überließ der Angeklagte dem F. oder dem Zeugen Pa. in bar, die hiervon - wie der Angeklagte wusste - die rumänischen Arbeitnehmer bezahlten. F. beauftragte die L. und das Büro H. mit der Buchführung, gab aber gleichwohl als Verantwortlicher für die Zweigniederlassung der A. keine Umsatzsteuervoranmeldungen ab und verkürzte hierdurch Umsatzsteuer in Höhe von rund 440.000 €.
In gleicher Weise unterstützte der Angeklagte den F. und den mittlerweile verstorbenen P. beim Betrieb der unselbständigen, in E. ansässigen Zweigniederlassung der rumänischen Kapitalgesellschaft Pr., die die Geschäfte der A. übernahm. Die Zweigniederlassung erzielte im Zeitraum von Oktober 2013 bis Juli 2014 umsatzsteuerpflichtige Einnahmen von mindestens 5 Mio. € (ohne Umsatzsteuer); davon gingen 2.182.523,73 € auf dem Anwaltskonto ein. Gemäß P. s und F. s Aufträgen überwies der Angeklagte fast 128.000 € an Sozialversicherungsbeiträgen an die Einzugsstellen; 1.822.500 € überließ er dem F. oder dem Zeugen Pa. in bar, die hiervon - wie der Angeklagte wusste - die rumänischen Arbeitnehmer bezahlten. Die beiden Verfügungsberechtigten der Zweigniederlassung gaben trotz Beauftragung der L. und des Büros H. mit der Buchführung keine Umsatzsteuervoranmeldungen ab und verkürzten hierdurch Umsatzsteuer in Höhe von fast 1.040.000 €.
b) Das Landgericht hat sich in beiden Tatkomplexen nicht davon überzeugt, der sich zur Sache einlassende Angeklagte habe es im Sinne eines bedingten Vorsatzes zumindest für möglich gehalten, die Verfügungsberechtigten würden die 16 Umsatzsteuervoranmeldungen nicht abgeben (§ 370 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 4 Satz 1 Halbsatz 2 Variante 3, § 150 Abs. 1 Satz 3, § 168 Satz 1 AO; § 18 Abs. 1 UStG; §§ 16, 27, 53 Abs. 1 StGB):
Die Abwicklung des gesamten Zahlungsverkehrs der beiden Zweigniederlassungen über das Fremdkonto sei zwar ungewöhnlich, der „massive Einsatz“ von Bargeld lege „Schwarzlöhne“ nahe; gleichwohl sei die Unterstützung im Zahlungsverkehr noch plausibel, weil - vor Einführung des § 31 ZKG mit Wirkung zum 18. Juni 2016 - weder die beiden Gesellschaften noch deren Arbeitnehmer in Deutschland Bankkonten hätten eröffnen können. Der Angeklagte habe die Beauftragung der beiden Buchhaltungsfirmen nur für sinnvoll erachten dürfen, wenn die Zweigniederlassungen im Anschluss an eine ordnungsmäßige Buchführung ihren steuerlichen und sozialversicherungsrechtlichen Pflichten nachgekommen wären. Dass etwa mit den von ihm überwiesenen Beträgen die Verfügungsberechtigten der Zweigniederlassung nicht sämtliche Sozialversicherungsbeitragsschulden begleichen konnten, habe sich dem Angeklagten nicht erschließen müssen; denn hierfür hätte es einer Gegenüberstellung mit den Bargeldabhebungen bedurft.
2. Der Freispruch hält sachlichrechtlicher Nachprüfung auch bei nur eingeschränkter revisionsgerichtlicher Kontrolle nicht stand.
a) Spricht das Tatgericht einen Angeklagten frei, weil es Zweifel an für die Verurteilung erforderliche Feststellungen nicht zu überwinden vermag, so ist dies durch das Revisionsgericht in der Regel hinzunehmen. Daran ändert sich nicht einmal dann etwas, wenn eine vom Tatgericht getroffene Feststellung „lebensfremd“ erscheinen mag. Die Beweiswürdigung ist erst dann rechtsfehlerhaft, wenn sie von einem rechtlich unzutreffenden Ansatz ausgeht, lückenhaft ist, namentlich wesentliche Feststellungen nicht erörtert, widersprüchlich oder unklar ist, gegen Gesetze der Logik oder gegen gesicherte Erfahrungssätze verstößt oder an die zur Verurteilung erforderliche Gewissheit überspannte Anforderungen gestellt werden.
Freilich können und müssen die Gründe auch eines freisprechenden Urteils nicht jeden irgendwie beweiserheblichen Umstand ausdrücklich würdigen. Das Maß der gebotenen Darlegung hängt von der jeweiligen Beweislage und insoweit von den Umständen des Einzelfalles ab; dieser kann so beschaffen sein, dass sich die Erörterung bestimmter einzelner Umstände - wie hier die von der Revision vermissten weiteren Feststellungen zur Beauftragung des Angeklagten - erübrigt. Insbesondere wenn das Tatgericht auf Freispruch erkennt, obwohl nach dem Ergebnis der Hauptverhandlung ein ganz erheblicher Tatverdacht besteht, muss es allerdings in seiner Beweiswürdigung und deren Darlegung die ersichtlich möglicherweise wesentlichen gegen den Angeklagten sprechenden Umstände und Erwägungen einbeziehen und in einer Gesamtwürdigung betrachten (st. Rspr.; BGH, Urteile vom 20. September 2022 - 1 StR 14/22 Rn. 44 f.; vom 18. Mai 2020 - 1 StR 144/20 Rn. 30 f. und vom 4. Juni 2019 - 1 StR 585/17 Rn. 27 f.; je mwN). Die Schlussfolgerungen des Tatgerichts müssen möglich, keinesfalls zwingend, aber nachvollziehbar sein.
b) An diesen Maßstäben gemessen erweist sich die Beweiswürdigung als lückenhaft:
Zwar kommt den Schwarzlohnzahlungen hier für die Umsatzsteuerverkürzung - anders als für das Vorenthalten und Veruntreuen von Arbeitsentgelt (§ 266a StGB) und für Lohnsteuerhinterziehungen - keine ausschlaggebende Bedeutung zu. Denn die Beteiligten verfügten nicht über Eingangsscheinrechnungen, mit deren Hilfe zum einen die Schwarzlohnzahlungen verdeckt werden sollten und aus denen zum anderen unberechtigt Vorsteuer hätte gezogen werden sollen; dafür, dass die Schwarzlohnzahlungen gerade aus der Umsatzsteuerersparnis finanziert wurden, besteht kein hinreichender Anhalt.
Aber das Landgericht hat sich jedenfalls - ungeachtet seiner weitergehenden, auch die Teilnahme am etwaigen Vorenthalten von Sozialversicherungsbeiträgen und am Verkürzen von Lohnsteuern umfassenden Kognitionspflicht (vgl. dazu BGH, Urteil vom 23. Mai 2019 - 4 StR 601/18 Rn. 11-14; Beschlüsse vom 8. März 2023 - 1 StR 28/23 Rn. 3 und vom 20. Oktober 2022 - 1 StR 70/22 mwN) - nicht mit dem sich aufdrängenden Umstand auseinandergesetzt, dass der Angeklagte keine Umsatzsteuern vom Fremdkonto an das Finanzamt unbar abführte; dies wäre aber der einzig denkbare Zahlungsweg gewesen. In Bezug auf die Sozialversicherungsbeiträge hat das Landgericht den Beweiswert der Notwendigkeit unbarer Zahlungen erörtert; dies hätte es auch bezüglich der Umsatzsteuern tun müssen. Über ein weiteres Bankkonto verfügten die Zweigniederlassungen gerade nach Vorstellung des Angeklagten nicht (UA S. 15 letzter Absatz).
Die feste Niederlassung (Betriebsstätte) führte zu einer Umsatzsteuerpflicht in Deutschland (§ 3a Abs. 1 Satz 2 UStG). Die Nichtzahlung impliziert, dass zuvor keine entsprechenden Umsatzsteuervoranmeldungen abgegeben wurden. Diesen zentralen, gegenüber einem etwaigen Bemühen des als Zeugen vernommenen F. um eine Steuernummer weitaus gewichtigeren Gesichtspunkt hätte das Landgericht erörtern müssen. Dafür, dass sich der Angeklagte vorstellte, aufgrund hoher Vorsteuerabzugsbeträge würden die beiden Niederlassungen keine Umsatzsteuerzahllasten treffen, spricht nichts.
c) Bezüglich des objektiven Tatbestandes kommt in Betracht, dass der Angeklagte jedenfalls durch die erheblichen Bargeldabhebungen an der Nichtabgabe der Voranmeldungen, die zumindest quartalsweise abzugeben waren (vgl. § 18 Abs. 2 Sätze 1, 2, 4, 5 UStG), mitwirkte. Denn die Gutschriften enthielten, wie ausgeführt, die Umsatzsteuer, die an den Fiskus abzuführen war. Durch die Beteiligung am „Beiseiteschaffen“ der Gelder, die nicht mehr als „berufstypische neutrale“ Handlung eines Rechtsanwalts einzuordnen wäre, könnte der Angeklagte die Nichtabgabe der Umsatzsteuervoranmeldungen gefördert haben; das Vermeiden von Umsatzsteuerzahllasten und damit das endgültige „Behaltendürfen“ der Umsatzsteuerbeträge zum eigenen Vorteil setzen ein entsprechendes Verschweigen voraus, um den Fiskus dauerhaft über die erzielten Umsatzsteuerbeträge in Unkenntnis zu lassen (zur Begünstigung nach § 369 Abs. 1 Nr. 4 AO, § 257 StGB vgl. BGH, Urteil vom 26. Oktober 1998 - 5 StR 746/97 Rn. 16 ff., BGHR AO § 369 Abs. 1 Nr. 4 Begünstigung 1).
HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 757
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