HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 14
Bearbeiter: Christoph Henckel
Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 330/22, Beschluss v. 16.11.2022, HRRS 2023 Nr. 14
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Ulm vom 1. Juni 2022 aufgehoben
a) im Schuldspruch im Fall II.2 der Urteilsgründe mit den zugehörigen Feststellungen,
b) im Ausspruch über die Gesamtstrafe.
2. Die weitergehende Revision wird als unbegründet verworfen.
3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Schwurgericht zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit Bedrohung, wegen Diebstahls mit Waffen und wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte, jeweils in Tateinheit mit tätlichem Angriff auf Vollstreckungsbeamte, versuchter Körperverletzung und Beleidigung in zwei tateinheitlichen Fällen, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und drei Monaten verurteilt. Die auf die Rüge der Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten erzielt den aus der Beschlussformel ersichtlichen Erfolg; im Übrigen ist das Rechtsmittel unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.
1. Die Rüge der Verletzung formellen Rechts ist nicht ausgeführt und daher nicht in zulässiger Weise erhoben (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO).
2. Die Schuld- und Strafaussprüche in den Fällen II.1 und II.3 der Urteilsgründe weisen ebenso wie die Entscheidung über die Nichtanordnung der Maßregel gemäß § 64 StGB keine Rechtsfehler auf.
3. Im Fall II.2 der Urteilsgründe hat der Schuldspruch hingegen keinen Bestand, weil das Landgericht einen strafbefreienden Rücktritt (§ 24 Abs. 1 Satz 1 StGB) unzureichend geprüft hat.
a) Nach den hierzu getroffenen Feststellungen des Landgerichts hat der obdachlose und durch Alkohol- und Drogenkonsum in seiner Steuerungsfähigkeit nicht ausschließbar erheblich verminderte Angeklagte - nachdem er ein hochwertiges Fahrrad entwendet hatte und vom Eigentümer gestellt worden war - ein Messer mit einer Klingenlänge von neun Zentimetern aus seiner Bauchtasche gezogen und einen hinzukommenden Passanten, den Zeugen B., der sich seiner Ansicht nach „eingemischt“ hatte, damit bedroht, dass er ihn abstechen werde. Der Angeklagte führte sodann mit bedingtem Tötungsvorsatz zwei wuchtige, von unten nach oben geführte Stichbewegungen gegen den Bauch des Zeugen B. aus. Dieser konnte die Stiche jedoch mit seinem Arm abwehren, ohne verletzt zu werden; im Anschluss an die Abwehr des zweiten Stichs lief er „so schnell er konnte weg“. Der Angeklagte folgte ihm „einige Meter“ mit dem Messer in der Hand, kehrte dann aber um, da er seine Habseligkeiten zurückgelassen hatte und es ihm wichtiger war, diese zu sichern. Er hatte erkannt, dass er „nicht beides - weiter auf B. einzustechen und seine Sachen zu sichern - erreichen würde“ (UA S. 14). Anschließend verließ der Angeklagte den Tatort.
b) Das Landgericht ist rechtlich von einem fehlgeschlagenen (unbeendeten) Tötungsversuch ausgegangen. Der Angeklagte sei nicht strafbefreiend zurückgetreten, weil der Zeuge B., unmittelbar nachdem er den zweiten Messerstich abgewehrt hatte, weggerannt sei. Der Angeklagte habe seinen Angriff daher „nicht mehr wie vorgesehen fortsetzen“ können (UA S. 21). Er habe „allein deswegen“ nicht mehr versucht, auf B. einzustechen (UA S. 24).
Die rechtliche Wertung des Landgerichts, dass die versuchte Tötung des Zeugen B. durch den Angeklagten fehlgeschlagen sei, hält revisionsgerichtlicher Prüfung nicht stand.
1. Die Verneinung eines strafbefreienden Rücktritts vom versuchten Tötungsdelikt erweist sich schon deshalb als durchgreifend rechtsfehlerhaft, weil das Landgericht keine hinreichenden Feststellungen zum Vorstellungsbild des Angeklagten nach Abschluss der letzten Ausführungshandlung getroffen hat (vgl. zum „Rücktrittshorizont“ BGH, Beschluss vom 19. Mai 1993 - GSSt 1/93, BGHSt 39, 221, 227 f.). Die Erwägung des Landgerichts, dass allein aus dem Grund, dass der Zeuge B. so schnell er nur konnte weggelaufen ist, ein fehlgeschlagener Versuch vorliege, greift zu kurz.
2. Das Landgericht war nach seinen Feststellungen gehalten zu prüfen, ob es dem Angeklagten nach seinen Vorstellungen zum Zeitpunkt der Abwehr des zweiten Messerstichs durch den Zeugen B. überhaupt möglich war, den wegrennenden Zeugen B. noch einzuholen und auf ihn einzustechen. Denn es ist danach nicht sicher von einem fehlgeschlagenen Versuch auszugehen, von dem der Angeklagte nicht mehr strafbefreiend hätte zurücktreten können. Es erscheint nicht ausgeschlossen, dass der Angeklagte nach seinem Vorstellungsbild den (schwergewichtigen) weglaufenden Zeugen trotz seiner rauschbedingten Beeinträchtigung noch hätte einholen und auf ihn hätte einstechen können. Denn für die Annahme von Freiwilligkeit im Sinne des § 24 Abs. 1 StGB ist entscheidend, ob der Täter nach seinem Vorstellungsbild noch weitere Ausführungshandlungen hätte vornehmen können und damit „Herr seiner Entschlüsse“ geblieben ist (vgl. BGH, Beschlüsse vom 3. April 2014 - 2 StR 643/13 Rn. 5; vom 22. August 2017 - 3 StR 299/17 Rn. 7 und vom 7. März 2018 - 1 StR 83/18 Rn. 9).
Der Rechtsfehler nötigt zur Aufhebung des Urteils im Fall II.2 der Urteilsgründe mit den zugehörigen Feststellungen (§ 353 Abs. 2 StPO). Dies bedingt die Aufhebung der Gesamtfreiheitsstrafe. Die übrigen Einzelstrafen sind von dem Rechtsfehler nicht betroffen und bleiben daher bestehen.
Für die neue Verhandlung weist der Senat auf Folgendes hin:
Im Fall einer erneuten Verurteilung des Angeklagten wegen versuchten Totschlags ist die strafschärfende Berücksichtigung der Gefährlichkeit der gegen den Zeugen B. geführten Messerstiche mit Blick auf den angenommenen Tötungsvorsatz gemäß § 46 Abs. 3 StGB bedenklich. Des Weiteren träte eine vorausgegangene Bedrohung des Zeugen durch den Angeklagten gegenüber dem versuchten Tötungsdelikt zurück (vgl. BGH, Beschluss vom 23. Oktober 2019 - 1 StR 355/19 Rn. 5).
HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 14
Bearbeiter: Christoph Henckel