HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 873
Bearbeiter: Christoph Henckel
Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 130/22, Beschluss v. 29.06.2022, HRRS 2022 Nr. 873
I. Dem Gerichtshof der Europäischen Union werden zur Auslegung des Rahmenbeschlusses 2008/675/JI des Rates vom 24. Juli 2008 zur Berücksichtigung der in anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union ergangenen Verurteilungen in einem neuen Strafverfahren (ABI. 2008, L 220, S. 32) gemäß Artikel 267 Abs. 3 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1. Kann angesichts des Gleichbehandlungsgebots aus Artikel 3 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2008/675/JI und vor dem Hintergrund des Artikels 3 Abs. 5 des Rahmenbeschlusses 2008/675/JI bei einer an sich bestehenden Gesamtstrafenlage zwischen deutschen und EU-ausländischen Verurteilungen für die inländische Straftat auch dann eine Strafe verhängt werden, wenn eine fiktive Einbeziehung der EU-ausländischen Strafe dazu führen würde, dass das nach deutschem Recht zulässige Höchstmaß für eine Gesamtstrafe bei zeitigen Freiheitsstrafen überschritten würde?
2. Falls die erste Frage bejaht wird:
Ist die nach Artikel 3 Abs. 5 Satz 2 des Rahmenbeschlusses 2008/675/JI vorgesehene Berücksichtigung der EU-ausländischen Strafe in der Weise vorzunehmen, dass der aus der fehlenden Möglichkeit der Bildung einer nachträglichen Gesamtstrafe resultierende Nachteil - entsprechend den Grundsätzen der Gesamtstrafenbildung nach deutschem Recht - bei der Bemessung der Strafe für die inländische Straftat konkret auszuweisen und zu begründen ist?
II. Das Revisionsverfahren wird bis zur Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union über die Vorlagefragen ausgesetzt.
Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat über die Revision des Angeklagten gegen ein Urteil des Landgerichts Freiburg im Breisgau zu entscheiden, das den Angeklagten wegen besonders schwerer Vergewaltigung zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt hat.
1. Dem Vorabentscheidungsverfahren liegt folgender, vom Landgericht festgestellter Sachverhalt zugrunde:
a) Am 10. Oktober 2003 gegen 00:30 Uhr brachte der Angeklagte auf dem Gelände der Universität F. (Bundesrepublik Deutschland) eine 20-jährige Studentin unter Vorhalt eines Messers in seine Gewalt und verbrachte sie mit einem Fahrzeug in ein abgelegenes Waldstück. Dort übte er mit ihr in dem Fahrzeug gegen ihren Willen mehrere Stunden lang den analen und vaginalen Geschlechtsverkehr aus. Gegen 4:45 Uhr gelang der Studentin die Flucht.
b) Der Angeklagte ist französischer Staatsangehöriger; er ist in der Bundesrepublik Deutschland nicht vorbestraft. Sein französisches Strafregister umfasst 25 Einträge. Die fünf nachfolgend aufgeführten Verurteilungen datieren nach der verfahrensgegenständlichen Tat vom 10. Oktober 2003. Sie betreffen Taten, die der Angeklagte im Zeitraum von August 2002 bis September 2003 in Frankreich beging.
Am 30. September 2004 wurde der Angeklagte durch das Großinstanzgericht Gueret zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt.
Der Cour d’Assises du Loiret-Cher in Blois verhängte gegen den Angeklagten mit Urteil vom 29. Februar 2008 eine Freiheitsstrafe von 15 Jahren. In dieser Strafe gingen die weiteren Verurteilungen des Angeklagten vom 16. Mai 2008 durch den Cour d’Assises de la Loire-Atlantique in Nantes zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren und vom 23. April 2012 durch das Appellationsgericht in Grenoble zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten auf.
Zuletzt verurteilte der Cour d’Assises du Maineet-Loir in Angers den Angeklagten am 24. Januar 2013 zu einer weiteren Freiheitsstrafe von sieben Jahren.
c) Am 20. Oktober 2003 wurde der Angeklagte in den Niederlanden auf der Grundlage eines französischen Haftbefehls festgenommen und nach knapp sieben Monaten Auslieferungshaft am 17. Mai 2004 nach Frankreich überstellt. Dort war er ununterbrochen bis zum 23. Juli 2021 inhaftiert; von den vorgenannten Freiheitsstrafen wurden 17 Jahre und neun Monate vollstreckt. Im Anschluss wurde der Angeklagte den deutschen Behörden überstellt; er befindet sich seit dem 23. Juli 2021 aufgrund eines Haftbefehls des Amtsgerichts Freiburg im Breisgau vom 23. Juli 2004 in der Bundesrepublik Deutschland in Untersuchungshaft.
2. Das Landgericht Freiburg im Breisgau ist bei der Festsetzung der Strafe von einer an sich schuldangemessenen Strafe von sieben Jahren ausgegangen und hat, da eine nachträgliche Gesamtstrafenbildung mit den im Abschnitt I.1. b) genannten französischen Strafen nicht möglich ist, einen Abzug von einem Jahr vorgenommen, um den damit verbundenen Nachteil auszugleichen. Auf dieser Grundlage hat das Landgericht in dem zur Entscheidung stehenden Fall auf eine Freiheitsstrafe von sechs Jahren erkannt.
3. Der Angeklagte wendet sich mit seiner Revision gegen seine Verurteilung und rügt die Verletzung materiellen Rechts.
Der Senat hält die Beantwortung der Vorlagefragen für seine Entscheidung über die Revision für erforderlich. Er legt diese deshalb dem Gerichtshof der Europäischen Union gemäß Artikel 267 Abs. 3 AEUV zur Vorabentscheidung vor.
1. Maßgeblich ist folgender rechtlicher Rahmen:
a) b) c)Unionsrecht
Unionsrechtlich bedeutsam für die Vorlagefragen sind Artikel 3 Abs. 1 und 5 des Rahmenbeschlusses 2008/675/JI, der festlegt, unter welchen Voraussetzungen in einem Mitgliedstaat in einem Strafverfahren gegen eine Person frühere Verurteilungen, die gegen dieselbe Person wegen einer anderen Tat ergangen sind, berücksichtigt werden (vgl. Artikel 1 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2008/675/JI).
Artikel 3 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses bestimmt, dass frühere, in einem anderen Mitgliedstaat ergangene Verurteilungen derselben Person wegen einer anderen Tat in dem Maße berücksichtigt werden wie im Inland ergangene frühere Verurteilungen und dass sie mit gleichwertigen Rechtswirkungen versehen werden wie im Inland ergangene frühere Verurteilungen.
Wurde die Straftat, die Gegenstand des neuen Verfahrens ist, begangen, bevor die frühere Verurteilung erfolgte oder vollständig vollstreckt wurde, hat gemäß Artikel 3 Abs. 5 Satz 1 des Rahmenbeschlusses 2008/675/JI Artikel 3 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses nicht die Wirkung, dass die Mitgliedstaaten ihre innerstaatlichen Vorschriften über die Verhängung von Strafen anwenden müssen, wenn die Anwendung dieser Vorschriften auf im Ausland ergangene Verurteilungen das Gericht darin einschränken würde, in einem neuen Verfahren eine Strafe zu verhängen; jedoch stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass ihre Gerichte frühere in anderen Mitgliedstaaten ergangene Verurteilungen in solchen Fällen auf andere Weise berücksichtigen können (Artikel 3 Abs. 5 Satz 2 des Rahmenbeschlusses 2008/675/JI).
Als Grundsatz sollte gelten, dass eine in einem anderen Mitgliedstaat nach innerstaatlichem Recht ergangene Verurteilung mit gleichwertigen tatsächlichen bzw. verfahrens- oder materiellrechtlichen Wirkungen versehen werden sollte wie denjenigen, die das innerstaatliche Recht den im Inland ergangenen Verurteilungen zuerkennt; in anderen Mitgliedstaaten ergangene frühere Verurteilungen müssen dabei nur in dem Maße berücksichtigt werden wie im Inland nach innerstaatlichem Recht ergangene Verurteilungen (Erwägungsgrund 5 des Rahmenbeschlusses 2008/675/JI).
d) e) f)Nationales (deutsches) Recht
Die maßgeblichen Bestimmungen für die Bildung einer Gesamtstrafe aus mehreren Einzelstrafen enthält das deutsche Strafgesetzbuch (im Folgenden: StGB) in den §§ 53 bis 55.
§ 53 StGB (Tatmehrheit) bestimmt in dessen Absatz 1:
„(1) Hat jemand mehrere Straftaten begangen, die gleichzeitig abgeurteilt werden, und dadurch mehrere Freiheitsstrafen oder mehrere Geldstrafen verwirkt, so wird auf eine Gesamtstrafe erkannt.“
§ 54 StGB (Bildung der Gesamtstrafe) enthält in den Absätzen 1 und 2 folgende Regelungen:
„(1) Ist eine der Einzelstrafen eine lebenslange Freiheitsstrafe, so wird als Gesamtstrafe auf lebenslange Freiheitsstrafe erkannt. In allen übrigen Fällen wird die Gesamtstrafe durch Erhöhung der verwirkten höchsten Strafe, bei Strafen verschiedener Art durch Erhöhung der ihrer Art nach schwersten Strafe gebildet. Dabei werden die Person des Täters und die einzelnen Straftaten zusammenfassend gewürdigt.
(2) Die Gesamtstrafe darf die Summe der Einzelstrafen nicht erreichen. Sie darf bei zeitigen Freiheitsstrafen fünfzehn Jahre und bei Geldstrafe siebenhundertzwanzig Tagessätze nicht übersteigen.“
§ 55 StGB (Nachträgliche Bildung der Gesamtstrafe) bestimmt in Absatz 1:
„(1) Die §§ 53 und 54 sind auch anzuwenden, wenn ein rechtskräftig Verurteilter, bevor die gegen ihn erkannte Strafe vollstreckt, verjährt oder erlassen ist, wegen einer anderen Straftat verurteilt wird, die er vor der früheren Verurteilung begangen hat. Als frühere Verurteilung gilt das Urteil in dem früheren Verfahren, in dem die zugrundeliegenden tatsächlichen Feststellungen letztmals geprüft werden konnten.“
2. Die Entscheidung über die Revision des Angeklagten hängt von der Beantwortung der Vorlagefragen ab.
a) Zur ersten Vorlagefrage:
Ob gegen den Angeklagten wegen der verfahrensgegenständlichen Vergewaltigung in Deutschland - neben den in Frankreich verhängten Strafen - überhaupt noch eine weitere zu vollstreckende Freiheitsstrafe verhängt werden kann, ist von der Auslegung des Gleichbehandlungsgebots nationaler und in anderen Mitgliedstaaten ergangener Verurteilungen in Artikel 3 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2008/675/JI („gleichwertige Rechtswirkungen“) in Verbindung mit Artikel 3 Abs. 5 Satz 1 des Rahmenbeschlusses abhängig.
aa) Die im Abschnitt I.1. b) dargestellten Strafen der französischen Verurteilungen wären, wenn sie wie deutsche Verurteilungen behandelt würden, grundsätzlich gesamtstrafenfähig; sie hätten gleichzeitig abgeurteilt werden können, weil die nun verfahrensgegenständliche Vergewaltigung zeitlich vor den französischen Verurteilungen begangen wurde. Demgemäß wäre bei Anwendung deutschen Strafrechts gemäß § 55 Abs. 1 StGB eine nachträgliche Gesamtstrafe zu bilden. Nach § 55 Abs. 1 StGB hat das Tatgericht im Urteil eine nachträgliche Gesamtstrafe zu bilden, wenn ein rechtskräftig Verurteilter, bevor die gegen ihn erkannte Strafe vollstreckt, verjährt oder erlassen ist, wegen einer anderen Straftat verurteilt wird, die gesamtstrafenfähig ist. Die Anwendung des § 55 StGB durch das Tatgericht ist zwingend, wenn die Voraussetzungen vorliegen (vgl. nur BGH, Beschluss vom 7. April 2020 - 3 StR 630/19 Rn. 2, ECLI:DE:BGH:2020:070420B3STR630.19.0).
Bei der Bemessung der zu bildenden Gesamtfreiheitsstrafe wäre dabei aber nach § 54 Abs. 2 Satz 2 StGB das Höchstmaß von 15 Jahren zu beachten; das heißt, dass zwar eine Einzelstrafe für die verfahrensgegenständliche Vergewaltigung verhängt werden könnte, es im Ergebnis aber bei Einbeziehung dieser Einzelstrafe bei einer - neu gebildeten - Gesamtstrafe von 15 Jahren verbliebe und damit keine weitere Vollstreckung möglich wäre. Das nach deutschem Recht zulässige Höchstmaß der zeitigen Gesamtfreiheitsstrafe wäre bereits mit der Verurteilung vom 29. Februar 2008 durch den Cour d’Assises du Loiret-Cher in Blois zu 15 Jahren Freiheitsstrafe erreicht.
Eine Gesamtstrafenbildung mit ausländischen Strafen scheidet jedoch aus, weil aufgrund des damit verbundenen Eingriffs in die Rechtskraft der ausländischen Verurteilung und die Vollstreckungshoheit des ausländischen Staates eine solche Gesamtstrafenbildung aus völkerrechtlichen Gründen unzulässig ist (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschlüsse vom 4. Juli 2018 - 1 StR 599/17 Rn. 5, ECLI:DE:BGH:2018:040718B1STR599.17.0 und vom 23. April 2020 - 1 StR 15/20 Rn. 13, ECLI:DE:BGH:2020:230420B1STR15.20.0).
bb) Mit Blick auf die fehlende Möglichkeit einer Gesamtstrafenbildung einer nationalen und einer EU-ausländischen Verurteilung legt Artikel 3 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2008/675/JI den Mitgliedstaaten auf, sicherzustellen, dass in einem neuen Strafverfahren gegen eine Person frühere, in einem anderen Mitgliedstaat ergangene Verurteilungen wegen anderer Taten zum einen in einem Maß berücksichtigt werden wie nach innerstaatlichem Recht im Inland ergangene frühere Verurteilungen und dass ihnen zum anderen gleichwertige tatsächliche bzw. verfahrens- oder materiellrechtliche Wirkungen zuerkannt werden wie nach diesem Recht im Inland ergangenen früheren Verurteilungen. Dies soll nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union verhindern, dass der Betroffene schlechter behandelt wird, als wenn die in Rede stehende frühere strafrechtliche Verurteilung eine innerstaatliche Verurteilung gewesen wäre (EuGH, Urteil vom 15. April 2021 - C-221/19 Rn. 49, 50, 57, 58, ECLI:EU:C:2021:278; in diesem Sinne auch EuGH, Urteil vom 21. September 2017 - C-171/16 Rn. 26, ECLI:EU:C:2017:710, und EuGH, Urteil vom 5. Juli 2018 - C-390/16 Rn. 28, ECLI:EU:C:2018:532). Nach Artikel 3 Abs. 5 Satz 1 des Rahmenbeschlusses 2008/675/JI hat Artikel 3 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses jedoch nicht die Wirkung, dass die Mitgliedstaaten ihre innerstaatlichen Vorschriften über die Anwendung dieser Regelungen über die Verhängung von Strafen anwenden müssen, wenn die Anwendung dieser Vorschriften auf im Ausland ergangene Verurteilungen das Gericht darin einschränken würde, in einem neuen Verfahren eine Strafe zu verhängen.
cc) Die Verhängung einer Strafe für die verfahrensgegenständliche Tat wäre nach Auffassung des Senats demnach nur dann zulässig, wenn Artikel 3 Abs. 5 Satz 1 des Rahmenbeschlusses 2008/675/JI dahin auszulegen wäre, dass das in Artikel 3 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses geregelte Gleichbehandlungsgebot (auch) dann keine Wirkung entfaltet, wenn eine fiktive Einbeziehung der EU-ausländischen Strafe dazu führen würde, dass das § 54 Abs. 2 Satz 2 StGB zulässige Höchstmaß der (zeitigen) Gesamtfreiheitsstrafe von 15 Jahren überschritten würde. Ein derartiges Verständnis liegt jedoch nicht auf der Hand, da es der Grundaussage von Artikel 3 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2008/675/JI und den zuvor zitierten Entscheidungen des Gerichthofs zuwiderläuft, soweit entgegen dem dort geregelten Gleichbehandlungsgebot eine Überschreitung des in § 54 Abs. 2 Satz 2 StGB geregelten Höchstmaßes zulässig wäre.
b) Zur zweiten Vorlagefrage:
Sollte der Gerichtshof die erste Vorlagefrage bejahen, wird für den vorlegenden Senat die weitere Vorlagefrage entscheidungserheblich, ob die nach Artikel 3 Abs. 5 Satz 2 des Rahmenbeschlusses 2008/675/JI vorgesehene Berücksichtigung der EU-ausländischen Strafe in der Weise vorzunehmen ist, dass der aus der fehlenden Möglichkeit der Bildung einer nachträglichen Gesamtstrafe resultierende Nachteil bei der Bemessung der Strafe für die inländische Straftat konkret auszuweisen und zu begründen ist.
aa) Nach Artikel 3 Abs. 5 Satz 2 des Rahmenbeschlusses 2008/675/JI stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass ihre Gerichte frühere in anderen Mitgliedstaaten ergangene Verurteilungen in den Fällen des Artikels 3 Abs. 5 Satz 1 des Rahmenbeschlusses auf andere Weise berücksichtigen. Der deutsche Gesetzgeber hat bei der Umsetzung des Rahmenbeschlusses 2008/675/JI in deutsches Recht im Hinblick auf Artikel 3 des Rahmenbeschlusses keinen Umsetzungsbedarf gesehen; als Begründung hierfür wurde angeführt, dass der Ansatz, dass ausländische Vorverurteilungen zwar nicht formell (über eine nachträgliche Gesamtstrafenbildung) in die Strafzumessung eingebunden werden können, der Verurteilte aber gleichwohl dadurch möglichst nicht benachteiligt werden soll, dem in Deutschland von der Rechtsprechung auch bei ausländischen Vorverurteilungen praktizierten Härteausgleich entspreche (vgl. Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages vom 1. Juli 2009, BT-Drucks. 16/13673, S. 5).
Nach der insoweit in Bezug genommenen bisherigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs wird dem Nachteil, der durch die fehlende Möglichkeit der nachträglichen Gesamtstrafenbildung mit EU-ausländischen Verurteilungen entsteht, im Rahmen der Strafzumessung regelmäßig durch einen im Ermessen des Tatgerichts stehenden - unbezifferten - Härteausgleich Rechnung getragen (vgl. zuletzt BGH, Beschluss vom 26. Januar 2022 - 3 StR 461/21, ECLI:DE:BGH: 2022:260122B3STR461.21.0). Dabei wird es im Ergebnis als ausreichend angesehen, dass das Tatgericht die fehlende Möglichkeit einer nachträglichen Gesamtstrafenbildung - neben anderen einzustellenden Strafzumessungsfaktoren - als Gesichtspunkt zugunsten des Angeklagten bei der Bemessung der neuen Strafe berücksichtigt.
bb) Diese Rechtsprechung trägt jedoch den Regelungen der §§ 54, 55 StGB und den Vorschriften des Rahmenbeschlusses 2008/675/JI nicht in ausreichendem Maße Rechnung. Denn es besteht die Gefahr, dass sich der Härteausgleich in einer bloßen Leerformel erschöpft. Der Senat hält es deshalb für klärungsbedürftig und entscheidungserheblich, ob Artikel 3 Abs. 1 und 5 des Rahmenbeschlusses 2008/675/JI dahin auszulegen sind, dass der sich aus der fehlenden Möglichkeit einer nachträglichen Gesamtstrafenbildung zwischen Strafen aus EU-ausländischen Vorverurteilungen und von den nationalen Gerichten verhängten Strafen ergebende Nachteil im Wege einer fiktiven Einbeziehung der EU-ausländischen Strafe konkret auszuweisen und in seiner Höhe näher zu begründen ist.
cc) Der Senat ist der Auffassung, dass allein ein nachvollziehbar begründeter und bezifferter Nachteilsausgleich dem Regelungsgehalt des Artikel 3 Abs. 1 und 5 des Rahmenbeschlusses 2008/675/JI gerecht wird.
Aus der oben dargestellten Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union zum Rahmenbeschluss 2008/675/JI folgt, dass die Art und Weise der Berücksichtigung EU-ausländischer Vorverurteilungen möglichst weitgehend derjenigen inländischer Vorverurteilungen anzugleichen ist. Um einer - auch nachträglichen - Gesamtstrafenbildung, bei der nach deutschem Recht aus konkret bezifferten Einzelstrafen - durch Erhöhung der höchsten Einzelstrafe - eine ebenfalls konkret zu beziffernde Gesamtstrafe gebildet wird (§§ 54, 55 StGB), möglichst nahe zu kommen, ist es aus Sicht des Senats erforderlich, einen aus der fehlenden Möglichkeit einer Gesamtstrafenbildung resultierenden Nachteil konkret auszuweisen und von der neu zu verhängenden (Gesamt-)Strafe in Abzug zu bringen. Diese - § 55 Abs. 1 Satz 1 StGB entsprechende - Konstellation unterscheidet sich auch maßgeblich von anderen Fällen mit abgeschlossenen Sachverhalten (wie zum Beispiel bei vollständig vollstreckten Strafen), in denen die Gewährung eines unbezifferten Härteausgleichs ausreicht, weil eine Gesamtstrafenbildung nicht mehr in Betracht kommt.
Zwar tritt - anders als in den Fällen innerstaatlicher Verurteilungen - in Fällen verschiedenstaatlicher Verurteilungen kein Wegfall der einbezogenen Strafe als selbständig vollstreckbares Erkenntnis ein (vgl. BGH, Beschluss vom 26. Januar 2022 - 3 StR 461/21 Rn. 9 ff., insb. Rn. 14, ECLI:DE:BGH: 2022:260122B3STR461.21.0, auch dazu, dass der Rahmenbeschluss 2008/675/JI nicht zwingend die konkrete Bezifferung des Nachteilsausgleichs erfordere); jedoch erscheint eine nachvollziehbare Begründung des Ausgleichs und dessen Bezifferung aus Transparenzgründen, insbesondere aber aus Gründen der Nachprüfbarkeit der Straffestsetzung als wesentlichem Teil der tatgerichtlichen Entscheidung durch das Revisionsgericht unverzichtbar.
Dafür spricht insbesondere auch, dass es sich bei der Gesamtstrafenbildung - wie aus § 54 Abs. 1 Satz 3 StGB ersichtlich - um einen eigenständigen, gesamtstrafenspezifischen Zumessungsakt handelt (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschluss vom 12. November 2019 - 1 StR 415/19 Rn. 3, ECLI:DE:BGH:2019:121119B1STR415.19.0; Urteil vom 24. August 2016 - 2 StR 504/15 Rn. 20, ECLI:DE:BGH:2016:240816U2STR504.15.0; jeweils mwN). Diesem Erfordernis kann die schlichte Berücksichtigung eines unbezifferten Härteausgleichs als bloßer Strafzumessungsgesichtspunkt zugunsten des Angeklagten schon deshalb nicht gerecht werden, weil das Maß in keiner Weise nachvollziehbar ist und damit letztlich ein maßgeblicher Teil der tatgerichtlichen Entscheidung der revisionsrechtlichen Nachprüfbarkeit entzogen wird.
dd) Auf welche Weise das Tatgericht den Ausgleich konkret bestimmt, steht dabei nach Auffassung des Senats im Ermessen des Tatgerichts. Es kann den Umstand, dass eine Gesamtstrafenbildung mit der früheren Strafe ausscheidet, unmittelbar bei der Festsetzung der neuen Strafe - unter Bezifferung des abzuziehenden Teils - berücksichtigen oder etwa auch von einer unter Heranziehung der ausländischen Strafe gebildeten „fiktiven Gesamtstrafe“ ausgehen und diese um die ausländische Strafe mindern. Erforderlich ist nur, dass es einen angemessenen Ausgleich vornimmt und diesen - vergleichbar der Gesamtstrafenbildung nach §§ 54, 55 StGB - in den Urteilsgründen nachvollziehbar begründet und beziffert.
ee) Das Landgericht hat bei seiner Strafzumessungsentscheidung nicht in den Blick genommen, dass mit der Verhängung einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren die nach deutschem Recht bestehende Höchstgrenze für eine Gesamtfreiheitsstrafe von 15 Jahren faktisch überschritten wird; auch im Übrigen hat es keine geeigneten Kriterien genannt, wie es die EU-ausländischen Verurteilungen nach Maßgabe des Artikels 3 Abs. 5 Satz 2 des Rahmenbeschlusses 2008/675/JI berücksichtigt hat, so dass fraglich erscheint, ob unionsrechtliche Vorgaben hinreichend beachtet wurden.
c) Die Auslegung des Rahmenbeschlusses 2008/675/JI obliegt allein dem Gerichtshof der Europäischen Union. Dieser hat diese Frage bislang noch nicht entschieden, so dass kein „acte éclairé“ vorliegt. Die Auslegung ist auch nicht derart offenkundig, dass sie im Sinne eines „acte clair“ keinen vernünftigen Zweifeln unterläge (vgl. zu den Voraussetzungen einer Offenkundigkeit EuGH, Urteil vom 6. Oktober 1982 - Rechtssache C-283/81, CILFIT, Slg. 1982, S. 3415, EU:C:1982:335).
d) Einer vorherigen Anfrage gemäß § 132 Abs. 3 GVG beim 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs, der eine von dem erkennenden Senat abweichende Auffassung vertritt (vgl. BGH, Beschluss vom 26. Januar 2022 - 3 StR 461/21, ECLI:DE:BGH:2022:260122B3STR461.21.0), bedarf es nicht. Der Senat ist nach Artikel 267 AEUV aufgrund seiner Zweifel über die Auslegung des Unionsrechts verpflichtet, das Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der Europäischen Union zu richten, zumal es sich auch nach Auffassung des 3. Strafsenats des Bundesgerichtshofs um Fragen der Auslegung des Rahmenbeschlusses 2008/675/JI und der dazu ergangenen - bereits zitierten - Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union handelt (vgl. BGH, Beschluss vom 26. Januar 2022 - 3 StR 461/21 Rn. 7, ECLI:DE:BGH:2022:260122B3STR461.21.0); dieses Ersuchen stellt keine abweichende Sachentscheidung dar (vgl. BFH, Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH vom 13. November 2002 - I R 13/02, BFHE 201, 73, BStBl II 2003, 795, Rn. 29).
Der Senat bittet anzuordnen, dass über das Vorabentscheidungsverfahren nach Artikel 53 Abs. 3 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs der Europäischen Union i.V.m. Artikel 267 Abs. 4 AEUV mit Vorrang entschieden wird. Die Vorabentscheidungsfragen sind in einem schwebenden Strafverfahren entscheidungserheblich, für das in besonderem Maße der sich aus Artikel 5 Abs. 3 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) ergebende Anspruch des sich in Untersuchungshaft befindlichen Angeklagten gilt, dass über die Sache in angemessener Frist entschieden wird.
HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 873
Bearbeiter: Christoph Henckel