HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 467
Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 369/21, Beschluss v. 09.02.2022, HRRS 2022 Nr. 467
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Augsburg vom 23. April 2021
a) im Schuldspruch dahin geändert, dass in den Fällen B.1. bis B.4. der Urteilsgründe jeweils die tateinheitliche Verurteilung wegen vorsätzlicher Körperverletzung entfällt,
b) aufgehoben aa) im gesamten Strafausspruch,
bb) im Ausspruch über die Anordnung der Sicherungsverwahrung; diese entfällt.
2. Die weitergehende Revision des Angeklagten wird als unbegründet verworfen.
3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Jugendkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in vier Fällen, jeweils in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen und vorsätzlicher Körperverletzung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von neun Jahren und sechs Monaten verurteilt und dessen Unterbringung in der Sicherungsverwahrung angeordnet.
Hiergegen richtet sich die auf die Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten. Sein Rechtsmittel hat den aus der Beschlussformel ersichtlichen Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO); im Übrigen ist es unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
Der Schuldspruch hält revisionsrechtlicher Überprüfung überwiegend stand. Nur die jeweiligen tateinheitlichen Verurteilungen in den Fällen B.1. bis B.4. der Urteilsgründe wegen vorsätzlicher Körperverletzung (§ 223 Abs. 1 StGB) müssen wegen eingetretener Verfolgungsverjährung entfallen (§ 206a StPO). Der Schuldspruch war daher insoweit in entsprechender Anwendung von § 354 Abs. 1 StPO abzuändern.
Bei einer tateinheitlichen Verurteilung läuft die Verjährungsfrist für jedes einzelne Delikt gesondert (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Urteil vom 29. Juli 2021 - 1 StR 29/21 Rn. 13 mwN). Die Verjährungsfrist für die ab Herbst 2011 bis Januar 2012 begangenen Taten betrug hinsichtlich der vorsätzlichen Körperverletzung fünf Jahre (§ 78 Abs. 3 Nr. 4 StGB). Eine Unterbrechung der Verjährung vor Ablauf dieser Verjährungsfrist ist nicht eingetreten. Im Übrigen erscheint nach den Feststellungen des Landgerichts auch zweifelhaft, ob im Fall B.3. der Urteilsgründe eine vorsätzliche Körperverletzung zum Nachteil der Nebenklägerin vorliegt.
Der Strafausspruch begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken.
1. Die Strafzumessung ist grundsätzlich Aufgabe des Tatrichters. Er allein ist aufgrund des umfassenden Eindrucks, den er in der Hauptverhandlung von der Tat und der Persönlichkeit des Täters gewonnen hat, in der Lage, die für die Strafzumessung bestimmenden entlastenden und belastenden Umstände festzustellen, sie zu bewerten und gegeneinander abzuwägen. Ein Eingriff des Revisionsgerichts in diese Einzelakte der Strafzumessung ist in der Regel nur möglich, wenn die Zumessungserwägungen in sich fehlerhaft sind, wenn das Tatgericht gegen rechtlich anerkannte Strafzwecke verstößt oder wenn sich die verhängte Strafe nach oben oder unten von ihrer Bestimmung löst, gerechter Schuldausgleich zu sein (st. Rspr.; BGH, Beschlüsse vom 29. Oktober 2020 - 1 StR 346/20 Rn. 3; vom 15. Juni 2016 - 1 StR 72/16 Rn. 10 mwN; vom 19. Januar 2012 - 3 StR 413/11 und vom 10. April 1987 - GSSt 1/86, BGHSt 34, 345, 349). Nur in diesem Rahmen kann eine „Verletzung des Gesetzes“ im Sinne des § 337 Abs. 1 StPO vorliegen. Eine ins Einzelne gehende Richtigkeitskontrolle ist dagegen ausgeschlossen (BGH aaO).
2. Diesen Anforderungen werden die Zumessungserwägungen des Landgerichts in mehrfacher Hinsicht sowohl bei der Bildung der Einzelstrafen als auch bei der Gesamtstrafe nicht gerecht.
a) Da das Landgericht im Rahmen seiner Strafzumessungserwägungen bei allen vier Einzeltaten (UA S. 49 - 52) jeweils zu Lasten des Angeklagten die Begehung von mehreren Straftatbeständen berücksichtigt hat, kann der Senat bereits nicht ausschließen, dass sich die Änderung des Schuldspruchs durch den Wegfall der tateinheitlich ausgeurteilten, aber verjährten Tatbestände der vorsätzlichen Körperverletzung auch auf die Bildung der entsprechenden Einzelstrafen ausgewirkt hat. Zwar darf auch eine verjährte Tat bei der Strafzumessung zu Lasten des Täters berücksichtigt werden, allerdings nicht mit demselben Gewicht wie eine den Schuldspruch tragende Tat (vgl. BGH, Urteil vom 2. März 2016 - 1 StR 619/15 Rn. 4; Beschlüsse vom 24. November 2020 - 5 StR 348/20 Rn. 4 und vom 18. November 2020 - 2 StR 152/20 Rn. 19 mwN).
b) Das Landgericht hat ferner bei allen vier Einzeltaten im Rahmen der konkreten Strafzumessung zu Lasten des Angeklagten berücksichtigt, dass „die sexuellen Übergriffe im absolut geschützten Raum bei der Nebenklägerin zu Hause stattfanden“ (UA S. 49 - 52). Dies erscheint im Blick darauf, dass die Einzeltaten jeweils in der Wohnung stattfanden, in der zum damaligen Zeitpunkt sowohl der Angeklagte als auch die Nebenklägerin sowie deren Mutter „zu Hause waren“, nicht als Zumessungskriterium, das von § 46 Abs. 2 Satz 2 StGB erfasst wird. Allenfalls im Fall B.1. der Urteilsgründe könnte straferschwerend berücksichtigt werden, dass die Tat im Kinderzimmer der Nebenklägerin und damit in ihrem eigenen geschützten Raum stattfand.
c) Straferschwerend wird beim Angeklagten vom Landgericht des Weiteren bei allen vier Einzeltaten berücksichtigt, dass „die Taten für die Nebenklägerin ganz erhebliche psychische Folgen hatten, sie sich jahrelang in Behandlung begeben musste und noch immer unter den Folgen der Tat leidet“ (UA S. 49 - 52). Diese Erwägung ist bereits im Ansatz rechtsfehlerhaft, da, soweit psychische Schäden die Folgen mehrerer Taten einer Tatserie sind, sie dem Täter nur einmal bei der Bildung der Gesamtstrafe, angelastet werden können (vgl. BGH, Beschlüsse vom 1. Februar 2022 - 4 StR 449/21 Rn. 4 und vom 18. Februar 2021 - 2 StR 7/21 Rn. 4 mwN). Dabei übersieht das Landgericht zudem, dass den Taten durch den Angeklagten eine frühere Missbrauchshandlung im Alter von fünf Jahren durch den damaligen Fußballtrainer vorausgegangen ist und deshalb gerade nicht festgestellt werden kann, dass die psychischen Folgen der Taten allein dem Angeklagten zugerechnet werden können. Im Übrigen hat das Landgericht die festgestellten Folgen der Tat nicht belegt.
d) Schließlich hat das Landgericht weder bei der Bemessung der Einzelstrafen noch bei der Bemessung der Gesamtstrafe den Umstand, dass die gegen den Angeklagten bereits angeordnete Sicherungsverwahrung fortdauert, erkennbar berücksichtigt (vgl. zur erstmaligen Anordnung der Sicherungsverwahrung BGH, Beschluss vom 30. März 2021 - 2 StR 18/21 Rn. 4 mwN).
e) Auch der Ausspruch über die Gesamtstrafe hält einer rechtlichen Überprüfung nicht stand.
Nötigt - wie hier - die vollständige Vollstreckung einer an sich im Rahmen der nachträglichen Gesamtstrafenbildung einzubeziehenden Vorverurteilung zur Vornahme eines Härteausgleichs, muss das Gericht einen sich möglicherweise für den Angeklagten ergebenden Nachteil infolge eines zu hohen Gesamtstrafübels ausgleichen. Dabei muss es nicht nur darlegen, dass es sich dieser Sachlage bewusst gewesen ist, sondern auch erkennen lassen, dass es das Gesamtmaß der Strafen für schuldangemessen gehalten hat (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Urteil vom 20. Juli 2016 - 2 StR 18/16 Rn. 19; Beschluss vom 9. November 1995 - 4 StR 650/95, BGHSt 41, 310, 313 mwN). Dies hat das Landgericht über die bloße fehlerhafte Erwähnung hinaus, dass es die verhängte Strafe insgesamt als angemessen erachte, nicht getan, obwohl hierzu besonders Anlass bestand, nachdem es nahezu in der Summe die gesetzliche Höchststrafe verhängt hat.
3. Die bisherigen Feststellungen zum Strafausspruch werden aufgehoben (§ 353 Abs. 2 StPO), um dem neuen Tatrichter insgesamt widerspruchsfreie eigene Feststellungen zu ermöglichen.
Die Anordnung der Sicherungsverwahrung ist ebenfalls aufzuheben; die Anordnung der Sicherungsverwahrung hat zu entfallen.
1. Durch Urteil des Landgerichts Augsburg vom 30. Juli 2013 war der Angeklagte zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt worden. Zugleich war gegen ihn die Sicherungsverwahrung angeordnet worden. Im Hinblick darauf, dass die dem Angeklagten vorgeworfenen Straftaten bereits vor dem genannten Urteil des Landgerichts begangen wurden, war eine Gesamtstrafenlage gegeben. Bei der Bildung einer nachträglichen Gesamtstrafe bestimmt § 55 Abs. 2 Satz 1 StGB, dass in der neuen Entscheidung die frühere Anordnung der Maßregel der Besserung und Sicherung aufrecht zu erhalten ist und diese nicht erneut und damit doppelt anzuordnen ist (BGH, Beschluss vom 6. Juli 2010 - 5 StR 142/10, BGHZ StGB § 55 Abs. 2 Aufrechterhalten 11 Rn. 2; Urteil vom 10. Dezember 1981 - 4 StR 622/81, BGHSt 30, 305, 306 f.).
2. Allerdings unterliegen die festzusetzenden Strafen für die abzuurteilenden Taten nicht der nachträglichen Gesamtstrafenbildung mit den Strafen aus der Vorverurteilung vom 30. Juli 2013. Nach § 55 Abs. 1 Satz 1 StGB kommt eine nachträgliche Gesamtstrafenbildung nur dann in Betracht, wenn die gegen den Verurteilten erkannten Strafen noch nicht vollständig vollstreckt sind. Die Strafvollstreckung gegen den Angeklagten war hier aber bereits am 30. August 2017 erledigt. Indessen gilt der Gedanke des § 55 Abs. 2 StGB für sämtliche Konstellationen, in denen die frühere Tat bei der bereits getroffenen Anordnungsentscheidung der Maßregel hätte mitberücksichtigt werden können, in denen also grundsätzlich die Voraussetzungen für eine nachträgliche Gesamtstrafenbildung vorlagen (BGH, Beschluss vom 6. Juli 2010 - 5 StR 142/10, BGHR StPO § 55 Abs. 2 Aufrechterhalten 11 Rn. 3; Urteile vom 11. September 1997 - 4 StR 287/97 Rn. 16 und vom 10. Dezember 1981 - 4 StR 622/81, BGHSt 30, 305, 306 f.). Für eine nochmalige Anordnung der Sicherungsverwahrung nach § 66 StGB ist daher kein Raum. Die nochmalige Anordnung hat daher insgesamt zu entfallen.
HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 467
Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede