HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 645
Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 27/21, Beschluss v. 21.04.2021, HRRS 2021 Nr. 645
1. Auf die Revisionen der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Hanau vom 3. Juni 2020, soweit es die Angeklagten betrifft,
a) mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben und das Verfahren eingestellt, soweit die Angeklagten in den Fällen 29 bis 37 und 99 der Urteilsgründe verurteilt worden sind; im Umfang der Einstellung fallen die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen der Angeklagten der Staatskasse zur Last;
b) im Schuldspruch dahin geändert, dass die Angeklagten jeweils des gewerbs- und bandenmäßigen Einschleusens von Ausländern in 25 Fällen, jeweils in Tateinheit mit Ausbeutung von Prostituierten und Zuhälterei, davon in fünf Fällen in Tateinheit mit schwerem Menschenhandel und in 20 Fällen in Tateinheit mit schwerer Zwangsprostitution, des Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt in 61 Fällen und der Steuerhinterziehung in 16 Fällen schuldig sind;
c) im Ausspruch über die Einzelstrafen in den Fällen 100 bis 103 der Urteilsgründe und im Gesamtstrafenausspruch aufgehoben;
d) im Ausspruch über die Einziehung dahin geändert, dass die Einziehung des Wertes von Taterträgen in Höhe von 1.089.377,84 € als Gesamtschuldner angeordnet wird; die weitergehende Einziehung entfällt;
e) im Adhäsionsausspruch dahin ergänzt, dass von einer Entscheidung über die Höhe der geltend gemachten Ansprüche auf Schadensersatz und Schmerzensgeld abgesehen wird.
2. Die weitergehenden Revisionen der Angeklagten werden verworfen.
3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die verbleibenden Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Wirtschaftsstrafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das Landgericht hat die Angeklagten jeweils des gewerbs- und bandenmäßigen Einschleusens von Ausländern in 25 Fällen jeweils in Tateinheit mit Ausbeutung von Prostituierten und Zuhälterei, davon in fünf Fällen in Tateinheit mit schwerem Menschenhandel und in 20 Fällen in Tateinheit mit schwerer Zwangsprostitution, des Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt (Arbeitnehmeranteile) in Tateinheit mit Vorenthalten und Veruntreuen von Arbeitsentgelt (Arbeitgeberanteile) in 70 Fällen und der Steuerhinterziehung in 17 Fällen schuldig gesprochen und gegen die Angeklagte B. eine Gesamtfreiheitsstrafe von acht Jahren und neun Monaten und gegen den Angeklagten J. eine Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verhängt. Zudem hat das Landgericht gegen die Angeklagten die Einziehung eines Betrages in Höhe von 1.165.270,60 € als Gesamtschuldner angeordnet und eine Adhäsionsentscheidung getroffen.
Die jeweils auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützten Revisionen haben den aus der Beschlussformel ersichtlichen Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO); im Übrigen sind sie unbegründet.
1. Hinsichtlich der Taten 29 bis 37 sowie 99 der Urteilsgründe haben die Verurteilungen der Angeklagten keinen Bestand, weil das Verfahrenshindernis der Verfolgungsverjährung besteht (§ 78 Abs. 1 Satz 1 StGB). Insoweit ist die Verurteilung aufzuheben und das Verfahren entsprechend § 206a Abs. 1 StPO einzustellen. Der Generalbundesanwalt hat hierzu ausgeführt:
„1. Die Fälle 29 bis 37 betreffend das Vorenthalten und Veruntreuen von Arbeitsentgelt für die Monate Juli 2012 bis März 2013 (UA S. 52 f.) sind verjährt. Das Verfahren ist insoweit nach § 206a Abs. 1 StPO einzustellen und der Schuldspruch wie beantragt zu ändern.
Die Verjährung dieser Taten beginnt jeweils mit dem Verstreichen des Fälligkeitszeitpunkts für jeden Beitragsmonat nach § 23 Abs. 1 SGB IV (Senat, Beschluss vom 1. September 2020 - 1 StR 58/19, NJW 2020, 3469, 3470). Dies ist der drittletzte Bankarbeitstag des betreffenden Monats. Die Tat 29 war mithin am 27. Juli 2012 und die Tat 37 am 26. März 2013 beendet.
Die Verjährungsfrist beträgt in allen Fällen fünf Jahre, § 266a Abs. 1 StGB, § 78 Abs. 3 Nr. 4 StGB. Weder der Erlass des Durchsuchungsbeschlusses am 5. April 2018 (Bd. VII, Bl. 2917 ff.) noch der Erlass des Haftbefehls am 6. April 2018 (Bd. VII, Bl. 3175 ff. [J. : Bd. VII, Bl. 3199 ff.]) konnten den Eintritt der Verjährung verhindern, § 78c Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 und 5 StGB. Damit waren die Tat 29 am 27. Juli 2017 und die Tat 37 am 26. März 2018 verjährt.
2. Darüber hinaus ist die Tat 99 (Hinterziehung von Umsatzsteuer 2012) verjährt.
Bei Nichtabgabe einer Steueranmeldung nach § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO beginnt die Verjährung mit Ablauf der Abgabefrist. Dies ist bei der Umsatzsteuerjahreserklärung der 1. Juni (Klein/Jäger, 15. Auflage 2020, AO § 376 Rn. 38). Insoweit wurde die Verjährungsfrist am 1. Juni 2013 in Lauf gesetzt. Bis zum Ablauf der fünfjährigen Verjährungsfrist (§ 78 Abs. 3 Nr. 4 StGB) am 1. Juni 2018 wurde die Verjährung nicht unterbrochen. Weder aus dem Durchsuchungsbeschluss vom 5. April 2018 (Bd. VII, Bl. 2917 ff.) noch aus dem Haftbefehl vom 6. April 2018 (Bd. VII, Bl. 3175 ff. [J. : Bd. VII, Bl. 3199 ff.]) ergibt sich, dass die Staatsanwaltschaft die Angeklagte[n] auch wegen des Vorwurfs der Steuerhinterziehung verfolgt hätte. Der insoweit maßgebliche Verfolgungswille der Staatsanwaltschaft hat sich erst durch die Erweiterung des Ermittlungsverfahrens am 16. Juli 2018 manifestiert (Bd. XII, Bl. 5263 [J. : Bd. XII, Bl. 5270]). Die Bekanntgabe dieses Tatvorwurfs am 6. August 2018 (Bd. XII, Bl. 5266, 5268 Rs [J. : 23. Juli 2018, Bd. XII, Bl. 5273, 5275 Rs]) konnte daher die Verjährung nicht mehr unterbrechen, § 78c Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StGB.“ Dem schließt sich der Senat an.
2. Der Schuldspruch ist aufgrund der Verfahrenseinstellung hinsichtlich der Fälle 29 bis 37 und 99 der Urteilsgründe wie aus der Beschlussformel ersichtlich zu ändern.
3. Aufgrund der Einstellung geraten die Einzelstrafen für die Taten 29 bis 37 und 99 der Urteilsgründe in Wegfall. Darüber hinaus können auch die Einzelstrafen für die Taten 100 bis 103 der Urteilsgründe nicht bestehen bleiben.
a) Das Landgericht hat in den Fällen 100 bis 103 der Urteilsgründe den Strafrahmen im Hinblick auf die festgestellten Hinterziehungsbeträge jeweils der Vorschrift des § 370 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 AO entnommen. Ein Absehen von der Regelwirkung hat die Wirtschaftsstrafkammer für keinen der Fälle 100 bis 103 der Urteilsgründe bejaht.
Dabei hat das Landgericht allerdings rechtsfehlerhaft die von dem Angeklagten J. erklärten und für den Besteuerungszeitraum 2013 auch gezahlten Vorsteuern (UA S. 55) nicht in den Blick genommen. Dieser Umstand wäre - abhängig davon, ob das Kompensationsverbot eingreift (vgl. BGH, Urteil vom 13. September 2018 - 1 StR 642/17 Rn. 16 ff.) - entweder im Hinblick auf den auf Tatbestandsebene relevanten Verkürzungsumfang und damit die Voraussetzungen des Regelbeispiels nach § 370 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 AO oder im Rahmen der konkreten Strafzumessung vor dem Hintergrund einer Minderung der nach § 46 Abs. 2 Satz 2 StGB zu beachtenden verschuldeten Auswirkungen der Tat (vgl. BGH, Beschlüsse vom 10. August 2016 - 1 StR 233/16 Rn. 7 und vom 8. Januar 2008 - 5 StR 582/07 Rn. 4 mwN) von Bedeutung. Wie der Generalbundesanwalt zutreffend ausgeführt hat, gilt dies auch für die Angeklagte B., die die Vorsteuern weder selbst erklärt noch gezahlt hat, da die verschuldeten Auswirkungen der Tat dieselben sind. Hinzu kommt, dass die Angeklagte und der Mitangeklagte J. als „Gesellschaft bürgerlichen Rechts“ handelnd von denselben in einem wirtschaftlichen Zusammenhang stehenden Vorteilen dieser Vorsteuern profitieren.
b) Hinsichtlich des Aufhebungsantrags des Generalbundesanwalts gemäß § 349 Abs. 4 StPO zum Strafausspruch geht der Senat davon aus, dass sich dieser - wie der Begründung zu entnehmen ist - hinsichtlich des Ausspruchs über die Einzelstrafen neben den Fällen 29 bis 37 und 99 der Urteilsgründe allein auf die Einzelstrafen in den Fällen 100 bis 103 der Urteilsgründe bezieht.
c) Die Aufhebung der genannten Einzelstrafen zieht die Aufhebung der Gesamtstrafe nach sich, wobei die Feststellungen bestehen bleiben können, da es sich um einen reinen Wertungsfehler handelt.
4. Nach der zutreffenden Berechnung des Generalbundesanwalts ist die Einziehung des Wertes von Taterträgen auf einen Betrag von 1.089.377,84 € herabzusetzen, weil sie auf die nicht verjährten Taten zu beschränken ist (vgl. BGH, Beschluss vom 22. Januar 2019 - 1 StR 489/18 Rn. 7).
5. Schließlich hätte das Landgericht beim Adhäsionsausspruch im Urteilstenor zum Ausdruck bringen müssen, dass hinsichtlich der Höhe der Ansprüche von einer Entscheidung abgesehen worden ist, da es über die Ansprüche auf Schadensersatz und Schmerzensgeld nur dem Grunde nach entschieden hat (vgl. BGH, Beschlüsse vom 10. März 2021 - 6 StR 419/20 Rn. 4 und vom 14. April 2015 - 1 StR 133/15 Rn. 3). Der Senat ergänzt den Urteilstenor entsprechend § 354 Abs. 1 StPO.
HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 645
Externe Fundstellen: NStZ-RR 2021, 247
Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede