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HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 1198

Bearbeiter: Christoph Henckel

Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 210/21, Beschluss v. 27.07.2021, HRRS 2021 Nr. 1198


BGH 1 StR 210/21 - Beschluss vom 27. Juli 2021 (LG Freiburg)

Sexuelle Nötigung durch Ausnutzen eines Überraschungsmoments (erforderliche Fähigkeit des Opfers, einen entgegenstehenden Willen zu bilden).

§ 177 Abs. 2 Nr. 1, Nr. 3 StGB

Leitsatz des Bearbeiters

§ 177 Abs. 2 Nr. 3 StGB soll nur die sexuellen Handlungen unter Strafe stellen, deren sich die andere Person nicht versieht („Überraschungsmoment“) und deshalb keine Gegenwehr entfalten kann oder ihnen zwar noch im letzten Moment gewahr wird, aber wegen der Schnelligkeit der Abläufe zur Bildung oder Kundgabe eines ablehnenden Willens außer Stande ist. § 177 Abs. 2 Nr. 3 StGB setzt voraus, dass aufgrund der Überraschung kein entgegenstehender Wille gebildet und rechtzeitig kundgetan werden kann. Hierin unterscheidet sich diese Variante in ihren Voraussetzungen von § 177 Abs. 2 Nr. 1 StGB, bei der dem Opfer die Willensbildung oder -äußerung (generell) unmöglich sein muss.

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Freiburg vom 24. Februar 2021 aufgehoben

a) im Strafausspruch und

b) hinsichtlich der Adhäsionsentscheidung.

2. Die weitergehende Revision des Angeklagten wird verworfen.

3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Vergewaltigung zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und vier Monaten verurteilt und ihn verpflichtet, an die Nebenklägerin ein Schmerzensgeld in Höhe von 5.000 Euro zu bezahlen. Die hiergegen gerichtete, auf die Rüge der Verletzung formellen und sachlichen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hat mit der Sachrüge den aus der Beschlussformel ersichtlichen Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO); im Übrigen ist das Rechtsmittel unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).

I.

1. Die rechtliche Würdigung des Landgerichts, der in objektiver und subjektiver Hinsicht geständige Angeklagte habe sich nicht nur der Vergewaltigung gemäß § 177 Abs. 2 Nr. 1 StGB schuldig gemacht, sondern auch § 177 Abs. 2 Nr. 3 StGB erfüllt, hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand.

Nach den Feststellungen war die Geschädigte - eine Hilfskraft in einem Seniorenwohnheim und Arbeitskollegin des Angeklagten - infolge ihrer geistigen Behinderung nicht in der Lage, „einen dem vaginalen Eindringen des Angeklagten entgegenstehenden Willen zu bilden“ (UA S. 17). Da der Angeklagte den Geschlechtsverkehr im Rahmen einer von ihm vorgetäuschten „körperlichen Durchsuchung“ im Umkleideraum des Seniorenwohnheims von hinten ausübte und zwar nachdem die Geschädigte der Anweisung des Angeklagten, sich zum Zwecke der weiteren Durchsuchung umzudrehen und nach vorne zu beugen, Folge geleistet, aber infolge ihrer geistigen Behinderung nicht einmal dessen sexuelle Absichten erkannt hatte, hat das Landgericht „im Hinblick auf das überrumpelnde Vorgehen“ des Angeklagten angenommen, der Angeklagte habe auch ein Überraschungsmoment i.S.d. § 177 Abs. 2 Nr. 3 StGB ausgenutzt.

§ 177 Abs. 2 Nr. 3 StGB soll jedoch nur die sexuellen Handlungen unter Strafe stellen, deren sich die andere Person nicht versieht („Überraschungsmoment“) und deshalb keine Gegenwehr entfalten kann oder ihnen zwar noch im letzten Moment gewahr wird, aber wegen der Schnelligkeit der Abläufe zur Bildung oder Kundgabe eines ablehnenden Willens außer Stande ist (BGH, Urteil vom 13. Februar 2019 - 2 StR 301/18, BGHSt 64, 55 Rn. 28; BT-Drucks. 18/9097, S. 25; Fischer, StGB 68. Aufl., § 177 Rn. 36). § 177 Abs. 2 Nr. 3 StGB setzt also gerade voraus, dass aufgrund der Überraschung kein entgegenstehender Wille gebildet und rechtzeitig kundgetan werden kann (vgl. BGH, Urteil vom 13. Februar 2019 - 2 StR 301/18, aaO Rn. 33 mwN; BT-Drucks. 18/9097, S. 25). Hierin unterscheidet sich diese Variante in ihren Voraussetzungen von § 177 Abs. 2 Nr. 1 StGB, bei der dem Opfer die Willensbildung oder -äußerung (generell) unmöglich sein muss (BT-Drucks. 18/9097, S. 25). Vorliegend aber war die Geschädigte bereits infolge ihrer geistigen Behinderung - unabhängig von einem Überraschungsmoment - nicht in der Lage, die für jeden anderen offensichtlichen sexuellen Absichten des Angeklagten zu erkennen, die er in der mit seiner anlasslosen und vorgetäuschten Angst vor einem Messer begründeten Aufforderung, sich seiner körperlichen Durchsuchung zu unterziehen, verborgen hat.

2. Die Strafkammer hat im Rahmen der Strafzumessung die Verwirklichung zweier Tatbestandsvarianten des § 177 Abs. 2 StGB zwar nicht als bestimmenden Strafzumessungsumstand zu Lasten des Angeklagten gewertet, sondern ihm lediglich die raffinierte Vorbereitung des sexuellen Übergriffs durch eine vorgetäuschte körperliche Durchsuchung straferschwerend zur Last gelegt. Diese Strafzumessungserwägung ist rechtlich bedenkenfrei. Der Strafausspruch kann dennoch keinen Bestand haben, weil der Senat besorgt, dass die Strafkammer das Ergebnis ihrer rechtlichen Würdigung, der Angeklagte habe sich nicht nur der Vergewaltigung gemäß § 177 Abs. 2 Nr. 1 StGB, sondern auch nach § 177 Abs. 2 Nr. 3 StGB schuldig gemacht, strafschärfend in die Strafzumessung hat einfließen lassen.

3. Die Feststellungen werden von der Änderung der rechtlichen Bewertung, die den Schuldspruch wegen Vergewaltigung nicht berührt, nicht betroffen und bleiben aufrechterhalten (§ 353 Abs. 2 StPO).

II.

Soweit das Landgericht den Angeklagten zu einer Schmerzensgeldzahlung verpflichtet hat, liegt ein Verfahrenshindernis vor. Ein vermögensrechtlicher Anspruch kann im Strafverfahren an den Geschädigten einer Straftat ausschließlich nach den Vorschriften über das Adhäsionsverfahren (§§ 403 ff. StPO) zuerkannt werden. Dies setzt gemäß § 404 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 StPO einen formell ordnungsgemäßen Antrag des Verletzten voraus. Ein solcher Antrag wurde - was von Amts wegen zu prüfen ist (st. Rspr.; z.B. BGH, Beschlüsse vom 11. Oktober 2016 - 4 StR 352/16 Rn. 2 und vom 11. Oktober 2007 - 3 StR 426/07 Rn. 2 mwN) - nach dem Hauptverhandlungsprotokoll und den Sachakten weder in noch außerhalb der Hauptverhandlung gestellt, so dass kein Prozessrechtsverhältnis zwischen dem Angeklagten und der Verletzten begründet worden war (vgl. BGH, Beschluss vom 25. September 2019 - 4 StR 383/19 Rn. 3 mwN). Da die Sachurteilsvoraussetzungen nicht vorlagen, war das Landgericht rechtlich gehindert, gegen den Angeklagten ein Anerkenntnisurteil gemäß § 406 Abs. 2 StPO zu erlassen.

Da mangels Antrags ein Adhäsionsverfahren nicht eröffnet ist, kommt insoweit auch eine Zurückverweisung nicht in Betracht.

HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 1198

Externe Fundstellen: NStZ 2022, 39; StV 2022, 232

Bearbeiter: Christoph Henckel